Reichsbürger, Corona-Leugner, Kommunisten: Keine Spur von Einheit in Berlin

Ich versuche jedes Jahr um den 3. Oktober durchs Brandenburger Tor zu laufen. Es ist eine Mischung aus Sentimentalität, Weil-ich-kann und ehrlicher Dankbarkeit. Ich bin in Leipzig geboren und war 10 als die DDR ein Teil der BRD wurde. Den Sozialismus in Wirklichkeit erlebt zu haben, habe ich oft als Bereicherung empfunden. Wenn andere nur ihre Ideale als Maßstab heranziehen konnten, um unser Gesundheitssystem oder unsere Regierung zu bewerten, hatte ich einen wenigstens groben Vergleich zu einem anderen, tatsächlich erfahrenen System.

Ebenso dankbar bin ich, dass ich die entscheidenden Weichen in meinem Leben nicht in einem System treffen musste, dessen Grenzen im Denken, Reisen, Träumen entlang des eisernen Vorhangs verliefen und nicht unerheblich vom eigenen Parteibuch und dem deiner Eltern abhängig waren.

Das Leben, das ich heute führe, wäre in diesem System nicht möglich gewesen. Ich pendle zwischen Hamburg und (West)-Berlin und bin abgesehen von einigen noch unerfüllten Reiseträumen wunschlos glücklich. Im globalen Vergleich lebe ich in einem sehr freien, sehr reichen, sehr verlässlichen Land und auch dafür bin ich sehr dankbar.

Mit dem alljährlichen Oktoberspaziergang durch Brandenburger Tor führe ich mir all das vor Augen. Gestern nun anlässlich des 30. Jubiläum der Wiedervereinigung. Es war gruselig.

Ein Bild des Bundestags, mit drei Zäunen geschützt.
Ein Bild des Bundestags, mit drei Zäunen geschützt.

Der Zugang zu den Stufen des Bundestags war mit 3 Zäunen und einem guten Dutzend Polizisten geschützt, im Hintergrund waren ungefähr ebenso viele Kleinbusse der Polizei geparkt – alle voll besetzt. Wir alle haben die Bilder der Corona-Leugner noch im Kopf, die den Bundestag bei einer ihrer letzten Demonstrationen zu stürmen versucht hatten. Ich kann daher also nicht sagen, dass diese Abschottung unnötig sei. Festlich oder wenigstens offen ist sie jedenfalls nicht.

Diskussionsrunde in Einmütigkeit: Aktivisten von Staatenlos.info.
Diskussionsrunde in Einmütigkeit: Aktivisten von Staatenlos.info.

Ein paar Meter weiter auf dem Weg zum Brandenburger Tor dann ein Party-Pavillon, zwei übersteuerte Boxen und eine Gruppe von 70 bis 100 Leuten, die wie ich versucht zu verstehen, was passiert. An einem großen Runden Tisch sitzen 7 Personen. Einer knabbert Nüsschen, einer raucht, eine trinkt Apfelsaft aus einem Plastikbecher, die anderen sitzen einfach dabei, einer hält ein Mikrofon und spricht. Obwohl ich da ein paar Minuten gestanden habe, habe ich Mühe wiederzugeben worüber. Deutschland sei nie entnazifiziert worden, niemals offiziell in einen Zustand des Friedens eingetreten, hätte als Land keine Legitimität, keine demokratisch gewählte Regierung, wäre dafür von völlig gleichgeschalteten Medien dominiert und von Geheimdiensten, Wirtschaftsinteressen und einem deep state unterminiert, den wir alle noch nicht erkannt hätten. Es ist wirr, es ist unbegründet, nirgends zu Ende gedacht und ich halte das nicht lange aus. In den Gesichtern der umherstehenden Polizist:innen versuche ich abzulesen, wie sie das so finden. Aber das sind Profis, ich lese gar nichts.

Corona beenden: Als ließe sich ein Virus wegdemonstrieren.
Corona beenden: Als ließe sich ein Virus wegdemonstrieren.

