Fremde Hündin, ferne Hündin

Mit jeder weiteren Person, die ich in der Schlange vor dem Bäcker entdecke als ich um die Ecke biege, blase ich die Backen ein bisschen weiter auf; dann fällt die Genervtheit zu einem Lächeln zusammen. Ganz am Ende der um zwei Meter pro Person zu langen Schlange sitzt ein Hund. Es ist dieser rotschwarzweiße mit den spitzen Ohren und den eleganten, schmalen Pfötchen. Ich bin ihm gestern schon begegnet auf meiner Morgenrunde, aber er durfte nicht zu mir. Jetzt ist er dort am Fahrradständer angebunden, wo ich stehen muss; wo ich selbst dann stehen müsste, wenn ich mich über die Nähe nicht freuen würde. Er freut sich auch. Er wedelt mit seinem buschigen Schwanz als ich ihn anlache; steckt mir den Kopf zwischen die Knie, als ich mich zu ihm hocke; streckt sich, als ich ihm den Hals kratze; legt sich auf den Rücken, damit ich ihr die Brust graulen kann.

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Lese-Empfehlung: Tschick

@borednoww fragt nach meinem aktuellen Lieblingsbuch und gibt mir damit endlich einen Grund, doch noch eine persönliche Empfehlung für einen Roman auszusprechen, der bei seinem Erscheinen vor zwei Jahren schon überall empfohlen wurde: Wolfgang Herrndorfs “Tschick”.

Das Setting ist auf den ersten Blick wenig ansprechend für Menschen jenseits der Pubertät: Zwei Achtklässler knacken in den Sommerferien ein Auto und kurven damit orientierungslos durch Brandenburg. Dabei erleben sie allerlei Abenteuer, treffen auf schrulligste Figuren, werden dicke Freunde usw. usf.  Lese-Empfehlung: Tschick weiterlesen

Twitter & ich sind 5 Jahre zusammen. Eine Liebeserklärung.

Ich war erschrocken, als ich den Betreff dieser Mail las: „Happy Twitterversary! Du bist soeben 5 geworden.“ Kann das sein? Ich bin 5 Jahre auf Twitter? Warum nur?

Ich habe mir meine Statistik angesehen und bin schockiert: Ich habe 14.100 Tweets geschrieben. Das sind 8 am Tag. Es belegt, dass Twitter keine Laune ist, sondern ein Bestandteil meines Lebens. Okay, ein Tweet pro Tag wird automatisch gesendet als Reklame für meinen täglichen Blog. Mindestens ein Tweet am Tag dient dazu einen eigenen oder fremden Artikel weiterzuempfehlen. Ein weiterer zum weiterplappern eines fremden Tweets. Die anderen 5 schreibe ich offensichtlich selbst. Aber worüber?

Ich twittere über den Tatort, die Lindenstraße und den Eurovision Song Contest. Ich twittere Fotos von Bäumen und Songs die ich mag. Vor allen Dingen aber twittere ich sehr persönliche Dinge. Meist als Witz verpackt, meist anekdotenhaft verallgemeinert, aber trotz allem: Sehr persönlich. Vieles davon banal, wie mein Leiden unter dem Schlagerfaible meines Mannes, das Selbstverständnis meiner Hündin als Flirtinkubator oder die Momente, in denen ich Anlass zu der Befürchtung habe, mein Arbeitgeber versetze die Raumluft mit psychogenen Substanzen.

Aber ich twittere auch manches, das für mich von großer Bedeutung ist. Ich beackere meine legendäre Zahnarztangst, berichte von meinem ersten Besuch beim Urologen, von schmerzhaftem Verrat, vom Zerbrechen einer Freundschaft, von ernster Krankheit, Selbstzweifeln, Sorgen, Sehnsucht. Warum auf Twitter? Auch nach 5 Jahren habe ich das noch nicht ganz verstanden. Hier ist, was ich bisher weiß:

Twitter ist öffentlich. Ich twittere unter Klarnamen. Meine Tweets sind nicht geschützt. Jeder, der will, kann meine Tweets lesen und weitreichende Einblicke in mein Leben erhalten. Obwohl ich durchaus an meiner Privatsphäre hänge, kümmert mich das nicht. Ich will die Wahrheit nicht verklären: Das ist ziemlich dumm.

