Pack die Kettensäge weg!

Ron hat in seinem Beitrag vollkommen richtig auf drei grundsätzlich Fragen verwiesen und ohne Zweifel mag die Kettensäge für verwilderte Bäume ein adäquates Werkzeug sein, allerdings bezweifele ich die Angemessenheit im Zusammenhang mit Einkommensumverteilung oder Restrukturierung unseren politischen oder wirtschaftlichen Systems. Ich will es an zwei der drei Themen verdeutlichen, die Ron bereits diskutierte.

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Mit der politischen Kettensäge gegen Wildwuchs: Ein Ausweg?

Alex’ ausführliche Analyse vom Donnerstag, gibt viele Antworten und Einblicke. Aber sie wirft auch Fragen auf. Und zwar sehr grundsätzliche:

1. Warum ist Umverteilung so schwierig?
2. Wer ist der Staat?
3. Wer oder was ist die EU?

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Die Dreifaltigkeit politischer Irrwege

Das Hauptargument in Rons Artikel von letzter Woche ist, dass Strukturprobleme in unserer Wirtschaft dazu führen, dass Kapitaleigner sich durch wildes Spekulieren an den Kapitalmärkten bereichern. Und dass beim Kollaps der Steuerzahler die Verluste kompensiert.  So sehr wie ich mit diesem Argument übereinstimme, muss ich doch auch ein wenig auf gewisse Annahmen hinweisen, welche in Rons Argumentation getroffen werden. Zunächst  fußt die Argumentation auf nationalen, binneneuropäischen und internationalen Problemen, welche im entsprechenden Kontext diskutiert werden müssen. Deshalb möchte ich mich ein wenig mehr analytische Trennschärfe bemühen.

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Das Volk überwacht sich selbst

Andauernd werden Literaten wie George Orwell oder Aldous Huxley in unseren Zeiten durch die Feuilletons gezerrt und als weise Propheten der Überwachungsgesellschaft stigmatisiert, in der wir uns bald – vielleicht sehr bald – wiederfinden könnten. Sofern wir es überhaupt merken. Wer bei 1984 oder Brave New World über den Klappentext hinausgekommen ist, weiß, dass es in beiden Szenarios Repressoren außerhalb des Individuums waren, die es zu kontrollieren versuchten. Bei 1984 schritt die Gedankenpolizei ein um den zu sanktionieren, der nicht parteigetreu dachte. In Orwells Brave New World war es Big Brother, der immer zu sah.

Die Tragik des ewigen Wiederkäuens (hoppla: worauf kaue ich eigentlich gerade herum?) von Orwell und Huxley besteht darin, dass die Überwachungsmechanismen in ihren Werken viel intelligenter und perfider konstruiert sind, als es die Realität heute tatsächlich erfordert. Lauthals wird gegen Voratsdatenspeicherung und Onlinedurchsuchung gewettert. Dabei muss man sich in Zeiten von Facebook, Twitter, Blogger oder Myspace kaum noch anstrengen, um detailreiche Lebensprofile von Menschen erschließen zu können: Heutzutage präsentiert man auch private Informationen gern bereitwillig und ganz ohne Zwang selbst. Glücklicherweise werden die bösen, bösen Informationskraken allerdings dermaßen mit Informationen überfüttert, dass ihnen der Wissensbrei bleiern und unnütz im Magen liegt.  Ganz offensichtlich haben die meisten Science-Fiction Autoren unterschätzt, wie ungebremst und viel zu oft auch unreflektiert das Geltungs- und Sendungsbedürfnis der eitlen Menschen unserer Zeit sein würde. Der zu unerträglicher Omnipräsenz tendierende ZEIT-Redakteur Adam Soboczynski brachte das letzte Woche sehr schön auf den Punkt: “Wer schweigt, zählt nicht.”  Wer schweigt geht in der Flut dessen was andere quasseln einfach in Vergessenheit.

Will man also einen zünftigen Überwachungsstaat aufziehen, damit Orwell und Huxley endlich einmal zurecht im Feuilleton auftauchen, braucht man dringend einen neuen gut und vor allem schnell funktionierenden Verdauungstrakt für die mit Bauchweh darniederliegenden Datenkraken.

