Reichsbürger, Corona-Leugner, Kommunisten: Keine Spur von Einheit in Berlin

Ich versuche jedes Jahr um den 3. Oktober durchs Brandenburger Tor zu laufen. Es ist eine Mischung aus Sentimentalität, Weil-ich-kann und ehrlicher Dankbarkeit. Ich bin in Leipzig geboren und war 10 als die DDR ein Teil der BRD wurde. Den Sozialismus in Wirklichkeit erlebt zu haben, habe ich oft als Bereicherung empfunden. Wenn andere nur ihre Ideale als Maßstab heranziehen konnten, um unser Gesundheitssystem oder unsere Regierung zu bewerten, hatte ich einen wenigstens groben Vergleich zu einem anderen, tatsächlich erfahrenen System.

Ebenso dankbar bin ich, dass ich die entscheidenden Weichen in meinem Leben nicht in einem System treffen musste, dessen Grenzen im Denken, Reisen, Träumen entlang des eisernen Vorhangs verliefen und nicht unerheblich vom eigenen Parteibuch und dem deiner Eltern abhängig waren.

Das Leben, das ich heute führe, wäre in diesem System nicht möglich gewesen. Ich pendle zwischen Hamburg und (West)-Berlin und bin abgesehen von einigen noch unerfüllten Reiseträumen wunschlos glücklich. Im globalen Vergleich lebe ich in einem sehr freien, sehr reichen, sehr verlässlichen Land und auch dafür bin ich sehr dankbar.

Mit dem alljährlichen Oktoberspaziergang durch Brandenburger Tor führe ich mir all das vor Augen. Gestern nun anlässlich des 30. Jubiläum der Wiedervereinigung. Es war gruselig.

Ein Bild des Bundestags, mit drei Zäunen geschützt.
Ein Bild des Bundestags, mit drei Zäunen geschützt.

Der Zugang zu den Stufen des Bundestags war mit 3 Zäunen und einem guten Dutzend Polizisten geschützt, im Hintergrund waren ungefähr ebenso viele Kleinbusse der Polizei geparkt – alle voll besetzt. Wir alle haben die Bilder der Corona-Leugner noch im Kopf, die den Bundestag bei einer ihrer letzten Demonstrationen zu stürmen versucht hatten. Ich kann daher also nicht sagen, dass diese Abschottung unnötig sei. Festlich oder wenigstens offen ist sie jedenfalls nicht.

Diskussionsrunde in Einmütigkeit: Aktivisten von Staatenlos.info.
Diskussionsrunde in Einmütigkeit: Aktivisten von Staatenlos.info.

Ein paar Meter weiter auf dem Weg zum Brandenburger Tor dann ein Party-Pavillon, zwei übersteuerte Boxen und eine Gruppe von 70 bis 100 Leuten, die wie ich versucht zu verstehen, was passiert. An einem großen Runden Tisch sitzen 7 Personen. Einer knabbert Nüsschen, einer raucht, eine trinkt Apfelsaft aus einem Plastikbecher, die anderen sitzen einfach dabei, einer hält ein Mikrofon und spricht. Obwohl ich da ein paar Minuten gestanden habe, habe ich Mühe wiederzugeben worüber. Deutschland sei nie entnazifiziert worden, niemals offiziell in einen Zustand des Friedens eingetreten, hätte als Land keine Legitimität, keine demokratisch gewählte Regierung, wäre dafür von völlig gleichgeschalteten Medien dominiert und von Geheimdiensten, Wirtschaftsinteressen und einem deep state unterminiert, den wir alle noch nicht erkannt hätten. Es ist wirr, es ist unbegründet, nirgends zu Ende gedacht und ich halte das nicht lange aus. In den Gesichtern der umherstehenden Polizist:innen versuche ich abzulesen, wie sie das so finden. Aber das sind Profis, ich lese gar nichts.

Corona beenden: Als ließe sich ein Virus wegdemonstrieren.
Corona beenden: Als ließe sich ein Virus wegdemonstrieren.