Oh doch, ich glaube sehr wohl, dass man aus 14.000 Tweets einer Person ziemlich präzise Rückschlüsse auf deren Ängste, Vorlieben und Lebensumstände schließen kann. Wenn man sich die Mühe macht. Nur: Wer sollte sich die Mühe machen? Ist mein Leben interessanter als irgendein anderes? Könnte man mir einen Strick daraus drehen, zu wissen, dass mich 90er-Jahre Eurodance sentimental macht, weil ich meine Pubertät idealisiere? Macht mich das erpressbar? Man könnte in meine Wohnung einbrechen, während ich lustige Urlaubsfotos twittere, das stimmt. Aber was ich wirklich liebe, hat entweder ein Herz in der Brust oder ist auf Datenträgern gespeichert und zwar immer auch außerhalb meiner Wohnung.

Für mich ist Twitter zum Impulsventil geworden. Mir passiert etwas Lustiges – ich twittere. Ich werde beleidigt – ich twittere. Ich rege mich auf, ich staune, ich bin berührt – ich twittere. Nein, ich bin nicht sozial degeneriert oder vereinsamt. Ich erzähle all das wie Generationen vor mir auch beim Abendbrot, beim Feierabendbier, meiner besten Freundin mitten in der Nacht am Telefon oder am nächsten Morgen den Kollegen im Büro. Aber es auf Twitter zu erzählen geht schneller und bringt sofortige Anteilnahme. Das ist ein schönes Gefühl.

Und auch einer der Hauptgründe, warum ich auf Twitter lese. Ich nehme Anteil am Leben anderer. Es ist nicht zu leugnen, dass diese Anteilnahme oberflächlicher ist und schneller vergeht. Dennoch ist sie echt. Twitter ist eben nicht das unmittelbare Leben, das mir oder meinen Freunden passiert, wenn es ihm passt. Twitter passiert nur, wenn es MIR passt. Dann aber bringt es mich so schnell und direkt zu Menschen und Themen, die mich interessieren, wie nichts sonst.

Ich folge ungefähr 350 Accounts auf Twitter, die allermeisten davon betrieben von echten Menschen, also nicht von Zeitungen, Sendungen, Parteien oder Organisationen. Aber natürlich schaffe ich es nicht, das Leben dieser 350 Menschen wirklich zu verfolgen. Und doch wächst zu vielen von ihnen eine angenehme Verbundenheit, die – und das ist besonders – ohne jegliche Verpflichtung auskommt.

Mir folgen ungefähr 500 Personen. Im Vergleich zu anderen Twitterern sind das sehr wenige. Für sich gesehen sind das total viele, finde ich. Nur 10 von diesen Menschen kenne ich persönlich, und von diesen 10 habe ich wiederum 5 erst auf Twitter kennengelernt. 495 Menschen sind also wie und wann auch immer über Tweets von mir gestolpert, die sie interessant genug fanden um mein Konto zu abonnieren. Interessant sein ist wichtig auf Twitter. Und ja, es stimmt: Beim Versuch interessant zu sein, wird man zu einer Art Sender und womit man sich beschäftigt wird zum Programm. Was mir durch den Kopf geht durchläuft eine innere PR-Abteilung die prüft, warum das öffentlichkeitswert sein könnte und wie es sich öffentlichkeitsverständlich formulieren ließe. Es wird geprüft, ob sich eine Pointe unterbringen lässt und wenn ja, ob die Pointe witzig oder wenigstens gut ist. Es wird auch geprüft wieviel ich von mir preisgeben würde, ob es das wert ist und – selbstverständlich – wie es wirken könnte.

Will man argumentieren, dass wir in einer Gesellschaft der selbstverliebten Selbstdarsteller leben – Twitter taugt prima als Beweis. Dabei glaube ich nicht, dass ich aufregendere Dinge erlebe als andere Menschen, diese Dinge witziger rüberbringen kann oder per Geburt relevanter bin und deshalb dringend twittern muss. Darum ginge es mir auch gar nicht. Anhand von Twitter ließe sich nämlich ebenso belegen, dass wir uns hin zu einer Gesellschaft entwickeln, in der sich Menschen regelmäßig öffentlich äußern. In der Menschen verbreiten, was ihnen wichtig ist und gegen das argumentieren, was sie aufregt – und zwar nicht nur im Freundeskreis. Und in der sich Menschen Diskussionen stellen; denn alles, was man twittert, kann Diskussionen auslösen, mitunter auch solche, die man am Ende nicht mehr selber führt. Dazu gehört Mut, Meinung und Attitüde. Das sind ausnahmslos Tugenden.

