Ich war erschrocken, als ich den Betreff dieser Mail las: „Happy Twitterversary! Du bist soeben 5 geworden.“ Kann das sein? Ich bin 5 Jahre auf Twitter? Warum nur?
Ich habe mir meine Statistik angesehen und bin schockiert: Ich habe 14.100 Tweets geschrieben. Das sind 8 am Tag. Es belegt, dass Twitter keine Laune ist, sondern ein Bestandteil meines Lebens. Okay, ein Tweet pro Tag wird automatisch gesendet als Reklame für meinen täglichen Blog. Mindestens ein Tweet am Tag dient dazu einen eigenen oder fremden Artikel weiterzuempfehlen. Ein weiterer zum weiterplappern eines fremden Tweets. Die anderen 5 schreibe ich offensichtlich selbst. Aber worüber?
Ich twittere über den Tatort, die Lindenstraße und den Eurovision Song Contest. Ich twittere Fotos von Bäumen und Songs die ich mag. Vor allen Dingen aber twittere ich sehr persönliche Dinge. Meist als Witz verpackt, meist anekdotenhaft verallgemeinert, aber trotz allem: Sehr persönlich. Vieles davon banal, wie mein Leiden unter dem Schlagerfaible meines Mannes, das Selbstverständnis meiner Hündin als Flirtinkubator oder die Momente, in denen ich Anlass zu der Befürchtung habe, mein Arbeitgeber versetze die Raumluft mit psychogenen Substanzen.
Aber ich twittere auch manches, das für mich von großer Bedeutung ist. Ich beackere meine legendäre Zahnarztangst, berichte von meinem ersten Besuch beim Urologen, von schmerzhaftem Verrat, vom Zerbrechen einer Freundschaft, von ernster Krankheit, Selbstzweifeln, Sorgen, Sehnsucht. Warum auf Twitter? Auch nach 5 Jahren habe ich das noch nicht ganz verstanden. Hier ist, was ich bisher weiß:
Twitter ist öffentlich. Ich twittere unter Klarnamen. Meine Tweets sind nicht geschützt. Jeder, der will, kann meine Tweets lesen und weitreichende Einblicke in mein Leben erhalten. Obwohl ich durchaus an meiner Privatsphäre hänge, kümmert mich das nicht. Ich will die Wahrheit nicht verklären: Das ist ziemlich dumm.
Oh doch, ich glaube sehr wohl, dass man aus 14.000 Tweets einer Person ziemlich präzise Rückschlüsse auf deren Ängste, Vorlieben und Lebensumstände schließen kann. Wenn man sich die Mühe macht. Nur: Wer sollte sich die Mühe machen? Ist mein Leben interessanter als irgendein anderes? Könnte man mir einen Strick daraus drehen, zu wissen, dass mich 90er-Jahre Eurodance sentimental macht, weil ich meine Pubertät idealisiere? Macht mich das erpressbar? Man könnte in meine Wohnung einbrechen, während ich lustige Urlaubsfotos twittere, das stimmt. Aber was ich wirklich liebe, hat entweder ein Herz in der Brust oder ist auf Datenträgern gespeichert und zwar immer auch außerhalb meiner Wohnung.
Für mich ist Twitter zum Impulsventil geworden. Mir passiert etwas Lustiges – ich twittere. Ich werde beleidigt – ich twittere. Ich rege mich auf, ich staune, ich bin berührt – ich twittere. Nein, ich bin nicht sozial degeneriert oder vereinsamt. Ich erzähle all das wie Generationen vor mir auch beim Abendbrot, beim Feierabendbier, meiner besten Freundin mitten in der Nacht am Telefon oder am nächsten Morgen den Kollegen im Büro. Aber es auf Twitter zu erzählen geht schneller und bringt sofortige Anteilnahme. Das ist ein schönes Gefühl.
Und auch einer der Hauptgründe, warum ich auf Twitter lese. Ich nehme Anteil am Leben anderer. Es ist nicht zu leugnen, dass diese Anteilnahme oberflächlicher ist und schneller vergeht. Dennoch ist sie echt. Twitter ist eben nicht das unmittelbare Leben, das mir oder meinen Freunden passiert, wenn es ihm passt. Twitter passiert nur, wenn es MIR passt. Dann aber bringt es mich so schnell und direkt zu Menschen und Themen, die mich interessieren, wie nichts sonst.
Ich folge ungefähr 350 Accounts auf Twitter, die allermeisten davon betrieben von echten Menschen, also nicht von Zeitungen, Sendungen, Parteien oder Organisationen. Aber natürlich schaffe ich es nicht, das Leben dieser 350 Menschen wirklich zu verfolgen. Und doch wächst zu vielen von ihnen eine angenehme Verbundenheit, die – und das ist besonders – ohne jegliche Verpflichtung auskommt.
