Mit jeder weiteren Person, die ich in der Schlange vor dem Bäcker entdecke als ich um die Ecke biege, blase ich die Backen ein bisschen weiter auf; dann fällt die Genervtheit zu einem Lächeln zusammen. Ganz am Ende der um zwei Meter pro Person zu langen Schlange sitzt ein Hund. Es ist dieser rotschwarzweiße mit den spitzen Ohren und den eleganten, schmalen Pfötchen. Ich bin ihm gestern schon begegnet auf meiner Morgenrunde, aber er durfte nicht zu mir. Jetzt ist er dort am Fahrradständer angebunden, wo ich stehen muss; wo ich selbst dann stehen müsste, wenn ich mich über die Nähe nicht freuen würde. Er freut sich auch. Er wedelt mit seinem buschigen Schwanz als ich ihn anlache; steckt mir den Kopf zwischen die Knie, als ich mich zu ihm hocke; streckt sich, als ich ihm den Hals kratze; legt sich auf den Rücken, damit ich ihr die Brust graulen kann.
Fremde Hündin, ferne Hündin weiterlesenSchlagwort: Tod
Warum die Entscheidung für einen Organspende-Ausweis immer religiös ist
Letzten Freitag – vor mir kniete ein kräftiger Mann auf dem Boden und versuchte mit klappernden Stößen eine Puppe wieder zu beleben, neben mir bettelte ein Kollege um meine Unterstützung bei einem Handy-Quizduell – tätigte ich schwungvoll eine Unterschrift, vor der ich mich jahrelang gedrückt hatte. Die unter meinem Organspende-Ausweis.
Ich bin erleichtert, dass das zermürbende Hin & Her in mir ein Ende hat. Warum die Entscheidung für einen Organspende-Ausweis immer religiös ist weiterlesen
Tot sein auf Facebook
Trauer ist eine sehr persönliche Angelegenheit.
Ich habe diese Binsenweisheit nun einige Minuten angestarrt. Vorher noch etwas länger ein Foto in meinen Facebook-Neuigkeiten. Nebenbei habe ich darüber nachgedacht, ob Pietät mit Würde zu tun hat, mit Höflichkeit oder mit gesellschaftlichen Gepflogenheiten. Ich bin unsicher.
Für den Fall, dass ich dereinst sterbe, verfüge ich (u.a.) Folgendes: Tot sein auf Facebook weiterlesen
Andenken aus Stein
Ich habe heute mit meiner Schwester telefoniert. Es ging um den Totensonntag gestern. Nicht, dass wir nur ein einziges Wort davon gesprochen hätten. Aber mir war klar, dass sie am Grab unserer Mutter gewesen sein musste. Und ihr war klar, dass ich das Grab ein weiteres Mal nicht besucht hatte.
Wir hatten schon oft über diesen Ort gesprochen. So oft vielleicht, dass kein Wort übrig geblieben war, dass ich heute dazu hätte sagen können. Und wären da noch welche, hätte ich mir verboten, sie zu sagen. Ich will mich nicht mehr rechtfertigen. Meine Schwester mag mich sehr und will keinen Streit vom Zaun brechen. Aber sie hasst es, dass es überhaupt einen Zaun gibt zwischen uns. Wir kommen nicht zueinander.
Meine Schwester findet es wichtig, dass Andenken an unsere Mutter zu bewahren. Ich auch. Unsere Mutter war eine stolze, starke Frau. Meine Schwester glaubt, ein gepflegtes, geschmücktes Grab sei Ausdruck dieses Andenkens. Ich nicht. Ich glaube, ein gepflegtes, geschmücktes Grab ist Ausdruck von Verzweiflung. Besonders das meiner Mutter. Meine Mutter ist nicht an dort. Sie war noch nie da. Sie kannte diesen Ort nicht.
Wir haben den Ort ausgesucht, nahe am Wasser unter dem riesigen Rhododendron. Wir haben auch den Stein ausgesucht, sogar die Gravur, sogar die Worte der Gravur. Jetzt steht dieser Stein da – bald 10 Jahre – und bezeugt: Was eigentlich?
Dass es meine Mutter gegeben hat? Dass es mich gibt, der heute noch an sie denkt? Dass sie ein Denkmal wert war? Ich verstehe diesen Stein nicht. Ich bin für seine Existenz verantwortlich aber ich habe mich geirrt. Ich kann ihn nicht leiden. Weil er so tut, als könne er die Zeit anhalten. Weil er sich so ewigkeitsschwanger aufbläst und weil er behauptet, er – kalt und zentnerschwer – bewahre das Andenken meiner Mutter.
Meine Schwester sagt, dass sei ein wichtiger Ort für sie und ich respektiere das. Mehr noch: Ich freue mich darüber, dass sie ihn pflegt. Ich bin ihr dankbar.
Aber ich fühle mich schuldig, weil es diesen Ort gibt. Wenn ich nicht da bin, weil ich weiß, dass es Menschen gibt, die finden, dass ich da sein sollte. Weil man das macht, weil man da hingeht, wenigstens ab und an. Und wenn ich dort bin dafür, dass ich dann so nichts, so gar nichts empfinden kann.
Ich kann nicht einsehen, was Koniferen und Efeu jemals mit meiner Mutter zu tun haben sollen.