Ich wache auf; die Birke und die Sonne sind schon mitten im Schattenspiel, der Position des Schattenspiels auf dem Kleiderschrank nach zu urteilen, ist es ungefähr 8. Mir fällt ein, das Sonntag ist: yay, denke ich, bleibe liegen und tue nichts. Ich lasse mich in meine Gedanken fallen; vorsichtig anfangs, dann mutiger und stelle nach 10, 12 Gedanken zufrieden fest: alles normal. Mir sind diese Momente kostbar geworden. Wann immer ich einen Moment normal erwische, bleibe ich so lange es geht.
Als der Moment vorbei ist, greife ich mein Tablet, öffne die Berliner Zeitung und lese diesen Artikel:
Gegen Corona: Polizei löst Querfront-Demo in Berlin auf
Plötzlich ist nichts mehr richtig:
- Die Polizei löst eine friedliche Demonstration auf.
- Dazu sind 260 Polizist*innen nötig.
- Demonstriert wurde unter anderem dagegen, dass man in unserem Land derzeit nicht mehr demonstrieren darf.
- Man darf in unserem Land derzeit nicht mehr demonstrieren.
- Es wurde eine große Menschenmenge gebildet, um gegen die Maßnahmen zur Bekämpfung eines Virus zu demonstrieren, der sich am besten in großen Menschenmengen verbreitet.
- Rechtsextreme und Linksextreme sind sich neuerdings einig; man nennt das Querfront.
- Die Veranstalter der Demo sind der Ansicht, dass
- der Faschismus unmittelbar bevorsteht,
- Deutschland eine Dikatur wird,
- Covid-19 nicht gefährlicher als eine normale Grippe ist und
- Bill Gates mit Corona richtig Kohle macht.
Ich schalte den Bildschirm meines Tablets aus, aber mein schönes normal hat sich erledigt. Plötzlich bin ich rastlos, verwirrt und habe dieses nervöse, ängstliche Kribbeln im Bauch.
Nichts von dem was in diesem Artikel steht wäre vor einem Jahr vorstellbar gewesen, wenigstens nicht für mich. Dieser Artikel hätte vor einem Jahr vielleicht Teil eines Drehbuchs für ein krudes, dystopisches Endzeit-Drama sein können, aber niemals Teil einer vorstellbaren Wirklichkeit. Heute bin ich in dieser Wirklichkeit aufgewacht. Und jetzt ich liege ratlos in meinem Bett.
Ich kann mich an meinen Fetzen Normalität klammern: Spaziergänge, Kochen, Netflix, Schreiben und abends in die Badewanne. Ich kann versuchen, das neue normal schätzen zu lernen: Home Office, Videotreffen, erheblich weniger materieller Konsum. Ich kann weiterhin versuchen hilfreich zu sein: Einkaufen für Nachbarn, die es sich selbst gerade nicht trauen; Organisation von Masken für Menschen, die offline sind; der Plausch mit Bärbel von Balkon zu Balkon. Aber ich weiß nicht, wie ich mit dem umgehen soll, was sich eine Ebene darüber abspielt.
Wohin entwickeln wir uns als Gesellschaft? Und wollen wir dahin? Muss man die Einschränkungen, denen wir uns gerade unterwerfen überhaupt als gesellschaftliche Entwicklung verstehen, oder sind das einfach nur besondere, dringende Maßnahmen gegen eine besondere, dringende Bedrohung? Verschwinden sie, wenn die Bedrohung verschwindet? Verschwindet die Bedrohung?
Ich glaube nichts von dem, was die Veranstalter dieser Querfront-Demo glauben. Aber ich erkenne an, dass die Demo Ausdruck des Umstandes ist, dass es Menschen gibt, für die all das subjektiv wahr ist. Und denen das solche Angst macht, dass sie dagegen auf die Straße gehen. Und ich muss ebenfalls anerkennen, dass ich selbst noch nicht völlig realisiert habe, für wie lange SARS-CoV-2 Auswirkungen auf mein und unser Leben haben wird.
Altmaier glaubt, dass wir perspektivisch Milliarden Masken für Deutschland brauchen werden und freut sich darüber, dass wir sie ab der 2ten Hälfte des Sommers selbst werden produzieren können. Söder glaubt, dass das Oktoberfest dieses Jahr abgesagt werden muss (und wer mal in München gewohnt hat weiß, dass das für viele Münchner dem Ende der Welt schon sehr nahe kommen würde). Gates glaubt, dass manche Dinge einfach nie wieder zurückkommen werden, wie Geschäftsreisen oder Gipfel aller hochrangigen Politiker mit körperlicher Anwesenheit. Ich stutze, wenn ich dergleichen lese. Echt? Soweit in der Zukunft immer noch Corona? Dann schaudere ich. Dann fasse ich mich wieder, weil ich denke, fein, dann isses halt so, schaffen wir schon, bis hierhin haben wir es auch geschafft. Die Menschheit ist so unfassbar erfolgreich, weil sie sich gewöhnt und anpasst.
Und dann schaudere ich wieder. Wir dürfen uns nicht an Demonstrationsverbote gewöhnen. Oder Ausgangsbeschränkungen. Oder daran, dass es nie wieder Versammlungen geben kann. Wenn all das wirklich nötig sein sollte, müssen wir uns tatsächlich anpassen. Aber nicht im Sinne von hinnehmen, sondern im Sinne von: Neue Wege finden zu partizipieren, auszudrücken, zu fordern, zu blockieren, durchzusetzen oder wenigstens aufzustehen.
Ja. Aufstehen. Das wäre ein Anfang.