Der britische Geschäftsman Tony Morgan hat das Problem erkannt und sich freundlicherweise der Lösung eines kleinen Teils davon angenommen: den 4,5 Millionen britischer Überwachungskameras nämlich, deren Bilderflut völlig unbeherrschbar geworden ist. Nur 13 Einwohner des Vereinigten Königreiches teilen sich eine Überwachungskamera. Wer in London unter Verfolgunswahn leidet, hat schlechte Karten: Auf dem Weg zum Einkaufen wird jeder Bürger statitisch gesehen etwa 300 Mal gefilmt.

Mike Neville, der die Videoüberwachung des Landes bei Scotland Yard koordiniert, bezeichnete die Lage als “ein völliges Fiasko”. Nur drei Prozent der Diebstähle auf offener Straße können aufgeklärt

werden, weil 200 Kameras in nur einer Leitstelle mit drei bis vier Angestellten kommt, die deren Bilder auswerten sollen. Von einer Stunde Material wird durchschnittlich nur etwas weniger als eine Minute angesehen. Sogar der Guardian spottet: “Big Brother is not watching.” Das könnte auch daran liegen, dass die Sichtung des gesammelten Materials eine “enervierende und extrem langweilige Arbeit”, wie der Kriminologe Ken Pease vom University College London einräumt.

Vielleicht wird die bald spannender: Londons Polizei testete bereits 2007 sogenannte Drohnen, also winzige Kameras auf Minihelikoptern die von Beamten am Boden ferngesteuert werden können.

Bis dahin muss man der einschläfernden Lage auf anderen Wege Herr werden. Durch Inszenierung eines kurzweiligen Mixed-Reality Online Games für Hobbydetektive zum Beispiel. So bezeichnet jedenfalls Golem die Geschäftsidee von Tony Morgan, dem Gründer des kleinen Start-Ups Internet Eyes.

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Im Rahmen eines Pilotprojektes in der kleinen Stadt Stratford-upon-Avon, (deren Namen außer den knapp 24.000 Einwohnern wohl niemand kennen würde, wäre nicht Shakespeare dort geboren) sollen Internetnutzer ohne Hobbies und Freunde künftig bei der Verbrecherjagd helfen. Nach der Registrierung erhält der Nutzer Zugriff auf regelmäßig wechselnde Live-Bilder. Wann immer er etwas Verdächtiges zu entdecken glaubt, kann er mit einem roten Knopf in der Software Alarm auslösen. Daraufhin wird die zuständige Leitstelle oder der Ladendetektiv vor Ort per SMS oder E-Mail automatisch benachrichtigt und entscheidet nun, was zu tun ist. Für jede richtig erkannte Straftat erhält der Spieler Punkte, für jeden Fehlalarm Punktabzug. Der fleißigste Sherlock Holmes erhält am Ende des Monats einen Geldpreis von 1.000 Britischen Pfund. Tony Morgan sieht in seinem System “die beste Waffe zur Verbrechensverhütung aller Zeiten”

Die größte gewerbliche Kameraleitstelle Camwatch hingegen bangt um ihrer Notwendigkeit, und wirbt auf ihrer Homepage mit der Kompetenz ihrer gutgekleideten und top-geschulten Mitarbeiter. Für Bürgerrechtsbewegungen wie No-CCTV, ist der Alptraum perfekt: Ist das Pilotprojekt erfolgreich überwacht sich das Volk künftig einfach selbst. Warum auch nicht? Schließlich hat ja niemand etwas zu verbergen.

 

Lichtfest

Genau 20 Jahre nach der entscheidenden, größten Montagsdemonstration, die dem DDR-Regime lehrte, dass es nicht länger gegen sein Volk regieren könne, gingen die Leipziger wieder auf die Straße. 100.000 von Ihnen. Nur weiß man diesmal leider nicht genau warum.

Unbestritten ist der Mut, den die Leipziger vor 20 Jahren aufbrachten bewundernswert. Denn entgegen der historischen Verklärung, die sich wie über alle bedeutsamen geschichtlichen Ereignisse freilich auch über dieses legt, war Demonstrieren gefährlich. Keiner der Demonstranten wusste nämlich, was wir heute wissen: Dass die enorme Zahl der Demonstranten ein Eingreifen der in Stellung gebrachten Hundertschaften, der in Seitenstraßen wartenden Panzer und der mit Stahlmessern bestückten Schneepflüge zu einer Kriegserklärung gegen das eigene Volk erhoben hätte. Dass keiner der Demonstranten einen Stein werfen würde, der leicht eine unbeherrschbare Lawine hätte auslösen können sondern das Gebot der Friedlichkeit der bedrohlichen Stimmung tatsächlich standhält. Und auch, dass die Forderungen der Demonstranten nicht etwa niedergeschlagen sondern bereits in wenigen Wochen überfüllt sein würden.