Als wir uns dem Brandenburger Tor nähern, hören wir schon von weitem einen Redner verkünden, dass alle Parteien im Bundestag – auch die AFD – der Abschaffung unserer Freiheit zugestimmt haben. Das Volk sei damit nicht mehr parlamentarisch repräsentiert, das gesamte Parlament entsprechend eine Farce. Hinter vorgehaltener Hand würden das sogar Mitglieder des Bundestages selbst so formulieren. Die Menge grölt. Wir sind in eine Demo aus Corona-Leugnern geraten. Es sind nicht viele, 200 vielleicht, aber sie schaffen es dennoch so etwas wie Flair – oder einigen wir uns lieber auf Stimmung – zu erzeugen. Eine Art gemeinsames Verständnis. Ich streife ein paar Minuten filmend durch die Masse. Es ist eng, also trage ich meinen Mund-Nasen-Schutz, mit dem ich natürlich auffalle. Aber ich werde in Ruhe gelassen. Ich will auch relativ schnell, relativ dringend meine Ruhe. Ich versuche einzuschätzen, wie weit die Staatenlosen ideologisch von den Corona-Leugnern entfern sind, aber ich komme zu keinem Ergebnis. Wie weit ist von Atlantis bis zum Bernsteinzimmer? Ich gehe weiter.

Auf der anderen Seite des Brandenburger Tores: Reichsbürger.
Auf der anderen Seite des Brandenburger Tores: Reichsbürger.

Auf der anderen Seite des Brandenburger Tores wurde es nicht besser. Aber immerhin weniger. Reichsbürger. Zwei Dutzend, vielleicht drei. Die Dichte an Reichsflaggen war hoch, die Dichte an Fakten in den Ausführungen des Redners eher gering. Was mir zum ersten mal so richtig klar wird: Hier herrscht Sehnsucht nach dem Kaiserreich. Die Staatenlos-Demonstranten wollen einen legitimen Staat, haben über dessen Form aber noch nicht nachgedacht. Die Corona-Leugner wollen gern zurück zu einem demokratischen Staat, in dem wir ihrer Wahrnehmung nach nicht mehr leben. Die Reichsbürger hier hielten nicht viel von Demokratie und wünschen sich allen Ernstes eine Monarchie zurück. Ich muss losprusten an einer Stelle und ernte böse Blicke. Wohl auch, weil ich munter fotografiere.

30 Jahre sind genug: Die FDJ will zurück zum Sozialismus.
30 Jahre sind genug: Die FDJ will zurück zum Sozialismus.

Ich laufe Unter den Linden Richtung Osten. Und ich muss nicht weit laufen, bevor ich die nächsten Lautsprecher plärren höre. Hinter einem Tross Polizeifahrzeugen nähert sich ein olivgrüner IFA W50 – DER LKW der DDR. Aus den auf der Fahrerkabine angebrachten Lautsprechern dröhnt ein russisch klingender Marsch. Dahinter ein Demonstrationszug aus Sozialisten & Kommunisten. Zum ersten Mal nach 30 Jahren sehe ich wieder das Logo der FDJ, der sogenannten Freien Deutsche Jugend. In der DDR war diese Jugendorganisation gar nicht mal so frei, sondern mehr oder weniger eine Pflichtveranstaltung für Jugendliche, in der neben gemeinsamen Freizeitaktivitäten natürlich auch politische Indoktrinierung im Sinne des Systems stattfand. Die sehr jung aussehenden Vertreter der heutigen FDJ finden, 30 Jahre BRD sei genug – wir bräuchten jetzt Revolution und anschließend Sozialismus. Auf einem Transparent lese ich “Euer Staatsbankrott wird unser Sieg sein” und frage mich – und wovon leben wir dann? Am Ende des Zuges tragen Menschen die Fahne der DDR mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz. Ich bin unsicher, wie ernst die das meinen.

Ich kann nicht mehr. Bin ich der Einzige, der unser System grundsätzlich in Ordnung, wenn auch nicht vollkommen gerecht, inklusiv, offen oder ungefährdet ist? Bin ich der Einzige, dem es angst macht, am Nationalfeiertag keine 300 Meter um die Wahrzeichen der Republik laufen können, ohne einer lautstarken Splittergruppe der Gesellschaft mit verqueren Ansichten in die Arme zu laufen? Ich plädiere nicht für Militärparaden oder Chemtrails in Nationalfarben, aber vielleicht irgendetwas? Wo demonstrieren die zufriedenen Demokraten? Wo sind die Stände der etablierten Parteien? Wo spricht Merkel?