Twitter funktioniert nur durch Filtern. Um überhaupt Tweets zu sehen, muss man den Accounts anderer Benutzer folgen oder nach bestimmten Begriffen suchen. Was man auf Twitter entdeckt ist immer und ausschließlich ein Produkt der eigenen Interessen. Wie auch immer man sich auf Twitter einrichtet – man hat es hübsch in seiner Filterblase. Daran ist nichts Falsches, finde ich, denn die Nachrichtenquellen unseres Vertrauens existieren ja weiter. Mir persönlich hat das Umherwabern in meiner Filterblase gut getan. Ich habe Gleichgesinnte getroffen, mit denen ich meine Schrulligkeiten vertiefen konnte und Netzwerke gesponnen mit Menschen, die ähnliche Ziele oder Ansichten haben wie ich. Ich habe Freunde gefunden und Gelegenheiten jene, die niemals meine Freunde würden besser zu verstehen. Ich lese viele fabelhafte, erhellende Artikel, auf die ich ohne Twitter niemals stoßen würde. Ich sehe Fotos von ausgesprochen aufregenden Menschen. Naja und ich flirte ein bisschen ab und zu.

Twitter ist der Dienst, auf dem ich die persönlichsten Inhalte teile, obwohl er ein so loses, fragiles Netzwerk spinnt und extrem schnelllebig ist. Oder gerade weil. Für viele Twitterer ist es ein Albtraum, wenn enge Freunde oder gar Familienangehörige anfangen, ihnen zu folgen. Auf Twitter kann man ungestüm sein oder ungerecht oder verdorben. Bestimmt will man auf Twitter auch gefallen, aber vielleicht anderen Leuten. Außerdem ist Twitter gnädig genug, die allermeisten Tweets schneller zu verschlucken, als sie Schaden anrichten können. Ja, ich weiß schon, das Internet vergisst nichts. Aber manchmal verlegt es Dinge, insbesondere Tweets, vorzugsweise unter Hunderten von neuen Tweets so dass erstere kein Schwein mehr interessieren. Es ist die Kurzlebigkeit, die gefühlte Anonymität und Unverbindlichkeit, die es mir leicht macht auf Twitter ehrlich und persönlich zu sein. Das ist ein Segen.

(Und ein Fluch. Nichts kann mich zuverlässiger, länger und weiter von dem Ablenken, was ich eigentlich tun wollte als Twitter. Auf den Geräten, an denen ich arbeiten will, ist Twitter daher konsequent tabu. Außer natürlich, wenn ich gerade über Twitter schreibe. Sollte ich öfter tun.)

Gehabt, nun gut: 31 Dinge später

Vor genau einem Monat begann ich, jeden Tag einen Gegenstand wegzugeben. Hier ist die Anmoderation dazu, und hier der Beweis, dass ich das wirklich tue. Ich fand und finde, dass ich zu viel besitze. Und zwar nicht nur mehr als ich brauche, sondern auch mehr als mir gut tut. Ich fand und finde, dass Besitz nicht nur meine Räume verstopft, sondern auch meine Seele. Es ist komisch, das Wort Seele in diesen Blog zu schreiben. Gehabt, nun gut: 31 Dinge später weiterlesen

Wer in meiner schwulen Beziehung die Frau ist.

Als ich gestern Abend von der Runde mit meiner Hündin nach Hause kam, begrüßte mich meine Nachbarin im Hausflur und verwickelte mich in ein Gespräch. Meine Nachbarin ist 74, ein bisschen rau, ein bisschen laut, sehr herzensgut. Manchmal passt sie ein Stündchen auf meinen Hund auf, manchmal helfe ich ihr mit ihrem Fernseher. Oft nimmt sie meine Pakete an.

Als unser Geplänkel beendet war und ich schon einen Treppenabsatz genommen hatte, rief sie: “Ach, und-“.
Ich drehte mich um.
“Was ich schon lange mal fragen wollte: Wer ist eigentlich bei euch die Frau?”
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Warum verhindern Sie das Ehegattensplitting für die Homo-Ehe, Herr Dr. Schäuble?

