Christian Lindner wirkt. Pardon: wirbt.

Selten habe ich die Widerwärtigkeit des journalistischen Betriebes so deutlich gespürt wie zurzeit. Große Teile der Berichterstattung über Geflüchtete, Fußballkorruption und den Absturz der russischen Passagiermaschine letzte Woche kommen mir so dramageil vor, dass ich den Geifer tropfen hören kann. Am meisten regt mich auf, wenn mir Journalisten eine kasperhauser-eske Naivität vorzumachen versuchen, um dem überbordenden Sensationsgehalt ihrer Nichtnachricht die nötige Bühne zu bereiten. Ich muss ein Beispiel bringen, sehe ich ein. Bittegerne. Heute erschienen in der Welt und als Aufmacher aller Nachrichten-Apps die ich nutze. Ein Interview von FDP Chef Christian Lindner geführt vom stellv. Chefredakteur der Welt-Gruppe Ulf Poschardt.

Darin darf Lindner, dessen Partei bei der letzten Wahl – bitter, bitter! – aus dem Bundestag geflogen ist und der folglich gezwungen ist, die FDP neu zu erfinden, wenn sie jemals wieder relevant sein soll, darüber schwadronieren, dass der FDP Pionierarbeit Freude macht. Ach, was. Das ist so ähnlich, wie die berauschende Zahl der sich plötzlich funkelnd auftuenden Entwicklungsmöglichkeiten zu loben, am Tag nachdem man gefeuert wurde.

Weiterhin darf er verkünden, dass die Digitalisierung ein Megatrend ist, der alles verändern wird. Bäm! Ich habe extra nochmal nachgesehen, der Artikel ist wirklich im Jahr 2015 erschienen, nicht im Jahr 2005. Es folgt bisschen angestaubtes Buzzwording: Google, Nutzerdaten, Wettbewerb. Dass die FDP nach dem Beitritt der Ex-Piraten-Promis Nerz und Schlömer und dem Verschwinden des Piratenschiffs im politischen Bermudadreieck (konnte ich mir nicht verkneifen, ‘tschuldigung) jetzt logischerweise auf der fetten Digitalisierungsweide grasen will, wird nicht gesagt. Und auch nicht gefragt. Es geht schließlich um Substanz.

Nach bessere Bildung am Beispiel zu maroder Schultoiletten wird freilich auch gerufen, ebenso wie nach einer Vereinheitlichung des deutschen Bildungssystems und – ach ja! – mehr Lehrern. Die Frage, wie das finanziert werden soll, verkneift sich Poschardt, der Lindner ist doch gerade so schön in Fahrt.

Und er steuert geradewegs auf den Höhepunkt dieses Soufflés von einem Interview zu: Der Kritik an der Flüchtlingspolitik von „Frau Merkel“. Die nämlich habe das Versprechen gegeben, dass jeder ein neues Leben in Deutschland finden kann, der danach suche. Ich halte mich für einigermaßen informiert, muss dieses Versprechen aber wohl verpasst haben. Sie habe durch ihre verfehlte Politik ein Chaos in Deutschland und ganz Europa angerichtet. Die Merkel war’s! Und ich Dummerchen dachte, das Chaos sei dadurch entstanden, dass sich Millionen von Menschen auf den Weg nach Europa machen, weil sie in ihrer Heimat mit dem Tode bedroht sind, sich die meisten europäischen Länder darum aber lieber nicht kümmern wollen. Lindner wünsche sich in der Regierung Menschen, die nicht aus Launen heraus, sondern auf Basis ihrer „Verantwortungsethik“ entscheiden würden. Wer jetzt erwartet, dass Poschardt Lindner zwinge, die Bedeutung des Wortes „Verantwortungsethik“ zu erklären, hat sich geschnitten. Dabei ist es ein hübsches Wort, finde ich, das sich wunderbar in einer Merkel-Rede machen würde.

Das alles ist kein politisches Interview, sondern eine riesige Werbefläche für die FDP, die nur wie ein Interview layoutet ist. Die Welt gehört zu Springer und deren Anwälte haben neulich ja offen zugegeben, dass der Journalismus [sic] in Springer-Publikationen lediglich ein Vehikel zum Transport von Werbung sei. Überraschen sollte das also niemanden. Aber ärgern. Viel mehr Leute als nur mich.