Merkel spricht in Potsdam. Aber die zufriedenen Demokraten demonstrieren nicht. Nirgends. Vielleicht sind sie zu zufrieden.

Surreal normal

Ich wache auf; die Birke und die Sonne sind schon mitten im Schattenspiel, der Position des Schattenspiels auf dem Kleiderschrank nach zu urteilen, ist es ungefähr 8. Mir fällt ein, das Sonntag ist: yay, denke ich, bleibe liegen und tue nichts. Ich lasse mich in meine Gedanken fallen; vorsichtig anfangs, dann mutiger und stelle nach 10, 12 Gedanken zufrieden fest: alles normal. Mir sind diese Momente kostbar geworden. Wann immer ich einen Moment normal erwische, bleibe ich so lange es geht.

Als der Moment vorbei ist, greife ich mein Tablet, öffne die Berliner Zeitung und lese diesen Artikel:

Gegen Corona: Polizei löst Querfront-Demo in Berlin auf

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Politik der Worte #3: Verteidungsausgaben

Würde Deutschland – wie auf dem Nato-Gipfel in Prag 2002 vereinbart, auf dem Nato-Gipfel 2014 in Wales bekräftigt und von Trump nun in echt gefordert – zwei Prozent seines Bruttoinlandsproduktes in Verteidigung investieren, dann wären das knapp 40 Prozent mehr als jetzt, nämlich 60 Milliarden Euro jedes einzelne Jahr.

Klingt viel. Ist das viel? Wieviel sind 60 Milliarden? Hier ein paar andere Zahlen aus dem vergangenen Jahr zum Vergleich:

  • Entwicklungshilfe-Etat: 8,5 Milliarden Euro (14% v. 60 Mrd.)
  • Etat für Umweltschutz, Bau & Reaktorsicherheit: 5,6 Mrd. (9%)
  • Etat für Bildung & Forschung: 17,6 Mrd. (30%)

Ich finde, es lohnt sich, sich das mal auf der Zunge zergehen zu lassen: Wir geben schon heute knapp dreimal mehr Geld für Verteidigung (37,5 Mrd. Euro) als für Entwicklungshilfe aus und sollen künftig fünfmal mehr Geld dafür ausgeben? Wir investieren doppelt so viel Geld in Rüstung wie in Forschung und sollen in Zukunft viermal so viel in Rüstung investieren?

Zugegeben, die Ausrüstung der Bundeswehr ist in desolatem Zustand. Von sechs U-Booten ist derzeit beispielsweise kein einziges einsatzbereit. Und bestimmt: neue U-Boote, Panzer, Flugzeugträger, Gewehre usw. sind teuer. Aber kann es richtig sein, 60 Milliarden in Aufrüstung zu investieren? Jedes Jahr? Allein in Deutschland?

Wenn von Verteidigungsausgaben die Rede ist, wünschte ich mir, wir würden als Gesellschaft zuerst darüber nachdenken, wogegen wir uns absehbar zu verteidigen haben werden. Einen Angriff zu Wasser zu Land oder aus der Luft? Mit Langstreckenraketen? Aus Russland, China, dem Iran oder Nordkorea? Wahrscheinlich nicht. In Deutschland nicht und auch in keinem anderen Nato-Land. Und selbst wenn sich bestehende Rivalitäten noch verschärfen sollten, wird man diesen Konflikten aller Wahrscheinlichkeit nach nicht mit Waffengewalt beikommen können.

Was meiner Meinung nach derzeit wirklich in Gefahr ist, ist die Allgemeingültigkeit der humanistischen Werte, auf denen unsere Demokratie fußt.

Das Recht auf Asyl. Damit verbunden das Recht auf ein Mindestmaß menschlicher Würde. Mit Blick auf die Flüchtlingsboote im Mittelmeer viel zu oft auch das grundlegendste aller Rechte – das Recht auf Leben.