Ich sehe ja ein, dass die eingetragene Lebenspartnerschaft eine prima Sache für unser Land ist. Die Homos kriegen ein bisschen Romantik und was offizielles in die Hand und sind fürderhin gegenüber Hasimausi oder Schnuffelbärli voll unterhaltspflichtig inklusive Versorgungsansprüchen die über eine Entpartnertung (volksmündlich hier auch gern Scheidung genannt) hinaus reichen. Die Sozialsysteme werden entlastet (auch weil Witwen- und Betriebsrenten erst langwierig gerichtlich erkämpft werden mussten) und es kommen ordentlich Steuern, weil das Ehegattensplitting für die Homo-Ehe einfach nicht gilt.

Noch nicht. Geht es nach dem Willen von Wolfgang Schäuble bleibt das auch so. Es wird aber nicht nach seinem Willen gehen. Jedenfalls nicht mehr lange. Heute schrieb ihm folgenden Brief:
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Andenken aus Stein

Ich habe heute mit meiner Schwester telefoniert. Es ging um den Totensonntag gestern. Nicht, dass wir nur ein einziges Wort davon gesprochen hätten. Aber mir war klar, dass sie am Grab unserer Mutter gewesen sein musste. Und ihr war klar, dass ich das Grab ein weiteres Mal nicht besucht hatte.

Wir hatten schon oft über diesen Ort gesprochen. So oft vielleicht, dass kein Wort übrig geblieben war, dass ich heute dazu hätte sagen können. Und wären da noch welche, hätte ich mir verboten, sie zu sagen. Ich will mich nicht mehr rechtfertigen. Meine Schwester mag mich sehr und will keinen Streit vom Zaun brechen. Aber sie hasst es, dass es überhaupt einen Zaun gibt zwischen uns. Wir kommen nicht zueinander.

Meine Schwester findet es wichtig, dass Andenken an unsere Mutter zu bewahren. Ich auch. Unsere Mutter war eine stolze, starke Frau. Meine Schwester glaubt, ein gepflegtes, geschmücktes Grab sei Ausdruck dieses Andenkens. Ich nicht. Ich glaube, ein gepflegtes, geschmücktes Grab ist Ausdruck von Verzweiflung. Besonders das meiner Mutter. Meine Mutter ist nicht an dort. Sie war noch nie da. Sie kannte diesen Ort nicht.

Wir haben den Ort ausgesucht, nahe am Wasser unter dem riesigen Rhododendron. Wir haben auch den Stein ausgesucht, sogar die Gravur, sogar die Worte der Gravur. Jetzt steht dieser Stein da – bald 10 Jahre – und bezeugt: Was eigentlich?

Dass es meine Mutter gegeben hat? Dass es mich gibt, der heute noch an sie denkt? Dass sie ein Denkmal wert war? Ich verstehe diesen Stein nicht. Ich bin für seine Existenz verantwortlich aber ich habe mich geirrt. Ich kann ihn nicht leiden. Weil er so tut, als könne er die Zeit anhalten. Weil er sich so ewigkeitsschwanger aufbläst und weil er behauptet, er – kalt und zentnerschwer – bewahre das Andenken meiner Mutter.

Meine Schwester sagt, dass sei ein wichtiger Ort für sie und ich respektiere das. Mehr noch: Ich freue mich darüber, dass sie ihn pflegt. Ich bin ihr dankbar.

Aber ich fühle mich schuldig, weil es diesen Ort gibt. Wenn ich nicht da bin, weil ich weiß, dass es Menschen gibt, die finden, dass ich da sein sollte. Weil man das macht, weil man da hingeht, wenigstens ab und an. Und wenn ich dort bin dafür, dass ich dann so nichts, so gar nichts empfinden kann.

Ich kann nicht einsehen, was Koniferen und Efeu jemals mit meiner Mutter zu tun haben sollen.

Familenhilfe mit Herz!

Da braucht es schon die dicke Susan von “Familienhilfe mit Herz”, damit ich an Tagen wie diesem mal kurz aus dem Unterschichtenfernsehen-Vollrausch aufhorche und betrübt feststelle, dass sich mein Leben gar nicht so sehr von dem der hier am Nachmittag freiwillig öffentlich Bloßgestellten unterscheidet, auf deren Leben ich für gewöhnlich angewidert amüsiert herabschaue: Ein junger Mann sucht verzweifelt den Kontakt zu seiner leiblichen Mutter, die ihn im dritten Lebensjahr wegen akuter Überforderung im Rosenkrieg mit seinem Vater bei eben diesem zurückließ. Wenn ich die Mutter durch einen Vater ersetze bin ich schneller als mir lieb ist mitten in meinem Leben.