Als wir uns dem Brandenburger Tor nähern, hören wir schon von weitem einen Redner verkünden, dass alle Parteien im Bundestag – auch die AFD – der Abschaffung unserer Freiheit zugestimmt haben. Das Volk sei damit nicht mehr parlamentarisch repräsentiert, das gesamte Parlament entsprechend eine Farce. Hinter vorgehaltener Hand würden das sogar Mitglieder des Bundestages selbst so formulieren. Die Menge grölt. Wir sind in eine Demo aus Corona-Leugnern geraten. Es sind nicht viele, 200 vielleicht, aber sie schaffen es dennoch so etwas wie Flair – oder einigen wir uns lieber auf Stimmung – zu erzeugen. Eine Art gemeinsames Verständnis. Ich streife ein paar Minuten filmend durch die Masse. Es ist eng, also trage ich meinen Mund-Nasen-Schutz, mit dem ich natürlich auffalle. Aber ich werde in Ruhe gelassen. Ich will auch relativ schnell, relativ dringend meine Ruhe. Ich versuche einzuschätzen, wie weit die Staatenlosen ideologisch von den Corona-Leugnern entfern sind, aber ich komme zu keinem Ergebnis. Wie weit ist von Atlantis bis zum Bernsteinzimmer? Ich gehe weiter.

Auf der anderen Seite des Brandenburger Tores: Reichsbürger.
Auf der anderen Seite des Brandenburger Tores: Reichsbürger.

Auf der anderen Seite des Brandenburger Tores wurde es nicht besser. Aber immerhin weniger. Reichsbürger. Zwei Dutzend, vielleicht drei. Die Dichte an Reichsflaggen war hoch, die Dichte an Fakten in den Ausführungen des Redners eher gering. Was mir zum ersten mal so richtig klar wird: Hier herrscht Sehnsucht nach dem Kaiserreich. Die Staatenlos-Demonstranten wollen einen legitimen Staat, haben über dessen Form aber noch nicht nachgedacht. Die Corona-Leugner wollen gern zurück zu einem demokratischen Staat, in dem wir ihrer Wahrnehmung nach nicht mehr leben. Die Reichsbürger hier hielten nicht viel von Demokratie und wünschen sich allen Ernstes eine Monarchie zurück. Ich muss losprusten an einer Stelle und ernte böse Blicke. Wohl auch, weil ich munter fotografiere.

30 Jahre sind genug: Die FDJ will zurück zum Sozialismus.
30 Jahre sind genug: Die FDJ will zurück zum Sozialismus.

Ich laufe Unter den Linden Richtung Osten. Und ich muss nicht weit laufen, bevor ich die nächsten Lautsprecher plärren höre. Hinter einem Tross Polizeifahrzeugen nähert sich ein olivgrüner IFA W50 – DER LKW der DDR. Aus den auf der Fahrerkabine angebrachten Lautsprechern dröhnt ein russisch klingender Marsch. Dahinter ein Demonstrationszug aus Sozialisten & Kommunisten. Zum ersten Mal nach 30 Jahren sehe ich wieder das Logo der FDJ, der sogenannten Freien Deutsche Jugend. In der DDR war diese Jugendorganisation gar nicht mal so frei, sondern mehr oder weniger eine Pflichtveranstaltung für Jugendliche, in der neben gemeinsamen Freizeitaktivitäten natürlich auch politische Indoktrinierung im Sinne des Systems stattfand. Die sehr jung aussehenden Vertreter der heutigen FDJ finden, 30 Jahre BRD sei genug – wir bräuchten jetzt Revolution und anschließend Sozialismus. Auf einem Transparent lese ich “Euer Staatsbankrott wird unser Sieg sein” und frage mich – und wovon leben wir dann? Am Ende des Zuges tragen Menschen die Fahne der DDR mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz. Ich bin unsicher, wie ernst die das meinen.

Ich kann nicht mehr. Bin ich der Einzige, der unser System grundsätzlich in Ordnung, wenn auch nicht vollkommen gerecht, inklusiv, offen oder ungefährdet ist? Bin ich der Einzige, dem es angst macht, am Nationalfeiertag keine 300 Meter um die Wahrzeichen der Republik laufen können, ohne einer lautstarken Splittergruppe der Gesellschaft mit verqueren Ansichten in die Arme zu laufen? Ich plädiere nicht für Militärparaden oder Chemtrails in Nationalfarben, aber vielleicht irgendetwas? Wo demonstrieren die zufriedenen Demokraten? Wo sind die Stände der etablierten Parteien? Wo spricht Merkel?

Merkel spricht in Potsdam. Aber die zufriedenen Demokraten demonstrieren nicht. Nirgends. Vielleicht sind sie zu zufrieden.