Schließlich hatte der sozialistische Bruder China nur einige Monate vorher ständig wachsende Demonstrationen von Studenten für Demokratie auf Platz des himmlischen Friedens in Bejing blutig und rigoros niedergeschlagen. Die damalige Regierung der DDR hatte sich öffentlich hinter diese brachiale Präsentation staatlicher Macht gestellt.

Die Leipziger konnten nicht wissen, dass sie gerade den Begriff “friedliche Revolution” prägten und dass man in 20 Jahren ernsthaft darüber nachdenken würde, ihrer Stadt den Untertitel Heldenstadt zu verpassen.

Aus dieser perspektive sind die Feierlichkeiten zur Erinnerung an die Revolution wichtig und gut. Auch weil sie uns daran erinnern können, dass unsere alltägliche Freiheit alles andere als selbstverständlich ist. Tatsächlich ist es inmitten Demonstration am Freitag gelungen, ein Gefühl dafür zu bekommen, welche Macht Menschen ausstrahlen können, wenn Sie sich zusammenschließen und welches Potential frei wird, wenn sie sich erheben.  Das schlichte Mitlaufen in diesem Strom am Freitag reichte schon für tiefe Ergriffenheit und Gänsehaut.

Je weiter das Lichtfest jedoch in die Vergangenheit rückt, desto deutlicher legt sich ein dichter Schleier des Zweifels über diese Kraft: Wofür demonstrieren wir eigentlich? Was machen wir eigentlich mit der gewonnen Freiheit? Sind wir jetzt glücklicher? Geht es uns besser?

Die künstlerischen Arbeiten, die die Strecke des schon historisch gewordenen Demonstrationszuges am Freitag säumten, erregten viel Aufmerksamkeit. Erschließen konnte man sich nur die wenigsten von Ihnen ohne vorherige Lektüre. Ein dröhnende Basswellen verströmender, blau angeleuchteter Hauptbahnhof sagt nicht viel, außer, dass er viel sagen könnte. Ein Werbedisplay mit hektisch wechselnden Zahlenkolonnen wirft Fragen auf, beantwortet aber keine. Und farbige Lichsäulen die sich Hochhausfassaden hinunterstürzen sehen toll aus – schweigen aber.

Natürlich gab es auch zahlreiche Arbeiten, die sich sehr direkt mit den Protesten 1989 auseinandersetzten, die teils originale Bild- und Tonquellen verwendeten oder die Zeitzeugen zu Wort kommen ließen. Jene Arbeiten, die das aber eben nicht taten, die also nicht ausschließlich erinnern wollten, offenbarten vor allem eines: Niemand weiß genau wofür wir eigentlich heute kämpfen. Oder ob.

Die LVZ hatte an mehreren Stellen Videowände aufgestellt, auf die Demonstranten mit ihren Mobiltelefonen Nachrichten schicken konnten. Eine andere Videoarbeit gab einfach nur ein Livebild der gerade stattfindenden Demonstration wieder. Überall schossen Digitalkameras blitzend Bilder. Überall filmten winzige Handykameras das Geschehen.  Die Demonstration dokumentierte sich selbst. Warum? Die Demonstranten versicherten sich gegenseitig ihrer Ergriffenheit. Wovon? Und feierten Ihre Freiheit. Ihre Freiheit wozu?

Gelegentlich lief man durch eine Wolke Glühweindampf oder Bratwurstrauch. Und spätestens dann war es mit Händen zu greifen: Wir sind satt und träge geworden. Und an diesem Abend waren wir besoffen von der eigenen Courage. Noch immer mögen wir den starken Auftritt und das große Gefühl. Im Kino zum Beispiel.  Aber weil demonstrieren heute nicht mehr gefährlich ist haben wir uns Kletterhallen gebaut. Wenn wir uns nach Dingen sehnen kaufen wir sie uns einfach.  Und wenn wir frei sein wollen fahren wir in den Urlaub.