Der Sprecher aus dem Off weist nicht umsonst wenigstens dreimal pro Sendung darauf hin, dass Susan eine ausgebildete Diplom-Psychologin (sic! – Soweit ich weiß, sind alle Diplom-Psychologinnen ausgebildet, da man diesen Titel weder erben noch kaufen kann. Aber das ist Haarspalterei.) ist, die hier Handwerk versteht und deshalb alle Protagonisten völlig mühelos durch ein mit gelben Moderationskarten gepflastertes tiefes Tal der Tränen zum Happy-End – der Familienzusammenführung nämlich – führt.

Ich habe es ohne Susann probiert und bin irgendwo im Tal der Tränen offenbar falsch abgebogen. In Richtung Resignation und Zynismus nämlich. Ich finde es zwar merkwürdig aber erträglich wo ich jetzt bin. Meine Freunde behaupten jedoch, ich hätte mein Zelt in einer kalten, unwirtlichen Mondlandschaft aufgeschlagen und müsse dringend umsiedeln. Aber wohin?

Nicht nur, dass mein Vater lebt. Er tut es sogar in der gleichen Stadt wie ich. Ich habe seine Adresse und ich habe sie schon benutzt. Unglaublich: Wir haben uns getroffen. Entgegen dem jungen Mann im Fernsehen war ich bei diesem Treffen aber nicht von beinahe romantischer
Sehnsucht und kindlichem Hoffen erfüllt sondern von distanzierter Neugierde und tollpatschiger Verlegenheit. Und mein Vater – wenn ich mir eine weitere anmaßende Äußerung erlauben darf – war von Nichts und Niemandem erfüllt, und zwar – soweit ich das überblicke – noch nie in
seinem Leben.

Dementsprechend verlief der Nachmittag dann auch. Ich schwärmteschillernd von meinen Träumen, unter denen ich vorher verbal eintragfähiges Netz aus Vernunft und Realismus gespannt hatte, nur für denFall, dass mein Vater versuchen würde, sie zu stürzen. Er schimpfte
schallend über alle Missstände, die ihm einfielen, und zwar auch überdie, die nur in den Schlagzeilen der Bild-Zeitung, aber ganz und garnicht in seinem Leben existierten. Wer mit zwei Wagen in der Einfahrt im Eigenheim sitzt, sollte nicht die Sozialismuskeule schwingen. Meine
Meinung. Das Einzige, was mir an diesem Mann bewundernswert schien, war die Ausdauer und Wortgewalt, mit der er sich beklagte. Letztere war auch deshalb so beeindruckend, weil sie offenbar nicht die geringste Leidenschaft benötigte, sondern sich lediglich aus der Gewohnheit
speiste. Die Augen dieses Mannes blieben stumpf. Und würde sein Mund meinem nicht so ähnlich sehen, hätte ich gar keinen Grund gefunden, ihm ins Gesicht zu schauen. Wahrscheinlich war das Treffen für uns beide so unangenehm, dass wir uns nicht für ein zweites engagierten.

In den vergangenen zwei Jahren habe ich meinem Vater neun Briefe und eine Postkarte geschrieben. Die Postkarte war ein Reisegruß ausFrankreich, mit Informationen über Wetter, Unterkunft und Verköstigung. Vier Briefe betrafen Behörden, Formulare oder Unterlagen. Fünf Briefe allerdings betrafen – Achtung: Es sträubt sich alles! – uns. Sie hatten alle den gleichen Wortlaut und wurden mal per e-Mail, mal per Fax und einige Male selbstverständlich auch per Briefpost zugestellt. In diesen Briefen fragte ich, wie sich den mein Vater unser weiteres Verhältnis vorstelle, weil ich ratlos sei. Ob ihm dieses Postkarten- und Behördenpost-Beisammensein ausreiche, weil ich es komisch finde. Ich öffnete und entblößte mich, um das, was von meiner Seite aus zwischen uns stand auszuräumen, und bat ihn, es mir gleich zu tun. Ich bekundete unverholen, dass mich der momentane Zustand sehr irritiere, und ich auch
nicht wisse, wo es eigentlich hingehen soll. Mein Vater schwieg und schweigt bis heute.