Über dem Shoppen vorangezwungene Pausen

Ich bin stehengeblieben, um zu glotzen, zu staunen und zu fotografieren; anderen war es keinen flüchtigen Blick wert. Vorm Laden von Bershka im Alexa Shopping Center in Berlin steht eine Schlange von circa 40 Personen, die darauf warten, eingelassen zu werden. Ich war noch nie in einem Bershka-Laden, vielleicht sind die besonders. Und bestimmt gäbe es keine Schlange, wenn nicht Pandemie wäre. Aber trotzdem:

Wie muss man als Person 39 und 40 drauf sein? Wie übersteht man die, ich weiß nicht, 15 oder vielleicht 20 Minuten in der Schlange, ohne vom Eindruck der eigenen Beknacktheit überwältigt zu werden und sich elegant aber zügig wieder in den Strom der am Laden Vorbeieilenden einzureihen und zu verschwinden? Wie kann man es schaffen, in dieser dem Shoppen vorangezwungenen Pause nicht innerlich einzukehren und zu sich zu kommen? Zu reflektieren über Sinn oder Unsinn des anstehenden Konsums, wenn nicht gar der eigenen Existenz?

Über dem Shoppen vorangezwungene Pausen weiterlesen

Über parallele Welten am Beispiel von Chemnitz

Was in Chemnitz passiert, beschäftigt mich sehr. Ich habe Familie dort, ich kenne die Stadt ein bisschen und auf eine Art fühle ich mich zuhause da. Man merkt Chemnitz an, dass es lange geschrumpft ist, nach der Wende. Man merkt der Stadt an, dass sie eigentlich für viel mehr Einwohner gebaut ist, vielleicht für doppelt so viele. Aber wenn man genau hinsieht, kann man auch erkennen, dass sich die Stadt bewegt und entwickelt. Häuser werden renoviert und es kommen wirklich wundervolle Viertel zum Vorschein, wie zum Beispiel der Kaßberg. Gewerbe siedelt sich an, Industrie hat sich schon länger angesiedelt, in den letzten Jahren ließ sich sogar ein zarter Zuzug verzeichnen. Wohl auch von Ausländern. Ihr Anteil hat sich im letzten Jahr um ein Prozent erhöht. Von 7 auf 8 Prozent. Kann man das spüren, wenn man in Chemnitz lebt? In der Nähe von Flüchtingsunterkünften bestimmt. Bestimmt an den belebten Punkten in der Innenstadt, wie an der Zentralhaltestelle. Aber kann es sich so dramatisch anfühlen, wie sich Chemnitz gerade dramatisch anfühlt? Eigentlich nicht. Berlin hat 18 Prozent Ausländeranteil. Köln hat 16. Es gibt Probleme da. Aber nicht so ein Drama. Warum? Über parallele Welten am Beispiel von Chemnitz weiterlesen

Warum mir der 3. Oktober als Feiertag wirklich etwas bedeutet

In diesen Zeiten ist es heikel, Begriffe wie “Heimat” oder “Nationalfeiertag” ohne kritische Distanzierung zu gebrauchen. Dafür gibt es gute Gründe. Politische Kräfte, die das Wort “völkisch” wieder positiv besetzen wollen zum Beispiel. Solche die wollen, dass “Deutschland den Deutschen” wieder ohne Scham gesagt werden darf. Oder die mit der Erinnerung an den Holocaust abschließen wollen.

Ich traue mich daher kaum, über das Gefühl zu schreiben, dass mich heute den ganzen Tag beherrscht hat: Dankbarkeit. Ich bin sehr froh über diese deutsche Einheit, auch nach 27 Jahren noch. Für mich ist der 3. Oktober einer der wenigen Feiertage, die mir tatsächlich etwas bedeuten. Mehr als: Heute muss ich nicht ins Büro. Warum mir der 3. Oktober als Feiertag wirklich etwas bedeutet weiterlesen

Fremdenfeindlichkeit: Wir müssen reden. Auch mit Idioten.

Täglich höre ich davon, dass Menschen gegen die Unterbringung von Asylbewerbern auf die Straße gehen. Mir kommt das vor, wie der Ausbruch des Bösen in uns allen in einem mittelmäßigen Stephen-King-Roman: Es macht mir Angst. Es macht mich wütend. Es beschämt mich. Dagegen zu wettern, hilft ein bisschen, weil es zur Selbstvergewisserung beiträgt. Aber es klärt nichts, im Gegenteil, es verschärft die Lage. Ich will verstehen, warum passiert, was passiert, damit ich dazu beitragen kann, dass es aufhört. Denn was vor den Flüchtlingsunterkünften in Meißen, Freital oder Heidenau passiert ist falsch, dessen darf man sich sicher sein.