Klicken für den Atomausstieg

Bestimmt sind wir uns einig: es war noch nie so einfach wie heute sich politisch zu engagieren. Während man sich früher auf Demos die Beine in den Bauch stehen musste oder an Gleise gekettet eine fiese Blasenentzündung riskierte – und womöglich eine Vorstrafe – genügen heute ein paar Klicks und die Preisgabe einiger persönlicher Daten, um sein Gewissen zu beruhigen und mit dem guten Gefühl ins Bett gehen zu können, Anteil am Design in dieser Gesellschaft genommen zu haben. So ist es mittlerweile fast zu einem Trend geworden, in der Mittagspause um Online-Petitionen zu unterzeichnen oder offene Briefe. Mein letzter war der, mit dem eifrigen Damen und Herren von campact Merkel, Westerwelle und Seehofer dazu ermahnen, unbedingt am vor 10 Jahren von Rot-Grün beschlossenen Atomausstieg festzuhalten.

Zweifellos ist der Atom-Ausstieg das respektabelste Ergebnis der Rot-Grünen-Koalition und ebenso unbestritten hat er entscheidende Weichen für eine Energiepolitik gestellt, die Deutschland zur weltweiten Nummer 1 der Photovoltaik und Windenergiebranche hat reifen lassen. Ein Vorsprung in Know-How und Technologie auf dem unser Land in den nächsten Jahrzehnten surfen könnte. Sofern uns jetzt nicht die Luft ausgeht.

Danach sieht es aber leider aus. Bereits am 29. September – also keine zwei Tage nach der Wahl – forderten alle vier AKW-Betreiber Deutschlands in gespenstischer Geschlossenheit und unmissverständlicher Deutlichkeit den Ausstieg aus dem Ausstieg:

„RWE vertraut darauf, dass die Union und die FDP ihre Wahlversprechen einhalten und die Weichen für Laufzeitverlängerungen von Kernkraftwerken stellen.“

Sollten sie damit auch nur teilweise durchkommen, ginge dem Energiesektorder Innovationsdruck verloren, der das Effizienzproblem der Solarenergie und den Speichernotstand der Windkraft momentan in atemberaubender Geschwindigkeit vor sich hertreibt. Schlagartig nämlich wäre auch in Zukunft preiswerter und stabiler Atomstrom in Hülle und Fülle verfügbar, so dass man sich gut und gerne ein paar Jahre Ruhe vom nervigen Energieeffizienz-Geschrei gönnen könnte. Und bei gewohnter Bequemlichkeit wohl auch würde.

Vorausgesetzt man besitzt die tollkühne Ignoranz zu verdrängen, dass ins sogenannte “Forschungsbergwerk Asse II”  an jedem einzelnen Tag rund 12.000 Liter Grundwasser sickern um sich irgendwo zwischen den einhundertsechsundzwanzigtausend Fässern schwach- bis mittelradioaktiven Mülls oder vielleicht auch rings um die 28 Kilo dort lagernden Plutoniums zu einer radioaktiven Lauge anzureichern. Es ist keine Lösung sondern lediglich Ausdruck völliger Ratlosigkeit, dass man diese Lauge kurzerhand von einem Schacht in den anderen pumpt. Das hat zwar den Vorteil, dass der Schacht in dem die Fässer lagern begehbar bleibt, ändert aber nichts daran, dass kein Mensch such nur den Ansatz einer Idee hat, wie man diesen unterirdischen See unschädlich oder wenigstens ungefährlich machen könnte.

Atomlobbyisten sind mächtiger als uns allen lieb sein kann, und tun ihr Bestes um uns davon zu überzeugen, dass die Menge des bei der Stromerzeugung anfallenden radioaktiven Abfalls gemessen am Wirkungsgrad geradezu lächerlich gering sei, und die Suche nach einem geeigneten sicheren Endlager kurz vor dem Abschluss stünde. Besondere Hoffnungen werden hierbei offenbar in das derzeitige Forschungslabor im französischen Bure gelegt. Die tonhaltigen Gesteinsschichten hier könnten den Atommüll für ungefähr 1.000.000 Jahre sicher einschließen, was ja gar nicht nötig sei, weil die Radioaktivität des Mülls schon nach 100.000 Jahren abgeklungen wäre. Das lässt einen erst einmal durchatmen. Wer den Meditationskurs aber geschwänzt hat, und wessen Gehirn frech und fröhlich zum nächsten Gedanken weiter springt, dem stockt der Atem schon nach einigen Sekunden wieder. Selbst wenn das ständige Fließen der irdischen Geologie das lothringische Fleckchen Erde vom Merlot besoffen vergessen sollte, bleibt das Risiko Mensch. Denn auch mit an Verblendung grenzendem Wohlwollen ist das, was wir als Zivilisation bezeichnen alles in allem höchstens 100 000 Jahre alt. Und müsste also mindestens noch einmal genauso lange halten, damit wir vor unserem Verschwinden auch fertig mit unserem Müll wären.