Sieht man sich in Europa um, in Polen, in Ungarn, muss man sich um die Pressefreiheit sorgen, oft sogar um die Freiheit der Meinungsäußerung des Einzelnen.

Mit dem Erstarken der Rechtspopulisten (das vielerorts in Europa ja mit noch stärkerer Wucht als in Deutschland passiert) stehen auch die Rechte von Minderheiten plötzlich wieder zur Disposition; das Auskommen von materiell Benachteiligten und die Rechte von Schwulen und Lesben.

Die öffentlichen Debatten sind in Gefahr, das Diskutieren, das Streiten, das Miteinander-Reden. Viel zu oft stehen sich „Links-Grün-Versiffte“ und „Nazis“ gegenüber – mit geballter Faust und voller Verachtung. Aber stumm.

Wie verteidigt man all das? Mit U-Booten oder Gewehren jedenfalls nicht.

Dass im Koalitionsvertrag geregelt wurde, dass der Verteidigungshaushalt nur dann steigen darf, wenn jener für Entwicklungshilfe gleichermaßen wächst, klingt für mich nach einer guten Idee. Das könnte Not lindern und vielleicht sogar zur Entwicklung von Gesellschaften beitragen, aus denen niemand mehr flüchten muss.

Genauso wichtig ist es aus meiner Sicht, mit gleichem Ehrgeiz in Bildung und Integration zu Investieren – wobei Integration ohne Bildung (aufseiten aller Beteiligten) nicht möglich ist.

Wenn wir dieses Land verteidigen wollen, müssen wir in erster Linie versuchen, es zusammenzuhalten. Die damit verbundenen Aufgaben warten dabei nicht mehr nur an den Außengrenzen Europas sondern zunehmend auch diesseits davon.

Die Quittung kommt am Ende!

Was zum Teufel passiert da gerade in unserem Land? Man könnte ja den Eindruck gewinnen, dass die große Flucht vom sinkenden Schiff einsetzt. Roland Koch tritt zurück, weil Politik nicht sein Leben ist und Horst Köhler vermisst den Respekt vor seinem Amt. Beides sind sehr legitime Gründe sich aus der Politik zurückzuziehen. Aber selbst wenn ich mich nicht dem Echo in den Medien anschliessen will, so drängt sich mir doch der Eindruck auf, dass es ein wenig drunter und drüber geht. Und um ganz ehrlich zu sein, weiss ich gar nicht recht was ich davon halten soll, aber vielleicht kann mir ja jemand helfen ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen?!

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Pack die Kettensäge weg!

Ron hat in seinem Beitrag vollkommen richtig auf drei grundsätzlich Fragen verwiesen und ohne Zweifel mag die Kettensäge für verwilderte Bäume ein adäquates Werkzeug sein, allerdings bezweifele ich die Angemessenheit im Zusammenhang mit Einkommensumverteilung oder Restrukturierung unseren politischen oder wirtschaftlichen Systems. Ich will es an zwei der drei Themen verdeutlichen, die Ron bereits diskutierte.

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Das Volk überwacht sich selbst

Andauernd werden Literaten wie George Orwell oder Aldous Huxley in unseren Zeiten durch die Feuilletons gezerrt und als weise Propheten der Überwachungsgesellschaft stigmatisiert, in der wir uns bald – vielleicht sehr bald – wiederfinden könnten. Sofern wir es überhaupt merken. Wer bei 1984 oder Brave New World über den Klappentext hinausgekommen ist, weiß, dass es in beiden Szenarios Repressoren außerhalb des Individuums waren, die es zu kontrollieren versuchten. Bei 1984 schritt die Gedankenpolizei ein um den zu sanktionieren, der nicht parteigetreu dachte. In Orwells Brave New World war es Big Brother, der immer zu sah.