In den Nachrichten zu sehen, wie Böller über Zäune geworfen werden, hilft mir dabei nicht. In Zeitungen zu lesen, wie viele Demonstranten und Gegendemonstranten es gab, hilft auch nicht. Einschätzungen von Politikern – obwohl sie rar sind – helfen nicht. Was hilft – auch wenn man dabei in Abgründe sehen muss, die einen schwindelig werden lassen – ist das Lesen von Facebook-Kommentaren. Was mir hilft ist das unkommentierte Videomaterial von Euronews und RT. Was mir hilft, sind O-Töne auf YouTube. Dort lerne ich:

Meinungen kann man nicht verbieten. Meinungen muss man bilden. Fremdenfeindlichkeit: Wir müssen reden. Auch mit Idioten. weiterlesen

Bahnstreik: Von wegen Solidarität

Als Betroffener lese ich viele Artikel zum Streik der Lokführer und in den allermeisten wird zur Solidarität aufgerufen. Ich muss leider gestehen, dass ich immer noch nicht begriffen habe, was diese Solidarität sein soll.

Den Streik gut finden? Von mir aus, aber was würde mein bisschen Meinung ändern? Selbst nicht zur Arbeit gehen, bis die Forderungen der Lokführer ohne Abstriche erfüllt sind? Meine Chefin runzelt die Stirn. Oder ist mit Solidarität am Ende nur die Lust gemeint “das System” mal stolpern zu sehen und sich daran zu freuen, dass “der kleine Mann” doch noch etwas Macht hat? Ich finde das ehrlich albern. Ich finde das auch ein bisschen dumm. Bahnstreik: Von wegen Solidarität weiterlesen

Welt-Down-Syndrom-Tag: Von wegen ganz, ganz tolle Menschen

Wie ich bei meiner morgendlichen Presseschau gelernt habe, ist heute Welt-Down-Syndrom-Tag. Ich gestehe, noch nicht ganz begriffen zu haben, wozu genau diese Welt-Haste-Nich-Gesehen-Tage gut sein könnten, wenn nicht dazu, einen Tag (einen Tweet, einen Like, einen Augenblick) lang sehr betroffen oder wütend zu sein und sich nach dieser sehr befriedigenden Gefühlsregung wieder seinem Alltag zuzuwenden. Aufmerksamkeit ist gut und wichtig. Aber Aufmerksamkeit allein ändert gar nichts.

Anlässlich des Welt-Down-Syndrom-Tages sind kämpferische Plädoyers für die Inklusion betroffener Kinder in “normale” Schulklassen zu lesen, aber auch solche für die Separierung in Förderschulklassen. In Tweets ist von “wunderbaren Downies” die Rede, und von “ganz, ganz tollen Menschen”. Facebook gefällt das. Mir jagt das Schauer über den Rücken.
Welt-Down-Syndrom-Tag: Von wegen ganz, ganz tolle Menschen weiterlesen

Weshalb die Verbrechen um Charlie Hebdo sehr wohl mit dem Islam zu tun haben

Die Verbrechen um Charlie Hebdo haben mit dem Islam nichts zu tun. Imame sagen das, Thomas de Maizière sagt das, sogar Francois Hollande sagt das. Trotzdem ist das leider Unsinn.

Doch, ich kenne den Unterschied zwischen Islam und Islamismus; zwischen Religion, Fundamentalismus und Fanatismus. Ich habe im Koran gelesen wie in der Bibel und ich könnte nicht sagen, welches der beiden Bücher brutaler oder radikaler ist; von Liebe handelt meinem Leseverständnis zufolge jedenfalls keines von beiden. Ich weiß auch, dass es “den Islam” nicht gibt, weil sich Muslime viel dezentraler organisieren als beispielsweise Katholiken. Und mir ist ebenso klar, dass die überwältigende Mehrheit der Muslime in Frieden leben will.

Fakt ist aber, dass sich die Attentäter von Paris ebenso wie andere vor ihnen, ebenso wie die Monster des IS auf der anderen Seite der Welt, auf genau diesen Islam und die ihm zu Grunde liegende Schrift berufen. “Allah ist groß” wurde gerufen, nach dem die Journalisten James Foley und Steven Sotloff vor laufender Kamera enthauptet wurden. “Allah ist groß” schallte es auch am Mittwoch durch die Straßen von Paris, nach dem Mörder die Redakteure von Charlie Hebdo und anschließend einen am Boden liegenden Polizisten durch Schüsse in den Kopf getötet hatten. Weshalb die Verbrechen um Charlie Hebdo sehr wohl mit dem Islam zu tun haben weiterlesen

Social Schwadroneezing

Apple, Facebook und andere amerikanische IT-Konzerne bieten Teilen ihrer weiblichen Belegschaft an, sich an den Kosten für die Entnahme und das Einfrieren von Eizellen zu beteiligen bzw. diese ganz zu übernehmen. Frauen, die sich dafür entscheiden, können sich in den nächsten Jahren ganz auf ihrer Karriere konzentrieren und haben auf der vielfach strapazierten biologischen Uhr gleichsam den Schlummerknopf gedrückt.