Mich beruhigt, dass ich es versucht habe. Und dass ich alt genug bin um nicht nur zu ahnen, sondern wirklich zu wissen, dass man a.) verlorene Zeit nicht nachholen kann, und dass man b.) keinen Vater mehr gewinnen wird, wenn man straff auf die 30 zu geht. Was mich allerdings beunruhigt ist der Fakt, dass ich meinem Vater theoretisch morgen im Döner-Laden treffen könnte, ohne zu wissen, wie ich diese Situation nach dem “Hallo” retten könnte. Wir hatten und haben nichts zu teilen, nichts nachzuholen und leider nicht mal etwas zu besprechen.

Jetzt erklärt sich, warum die Bewerberhotline von Susann kostenlos ist und man sogar etwas gewinnen kann: Die meisten Tragödien sind deshalb so tragisch, weil die romantische Sehnsucht und das kindliche Hoffen längst im Netz von Vernunft und Realismus zu Fall gekommen sind. Pathos hin oder her: Gute Nacht!

Where you end and I begin 2

Ich fühlte mich unwohl. Kurz vor der Eröffnung wurde mir klar, dass mir (und uns) jemand oder etwas das Zepter aus der Hand genommen hatte.

Der Ausstellungsraum war leer und klar. Eine Videoprojektion. Eine Bilderreihe. Ein mit Teichfolie abgedunkeltes Schaufenster. Weiße Wände. Ich lief Runden durch die Galerie und suchte nach einem Fetzen von der Schrulligkeit die Manu und ich so schätzten. Ich suchte nach einem Schnipsel Gemütlichkeit, einem Fleck Wärme. Da war nichts.

Mein Blick wanderte durch die Galerie und ließ mich schaudern vor dem Eindruck, dass wir offenbar nicht so schrullig, gemütlich und warm waren, wie wir zu sein glaubten. Das hier war eine ernste, durch Neonlicht zusätzlich abgekühlte Ausstellung, deren Heftigkeit darin lag, dass ihre Arbeiten ohne ästhetische Umwege, ohne gedankliche Weitläufigkeiten, ohne Rücksicht trafen.

In diesem Moment kurz vor der Eröffnung war die Anwesenheit einer Dritten Person – Gott? Kunst? Dem Universum? – greifbar, und das gruselte mich, weil Manu und ich diejenigen sein würden, die für das Werk auch dieser dritten Kraft stehen würden. Es ging mir nicht um Verantwortung in dieser Sekunde. Nicht in erster Linie. Es ging mir um den Zweifel an meiner eigenen Autorenschaft. Oft schon habe ich Künstler sagen hören, dass sie sich als Kanal fühlten für jemanden oder etwas der sich über sie ausdrücke. Auch ich kenne dieses Gefühl schon. In dieser Intensität aber, in einem solchen Erschaudern, einer solchen Überforderung mündend war es mir völlig neu und eindeutig zu heftig.

Es wurde von einigen Besuchern als zynisch empfunden an diesem Abend Sekt auszuschenken und es schien beinahe albern, dass ich mir im Vorfeld Gedanken darüber gemacht hatte wie ich die Beschallung des fröhlichen Teils des Abends organisieren könnte. In dieser Sekunde war klar, dass heute niemand tanzen würde.

Viermal an diesem Abend musste ich die Galerie verlassen, weil ich mich dem, was darin statt fand nicht gewachsen fühlte. Streckenweise erhielt das Video eine Intimität, der ich nicht standhielt. Streckenweise glaubte ich in der Reaktion der Betrachter so viel über sie lesen zu können, dass meine bloße Anwesenheit voyeuristisch wurde. Sicher, ein ungefähres Dutzend Besucher betraten und verließen die Galerie binnen zwei Minuten. Viele andere jedoch blieben und sahen sich den Film an, nicht wenige sogar mehrmals. Eine Besucherin weinte.

Dennoch: Ich kann mich an keinen Moment in meiner künstlerischen Auseinandersetzung erinnern in dem ich so tief begriff, was Kunst leisten konnte. Für mich war dieser Abend ein Endgegner. Das hier ist ein neues Level.