Die Tragik des ewigen Wiederkäuens (hoppla: worauf kaue ich eigentlich gerade herum?) von Orwell und Huxley besteht darin, dass die Überwachungsmechanismen in ihren Werken viel intelligenter und perfider konstruiert sind, als es die Realität heute tatsächlich erfordert. Lauthals wird gegen Voratsdatenspeicherung und Onlinedurchsuchung gewettert. Dabei muss man sich in Zeiten von Facebook, Twitter, Blogger oder Myspace kaum noch anstrengen, um detailreiche Lebensprofile von Menschen erschließen zu können: Heutzutage präsentiert man auch private Informationen gern bereitwillig und ganz ohne Zwang selbst. Glücklicherweise werden die bösen, bösen Informationskraken allerdings dermaßen mit Informationen überfüttert, dass ihnen der Wissensbrei bleiern und unnütz im Magen liegt.  Ganz offensichtlich haben die meisten Science-Fiction Autoren unterschätzt, wie ungebremst und viel zu oft auch unreflektiert das Geltungs- und Sendungsbedürfnis der eitlen Menschen unserer Zeit sein würde. Der zu unerträglicher Omnipräsenz tendierende ZEIT-Redakteur Adam Soboczynski brachte das letzte Woche sehr schön auf den Punkt: “Wer schweigt, zählt nicht.”  Wer schweigt geht in der Flut dessen was andere quasseln einfach in Vergessenheit.

Will man also einen zünftigen Überwachungsstaat aufziehen, damit Orwell und Huxley endlich einmal zurecht im Feuilleton auftauchen, braucht man dringend einen neuen gut und vor allem schnell funktionierenden Verdauungstrakt für die mit Bauchweh darniederliegenden Datenkraken.

Der britische Geschäftsman Tony Morgan hat das Problem erkannt und sich freundlicherweise der Lösung eines kleinen Teils davon angenommen: den 4,5 Millionen britischer Überwachungskameras nämlich, deren Bilderflut völlig unbeherrschbar geworden ist. Nur 13 Einwohner des Vereinigten Königreiches teilen sich eine Überwachungskamera. Wer in London unter Verfolgunswahn leidet, hat schlechte Karten: Auf dem Weg zum Einkaufen wird jeder Bürger statitisch gesehen etwa 300 Mal gefilmt.

Mike Neville, der die Videoüberwachung des Landes bei Scotland Yard koordiniert, bezeichnete die Lage als “ein völliges Fiasko”. Nur drei Prozent der Diebstähle auf offener Straße können aufgeklärt

werden, weil 200 Kameras in nur einer Leitstelle mit drei bis vier Angestellten kommt, die deren Bilder auswerten sollen. Von einer Stunde Material wird durchschnittlich nur etwas weniger als eine Minute angesehen. Sogar der Guardian spottet: “Big Brother is not watching.” Das könnte auch daran liegen, dass die Sichtung des gesammelten Materials eine “enervierende und extrem langweilige Arbeit”, wie der Kriminologe Ken Pease vom University College London einräumt.

Vielleicht wird die bald spannender: Londons Polizei testete bereits 2007 sogenannte Drohnen, also winzige Kameras auf Minihelikoptern die von Beamten am Boden ferngesteuert werden können.

Bis dahin muss man der einschläfernden Lage auf anderen Wege Herr werden. Durch Inszenierung eines kurzweiligen Mixed-Reality Online Games für Hobbydetektive zum Beispiel. So bezeichnet jedenfalls Golem die Geschäftsidee von Tony Morgan, dem Gründer des kleinen Start-Ups Internet Eyes.

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Im Rahmen eines Pilotprojektes in der kleinen Stadt Stratford-upon-Avon, (deren Namen außer den knapp 24.000 Einwohnern wohl niemand kennen würde, wäre nicht Shakespeare dort geboren) sollen Internetnutzer ohne Hobbies und Freunde künftig bei der Verbrecherjagd helfen. Nach der Registrierung erhält der Nutzer Zugriff auf regelmäßig wechselnde Live-Bilder. Wann immer er etwas Verdächtiges zu entdecken glaubt, kann er mit einem roten Knopf in der Software Alarm auslösen. Daraufhin wird die zuständige Leitstelle oder der Ladendetektiv vor Ort per SMS oder E-Mail automatisch benachrichtigt und entscheidet nun, was zu tun ist. Für jede richtig erkannte Straftat erhält der Spieler Punkte, für jeden Fehlalarm Punktabzug. Der fleißigste Sherlock Holmes erhält am Ende des Monats einen Geldpreis von 1.000 Britischen Pfund. Tony Morgan sieht in seinem System “die beste Waffe zur Verbrechensverhütung aller Zeiten”