Ob man das moralisch richtig oder moralisch falsch oder überhaupt irgendwie moralisch finden muss, wurde in den letzten Wochen in allen Stimmlagen diskutiert, in der populistischsten aller denkbaren gestern Abend bei Günther Jauch. Ich möchte mich eigentlich nur kurz über den Begriff ärgern: Social Freezing. Social Schwadroneezing weiterlesen

Ice Bucket Challenge: Warum ich weder kreische noch spende

Ich sehe es ein, es war eine naive Hoffnung, dass ich von einer Nominierung zur Ice Bucket Challenge verschont bleiben könnte. Statt jedoch ein Video zu produzieren, in dem ich mir krietschend einen Eimer Eiswasser über den Schädel kippe, schreibe ich diesen Text. Ich bin ein Spielverderber.

Ich möchte geradeheraus schreiben dürfen, dass ich die Ice Bucket Challenge kacke finde. Ich will schreiben dürfen, dass ich sie für die perfideste Kreuzung des nicht tot zu kriegenden esoterischen Prinzips Kettenbrief mit allem halte, was man an sozialen Netzwerken hassen kann. Als da wären Selbstdarstellerei, Möchtegern-Coolness und die Dämlichkeit des Schwarms, der in seiner Verzweiflung keine Chance auslassen darf, ein Fitzelchen Aufregung in sein langweiliges Leben zu bringen. Allerdings geht es bei der Ice Bucket Challenge um einen guten Zweck. Und deshalb darf man das natürlich nicht schreiben. Man darf das nicht einmal denken. Schließlich hilft die Challenge den Patienten die an ALS erkrankt sind, ihren Familien und denjenigen, die nach einer Heilung für die Krankheit suchen. Welche Krankheit?

Wofür steht ALS eigentlich? Okay, ist ja egal, aber: Was ist ALS? Also: Was richtet die Krankheit im Körper an? Wie viele erkranken daran? Was hat die Forschung in den letzten, sagen wir mal, 30 Jahren zu einer Heilung beitragen können? Wieviel Geld hat die Challenge inzwischen zusammengetrommelt? Steht die Forschung vor einem Durchbruch? Keine Ahnung.

Und darum geht es auch irgendwie nicht mehr. Von den jeweils 10 Ice-Bucket-Videos, die ich mir auf YouTube und Facebook heute reingezogen habe, ist in genau zweien davon die Rede, an welche Organisation überhaupt gespendet wurde. In sieben von 20 Videos wird der gute Zweck immerhin erwähnt, in vieren davon allerdings tatsächlich nur als „guter Zweck“. Die restlichen 13 beinhalten auf der Tonspur nur ein mir obskur gebliebenes „Danke für die Nominierung“, danach fürchterliches Gegacker und zum Abschluss drei Namen. Um ALS geht es da kein bisschen. Es geht nicht darum, ein Bewusstsein für irgendwas zu schaffen, Mitgefühl auszudrücken oder andere dafür zu motivieren, Gutes zu tun. Es geht ums Crazysein. Und weil das Crazysein in einen feinen guten Zweck gewickelt ist, darf man nicht darauf spucken. Deshalb erlauben sich auch Promis (Fischers Helene, Pochers Olli und Özdemirs Cem, um nur ein paar der hiesigen Sternchen zu benennen) crazy zu sein. Ich spucke trotzdem darauf. Den einen geht es ums Image und den anderen irgendwie auch, wenn auch auf einer anderen Ebene.

Ich werde nicht für die ALS-Association spenden, weil die unterschiedlichen Quellen zufolge inzwischen mehr als 100 Millionen Dollar mit der Kampagne eingenommen hat und ich finde, dass man in der Erforschung einer einzelnen Krankheit mit diesem Betrag einige Jahre hinkommen sollte. Ich spende jeden Monat einen festen Prozentsatz meines Gehalts. Ich habe mir gut überlegt, wofür ich spende. Ich spende, weil ich es ungerecht finde, dass ich so reich bin, wie andere niemals werden könnten. Und ich spende weil ich dazu beitragen möchte das Verhältnis dieser Gesellschaft gegenüber Tieren zu verändern. Ich tue dies nicht für den Applaus sondern zur Beruhigung meines Gewissens. Und weil es funktioniert, werde ich es weiterhin so handhaben.