Ich erinnere mich gut an den Moment der Enttäuschung, als ich fünfjährig einsehen musste, dass mich meine Mutter auch dann sehen konnte, wenn ich mir die Augen zu hielt. Ich erinnere mich, an das Trauma eines Freundes, der im Alter von 12 Jahren anhand der Verletzung versteckter Plompen beweisen konnte, dass sein Vater sein Tagebuch las und an den Umzug der Schuberts in eine andere Stadt, nachdem sie ihre Stasi-Unterlagen gelesen hatten.
Festzustellen, dass man beobachtet wurde obwohl man sich in sicherem Umfeld wähnte, ist unerträglich. Meine Mutter hat ihrer Stasi-Akte niemals angefordert. Ihr war klar, dass daraus Spitzeleien im nächsten Umfeld offenbar würden, die Konsequenzen verlangten, vor denen sie sich noch mehr fürchtete als vor den seelischen Verletzungen durch den vielfach begangenen Verrat. Ich kann das verstehen. Aber ich halte das für falsch. Fakten wie diese muss man ansehen, finde ich.
Die Situation, der wir uns alle in den letzten Wochen häppchenweise gewahr werden, ist eine andere aber vielleicht doch vergleichbar. Jene, die unsere Kommunikation abhören, sitzen hunderte wenn nicht tausende Kilometer entfernt und tragen sehr wahrscheinlich keine blutpumpenden Herzen sondern wassergekühlte Mehrkernprozessoren in ihrem Inneren. Zunächst haben wir von ihnen nichts zu befürchten, denn mal ganz ehrlich: Wir sind rechtschaffende Leute und so aufregend nun auch wieder nicht. Wir sind alles kleine Lichter und wen interessiert schon, wem ich per E-Mail zum Geburtstag gratuliere, in wen ich heimlich verliebt bin oder was ich einer Freundin im Chat gestehe? Jeder von uns ist nur ein Datensatz unter Millionen. Ich werde schon durchs Raster rutschen.
Und außerdem: Wir dürfen doch sagen, was wir denken, wählen, wen wir wollen, Bürgerinitiativen gründen, Demonstrationen organisieren und bloggen, wonach uns der Sinn steht. Das ist ein freies Land.
Anders als die Hunderttausenden, die am Brandenburger Tor feierten, saß meine Mutter geschockt und weinend vorm Fernseher auf dem Sofa und konnte nicht fassen, was passierte. Das Land, in das sie geboren wurde verschwand. Die Gesellschaftsordnung, in der sie sich heimisch fühlte, fiel in sich zusammen. Auf den Trümmern eröffneten Investoren Schrotthalden, die sie als Gebrauchtwagenmärkte anpriesen. Vieles, an das sie geglaubt hatte, stellte sich als Lüge heraus. Unbeeindruckt und schonungslos passierte vor ihren Augen, was sie sich nicht vorstellen konnte, was sie nie für möglich gehalten hätte.
Keine Gesellschaft ist vor solchen Umbrüchen gefeit. Ich habe keine Angst vor einer Renaissance des Sozialismus. Aber mein Vertrauen in die Überwindung von Homophobie und Fremdenfeindlichkeit oder die gesellschaftliche Rehabilitation von ehemaligen Straftätern ist brüchig. Nicht nur einmal habe ich in diesem Land eine Missachtung der in den Grundrechten verankerten Demonstrationsfreiheit oder des Fernmeldegeheimnisses erlebt. Und den Inhalt unserer Festplatten oder die Verbindungsdaten unserer Mobiltelefone haben wir alle paar Wochen gegen legislative Angriffe zu verteidigen.
Wir sind recht schaffende Leute, aber was Recht ist, bleibt nicht unveränderlich. Davon kann sich wer zweifelt augenblicklich in Russland, der Türkei oder Ägypten überzeugen. Deutschland ist mit diesen Ländern nicht vergleichbar. Aber Amerika? Seit Jahren werden Menschen ohne Anklage, ohne Prozess, ohne jegliche rechtliche Legitimation in Guantánamo festgehalten.
Man kommt noch umhin, sich zu fragen, wer eigentlich der Staat ist, wenn Überwachungsprogramme staatlicher Geheimdienste bekannt werden, die sogar Parlamentariern das Entsetzen ins Gesicht und die Presseerklärungen treiben. Und man kommt nicht umhin, sich dazu zu positionieren. Auch wenn man das Protokollieren jedes versandten Bits ignoriert, ist das ein Statement. Auch, wenn man weg sieht, sich auf die eigene Rechtschaffenheit besinnt, sich einredet, nichts zu verbergen zu haben, ist das eine Meinungsäußerung. Eine Zustimmung nämlich zu Prism und Tempora. Ein schulterzuckendes Ja zur anlasslosen, ausnahmslosen, grenzenlosen Speicherung aller elektronisch versandten Daten.
Ich erwarte, dass der Staat, den ich finanzierte, meine Rechte schützt. Ich erwarte, respektvoll behandelt zu werden und an Entscheidungen beteiligt zu sein. Ich erwarte aber auch, dass sich jeder, der hier lebt, seiner Verantwortung bewusst wird. Du formst die Gesellschaft, die dich umgibt. Wir sollten die Kanäle kennen, über die wir kommunizieren. Wir sollten verstehen, wie das Internet funktioniert, wenn wir ihm unser Leben anvertrauen. Wir sollten uns des Werts unserer Privatsphäre bewusst sein und akzeptieren, dass Freiheit nicht gottgegeben sondern zu verteidigen ist. Und zwar von jedem Einzelnen. Auch von denen, die ihre freien Nachmittage damit retten, auf ihre völlige Ahnungslosigkeit und ihr mangelndes Geschick im Umgang mit Computern hinzuweisen. Ihr habt Freunde, die euch helfen können und ihr habt ixquick.
Ich fordere euch auf: Verschlüsselt eure Kommunikation.
Ich jedenfalls werde es tun. Und ich werde hier darüber schreiben.
2 Gedanken zu „Wir sind rechtschaffende Leute, aber wir haben viel zu befürchten.“
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