Die größte gewerbliche Kameraleitstelle Camwatch hingegen bangt um ihrer Notwendigkeit, und wirbt auf ihrer Homepage mit der Kompetenz ihrer gutgekleideten und top-geschulten Mitarbeiter. Für Bürgerrechtsbewegungen wie No-CCTV, ist der Alptraum perfekt: Ist das Pilotprojekt erfolgreich überwacht sich das Volk künftig einfach selbst. Warum auch nicht? Schließlich hat ja niemand etwas zu verbergen.

 

Frustrierte bitte nach links

Als ich neulich mit einem Freund durch die Fußgängerzone einer größeren deutschen Stadt flanierte, sprach uns ein mutiger Wahlkampfhelfer der Linken an. Noch bevor dieser sein Verslein zu Ende sprechen konnte, riss mein Freund die Augen auf und rief: “Oh mein Gott! Sehen wir wirklich so frustriert aus?” Der Wahlkampfhelfer wandte sich sofort ab, mein Freund begann augenblicklich darüber zu referieren, dass wir dringend an unserer Haltung und unserem Gesichtsausdruck feilen müssten und ich fragte mich, ob es wirklich nur die Frustrierten seien, die links wählen würden.

Heute Morgen präsentierte mir Infratest dimap grafisch hübsch aufbereitet die Antwort:

Natürlich muss man dem Einwand des Neuen Deutschland statt geben: Diese Frage ist suggestiv und sogar ein kleines bisschen fies. Trotzdem ist mir die Antwort ein heller Leuchtturm im innerköpfigen Nebel der aufzieht, sobald ich zu ergründen versuche, wer warum links wählt.

Um die allermeisten Thesen der Linken wegzuwischen, braucht man maximal ein Argument(manchmal gar keines, siehe: Reichtum für alle!). Jeder weiß, dass die Rente mit 67 beispielsweise nicht dem neoliberalen Marktradikalismus sondern der demografischen Entwicklung in unserem Lande geschuldet ist. Kein vernünftiger Mensch kann ernsthaft dafür sein, morgen schon aus Afghanistan abzuziehen. Und niemand will die astronomische Rechnung zahlen, die eine pauschale Erhöhung der Harzt-IV-Bezüge auf 500 € verursachen würde.

Aber ich sehe das sein: Sozialromantik wärmt das Herz. Und so kann es sich ein bisschen wie Urlaub anfühlen, die Linke zu wählen. Einfach mal Abschalten von der nervigen Realität der Globalisierung mit all ihren billigen fleißigen Arbeitskräften in Fernost. Die Schuldenuhr einfach mal dass sein lassen, was sie ist: eine zu lang geratene Digitalanzeige. Und mal ein paar Minuten der schönen Fantasie nachhängen, den unzähligen stinkreichen Bonzen in unserem Land die Konten anzuzapfen.

Ich merke das selber: Ich bin unsachlich. Aber die Linken sind es auch. Genau wie ihre Wähler. Die aber haben mich im Gegensatz zu den Parteigranden tief beindruckt. Mit obige Antwort nämlich.

Die Wähler der Linken wissen, dass die Partei die Probleme unseres Landes weder lösen kann noch will noch jemals wird. Aber sie wählen sie trotzdem. Weil sie so prima meckern können.

Brechen die Linken ihr Versprechen?

Mal angenommen, Sie wählen am übernächsten Sonntag CDU. Warum würden das tun?

Vielleicht, weil Sie die proklamierten Inhalte der CDU mögen, oder schon immer CDU gewählt haben, oder aus Protest CDU diesmal wählen. Vielleicht – und so unwahrscheinlich ist das gar nicht – vielleicht würden Sie aber auch deshalb CDU wählen, weil Sie wollen, das Angela Merkel Kanzlerin bleibt. Vielleicht mögen Sie sie,  weil Sie das Bild, das medial von ihr verbreitet wird vertrauenswürdig finden oder weil das so wahnsinnig nett war am letzten Sonntag am Bratwurststand neben ihr auf dem Marktplatz. Vielleicht finden Sie auch einfach, dass sie einen ganz guten Job gemacht hat und wählen Sie deshalb noch einmal.

