Zurzeit wachsen lassen

Ich liege in der Wanne, den Kopf so tief im Wasser, dass meine Nase eine Insel bildet und versuche, Noten von feinstem Zitronen-, Mandarinen-, und Orangenöl zu unterscheiden. Diese Badekugel soll all das bieten; ich rieche nur Vanille. Vordringlicher als die Wahrnehmungen meiner Nase sind aber die meiner Haut: Dass Wasser ist warm und weich und ich bin warm und weich und ich könnte – solange ich mich nicht bewege – nicht sagen, wo das eine aufhört und das andere anfängt; ebensowenig, wie ich zurzeit – solange nicht Wochenende ist – sagen könnte, wann welcher Tag anfängt oder endet, oder warum das wichtig sein könnte.

Ich stehe auf, ich laufe, ich mache Yoga, ich meditiere. Ich arbeite, ich esse, ich arbeite, ich esse. Ich laufe, ich sehe einen Film, ich bin müde, ich schlafe. Dann stehe ich wieder auf.

Variation entsteht durch Heiko, der putzt und saugt und pflegt oder weite Teile des Inhalts seiner Schränke in große blaue Säcke stopft und aus dem Haus schafft. Variation entsteht durch den Paketboten, der unanständig teure Badekugeln oder Lebensmittel oder eine neue Matratze liefert. Variation entsteht, wenn das Telefon klingelt. Viel Variation ist es nicht.

Corona-Krise in der ersten Welt.

Ich fahre mir mit der Hand durch die Haare, ich genieße, was meine Hand und meine Haare und das heiße Wasser mit meiner Haut machen. Ich genieße, wie die Spitzen meiner Haare über die Rillen meiner Fingerkuppen fahren und wie jedes Haar an jeder Rille kurz hängen bleibt, wie ein Plektrum an den Saiten einer Gitarre, nur dass hier nichts schwingt. Hier bleibt alles still, alles dumpf; meine Ohren voller Wasser.

Ich nehme die andere Hand dazu und stelle fest, dass meine Haare inzwischen so lang sind wie zwei Zeigefinger dick. Ich prüfe das an drei unterschiedlichen Stellen, es stimmt. Ich wollte am Samstag vor Corona noch zum Frisör, aber manchmal bin ich zu faul und manchmal kann ich es nicht haben, dass mich fremde Menschen anfassen – obwohl mir mein Friseur so fremd gar nicht mehr ist; neulich trug ein anderer Mann in der Stadt das gleiche Parfum und ich musste mich im Vorbeigehen umdrehen und an meinen Friseur denken. Jetzt denke ich, wie wenig ich damals ahnte, dass dieses neulich jemals eine solche Signifikanz bekommen würde, dass ich darüber schreibe. Jedenfalls war ich an diesem Samstag nicht beim Friseur und ab Montag war es unvorstellbar. Meine Haare waren noch nie so lang, denke ich, und dann muss ich nochmal nachmessen, denn wann immer ich mich im Video sehe, tagsüber, wenn ich mit Kollegen rede, sehe ich eigentlich normal aus, finde ich.

Ich steige aus der Wanne und schaue in den Spiegel. Nichts normal. Mit dem langen Handtuch wische ich alle Haare nach vorn. Ich sehe  aus wie ein gar nicht mal mehr so junger Jüngling aus der Blütezeit Athens. Ich wische alle Haare nach hinten. Ich sehe aus wie ein mäßig berühmter Techno-DJ, der sein Einkommen durch den diskreten Vertrieb illegaler Substanzen aufbessert. Ich rufe Heiko, wir lachen, das ist gut gegen Stille; mir läuft das Wasser aus den Ohren. Für einen Mittelscheitel sind die Haare noch zu kurz. Ich will aber aussehen können, wie ein Klassensprecher Klasse 10, der lieber Boyband-Frontmann geworden wäre.

Ich setze mich auf den Wannenrand und greife mein Telefon. Auf haarausfall.de steht, dass Haare pro Tag 0,3 bis 0,5 mm wachsen. Das macht 2,1 bis 3,5 mm pro Woche. Das macht höchstens anderthalb Zentimeter pro Monat.

Ich lerne Geduld.