Mir folgen ungefähr 500 Personen. Im Vergleich zu anderen Twitterern sind das sehr wenige. Für sich gesehen sind das total viele, finde ich. Nur 10 von diesen Menschen kenne ich persönlich, und von diesen 10 habe ich wiederum 5 erst auf Twitter kennengelernt. 495 Menschen sind also wie und wann auch immer über Tweets von mir gestolpert, die sie interessant genug fanden um mein Konto zu abonnieren. Interessant sein ist wichtig auf Twitter. Und ja, es stimmt: Beim Versuch interessant zu sein, wird man zu einer Art Sender und womit man sich beschäftigt wird zum Programm. Was mir durch den Kopf geht durchläuft eine innere PR-Abteilung die prüft, warum das öffentlichkeitswert sein könnte und wie es sich öffentlichkeitsverständlich formulieren ließe. Es wird geprüft, ob sich eine Pointe unterbringen lässt und wenn ja, ob die Pointe witzig oder wenigstens gut ist. Es wird auch geprüft wieviel ich von mir preisgeben würde, ob es das wert ist und – selbstverständlich – wie es wirken könnte.
Will man argumentieren, dass wir in einer Gesellschaft der selbstverliebten Selbstdarsteller leben – Twitter taugt prima als Beweis. Dabei glaube ich nicht, dass ich aufregendere Dinge erlebe als andere Menschen, diese Dinge witziger rüberbringen kann oder per Geburt relevanter bin und deshalb dringend twittern muss. Darum ginge es mir auch gar nicht. Anhand von Twitter ließe sich nämlich ebenso belegen, dass wir uns hin zu einer Gesellschaft entwickeln, in der sich Menschen regelmäßig öffentlich äußern. In der Menschen verbreiten, was ihnen wichtig ist und gegen das argumentieren, was sie aufregt – und zwar nicht nur im Freundeskreis. Und in der sich Menschen Diskussionen stellen; denn alles, was man twittert, kann Diskussionen auslösen, mitunter auch solche, die man am Ende nicht mehr selber führt. Dazu gehört Mut, Meinung und Attitüde. Das sind ausnahmslos Tugenden.
Twitter funktioniert nur durch Filtern. Um überhaupt Tweets zu sehen, muss man den Accounts anderer Benutzer folgen oder nach bestimmten Begriffen suchen. Was man auf Twitter entdeckt ist immer und ausschließlich ein Produkt der eigenen Interessen. Wie auch immer man sich auf Twitter einrichtet – man hat es hübsch in seiner Filterblase. Daran ist nichts Falsches, finde ich, denn die Nachrichtenquellen unseres Vertrauens existieren ja weiter. Mir persönlich hat das Umherwabern in meiner Filterblase gut getan. Ich habe Gleichgesinnte getroffen, mit denen ich meine Schrulligkeiten vertiefen konnte und Netzwerke gesponnen mit Menschen, die ähnliche Ziele oder Ansichten haben wie ich. Ich habe Freunde gefunden und Gelegenheiten jene, die niemals meine Freunde würden besser zu verstehen. Ich lese viele fabelhafte, erhellende Artikel, auf die ich ohne Twitter niemals stoßen würde. Ich sehe Fotos von ausgesprochen aufregenden Menschen. Naja und ich flirte ein bisschen ab und zu.
Twitter ist der Dienst, auf dem ich die persönlichsten Inhalte teile, obwohl er ein so loses, fragiles Netzwerk spinnt und extrem schnelllebig ist. Oder gerade weil. Für viele Twitterer ist es ein Albtraum, wenn enge Freunde oder gar Familienangehörige anfangen, ihnen zu folgen. Auf Twitter kann man ungestüm sein oder ungerecht oder verdorben. Bestimmt will man auf Twitter auch gefallen, aber vielleicht anderen Leuten. Außerdem ist Twitter gnädig genug, die allermeisten Tweets schneller zu verschlucken, als sie Schaden anrichten können. Ja, ich weiß schon, das Internet vergisst nichts. Aber manchmal verlegt es Dinge, insbesondere Tweets, vorzugsweise unter Hunderten von neuen Tweets so dass erstere kein Schwein mehr interessieren. Es ist die Kurzlebigkeit, die gefühlte Anonymität und Unverbindlichkeit, die es mir leicht macht auf Twitter ehrlich und persönlich zu sein. Das ist ein Segen.
(Und ein Fluch. Nichts kann mich zuverlässiger, länger und weiter von dem Ablenken, was ich eigentlich tun wollte als Twitter. Auf den Geräten, an denen ich arbeiten will, ist Twitter daher konsequent tabu. Außer natürlich, wenn ich gerade über Twitter schreibe. Sollte ich öfter tun.)