Natürlich: Solange Sie nicht im Wahlkreis “015 Stralsund, Nordvorpommern, Rügen” leben, können Sie Angela Merkel gar nicht direkt wählen sondern nur ihre Partei, das wissen Sie. Und dennoch ist jede Wahl auch eine Personenwahl. Das wissen alle.

Nehmen wir mal an, die CDU, die Sie nur gewählt haben, weil Sie Angela Merkel mögen würde nun ein solch gutes Wahlergebnis erzielen, dass sie theoretisch federführend bei der Bildung einer Regierungskoalition sein könnte. Und gehen wir mal davon aus, dass Sie Angela Merkel gewählt hätten, obwohl ihre politischen Gegner, nennen wir sie mal Steinmeier und Künast, vor der Wahl keine Gelegenheit ausgelassen hätten zu betonen, dass sie eine Regierungsbildung unter Merkels Führung kategorisch ausschließen.

Wie würde Sie es – das alles vorausgesetzt – dann finden, wenn Angela Merkel, die Sie ja gewählt haben, unter dem Druck von SPD und Grünen auf den Posten der Bundeskanzlerin verzichten würde und stattdessen ein anderer aus der Partei, sagen wir mal Roland Koch, Bundeskanzler würde?

Ich würde mich betrogen fühlen. Denn ich hätte ja Merkel und nicht Koch gewählt. 

Genauso betrogen würde ich mich fühlen, wenn nun Herr Ramelow von den Linken scheinbar großzügig und edel auf den Ministerpräsidentenposten in Thüringen verzichtet, weil Herr Matschie und Frau Rothe-Beinlich ihn – warum auch immer – nicht mögen, und stattdessen den Posten frei macht für einen, den ich eben nicht gewählt habe, den ich womöglich nicht einmal kenne.

Unbestritten hat es sich mancher anders gewünscht. Aber Fakt ist:  Die Wähler haben die Linke zur zweitstärksten Kraft in Thüringen gemacht. Entgegen, trotz oder gerade wegen aller Traumtänzer-, Sozialismus- oder SED-Nachfolge-Polemik. Wenn nun die politisch Beteiligten einen CDU-Ministerpräsidenten um jeden Preis verhindern wollen, müssen sie einen aus der Linken küren. Und zwar nicht irgend einen sondern Bodo Ramelow. Denn der ist gewählt. Alles andere ist in meinen Augen eben nicht “vernünftig” oder “solide” sondern Betrug am Wähler und Verrat an der Demokratie.

Käme es tatsächlich dazu, dass Rot-Rot-Grün in Thüringen einen Ministerpräsidenten aus dem schwarzen Zylinder direkt ins höchsten Amt des Landes hievte, wäre das aber vor allem eine bittere Niederlage für die Linke. Nicht nur, dass sie sich, dem Volk, dem Wähler und der staunenden Presse damit eingestehen müsste, dass auch sie nach der Wahl freilich nicht alles halten kann, was sie vorher kühn versprochen hat. Auch litte Stolz und Würde der Partei ganz erheblich darunter, wenn die Linke entgegen aller demokratischen Konventionen vor einem röhrenden Matschie in die Knie gehen würde, damit der künftige Ministerpräsident ihren Rücken als Steigbügel in den Chefsessel benutzen kann. Damit wäre alle anderen Parteien in ihrer ebenso arroganten wie hilflosen Haltung bestätigt, die Linke auch künftig angestrengt ignorieren zu dürfen – und zwar auch dann, wenn sie im Schatten astronomisch hoher linker Wahlergebnisse eigentlich vor Neid erblassen sollten.

Die Linke würde unsanft auf dem harten Pflaster der Realpolitik aufschlagen und müsste dann strauchelnd einsehen, dass die ordentlichen Regeln hier für sie trotz allem nicht gelten.