Atomlobbyisten lassen weiterhin nichts unversucht all jene als hysterische Esoteriker da stehen zu lassen, die vor einem schweren Störfall, im sogenannten Super-GAU warnen. Der passiere nämlich nur drei Mal in 100 000 Reaktorjahren und sei damit außerordentlich unwahrscheinlich. Wer den Meditationskurs geschwänzt hat um an der Stochastik-AG teilzunehmen weiß aber, dass immer diese Wahrscheinlichkeit (worauf immer ihre Berechnung auch fußen mag) kein Grund zur Beruhigung ist. Denn drei Störfälle in 100 000 Jahren sind genauso wahrscheinlich wie einer morgen, einer übermorgen und ein am Tag darauf.

Es mag uns in unserer selbstverliebten Technikgläubigkeit nicht gefallen, muss bis auf weiteres aber hingenommen werden: wir beherrschen die Atomenergie eben nicht. Ihre Risiken können wir vielleicht kalkulieren, aber wir können sie nicht zügeln. Und weil wir ihre Folgen – sogar die, die ganz ohne Katastrophe eintreten – nicht verantworten können, müssen wir die Finger von ihr lassen.

Diese sind auf Maus und Tastatur ohnehin viel besser aufgehoben – um den Erinnerungsbrief an die neue Regierung zu unterzeichnen.

Frustrierte bitte nach links

Als ich neulich mit einem Freund durch die Fußgängerzone einer größeren deutschen Stadt flanierte, sprach uns ein mutiger Wahlkampfhelfer der Linken an. Noch bevor dieser sein Verslein zu Ende sprechen konnte, riss mein Freund die Augen auf und rief: “Oh mein Gott! Sehen wir wirklich so frustriert aus?” Der Wahlkampfhelfer wandte sich sofort ab, mein Freund begann augenblicklich darüber zu referieren, dass wir dringend an unserer Haltung und unserem Gesichtsausdruck feilen müssten und ich fragte mich, ob es wirklich nur die Frustrierten seien, die links wählen würden.

Heute Morgen präsentierte mir Infratest dimap grafisch hübsch aufbereitet die Antwort:

Natürlich muss man dem Einwand des Neuen Deutschland statt geben: Diese Frage ist suggestiv und sogar ein kleines bisschen fies. Trotzdem ist mir die Antwort ein heller Leuchtturm im innerköpfigen Nebel der aufzieht, sobald ich zu ergründen versuche, wer warum links wählt.

Um die allermeisten Thesen der Linken wegzuwischen, braucht man maximal ein Argument(manchmal gar keines, siehe: Reichtum für alle!). Jeder weiß, dass die Rente mit 67 beispielsweise nicht dem neoliberalen Marktradikalismus sondern der demografischen Entwicklung in unserem Lande geschuldet ist. Kein vernünftiger Mensch kann ernsthaft dafür sein, morgen schon aus Afghanistan abzuziehen. Und niemand will die astronomische Rechnung zahlen, die eine pauschale Erhöhung der Harzt-IV-Bezüge auf 500 € verursachen würde.

Aber ich sehe das sein: Sozialromantik wärmt das Herz. Und so kann es sich ein bisschen wie Urlaub anfühlen, die Linke zu wählen. Einfach mal Abschalten von der nervigen Realität der Globalisierung mit all ihren billigen fleißigen Arbeitskräften in Fernost. Die Schuldenuhr einfach mal dass sein lassen, was sie ist: eine zu lang geratene Digitalanzeige. Und mal ein paar Minuten der schönen Fantasie nachhängen, den unzähligen stinkreichen Bonzen in unserem Land die Konten anzuzapfen.

Ich merke das selber: Ich bin unsachlich. Aber die Linken sind es auch. Genau wie ihre Wähler. Die aber haben mich im Gegensatz zu den Parteigranden tief beindruckt. Mit obige Antwort nämlich.

Die Wähler der Linken wissen, dass die Partei die Probleme unseres Landes weder lösen kann noch will noch jemals wird. Aber sie wählen sie trotzdem. Weil sie so prima meckern können.

Wahlsieger SPD

Im Moment sieht es ganz und gar nicht danach aus, aber vielleicht könnte sich die SPD doch noch zum eigentlichen Gewinner der Wahl mausern. In Regierungsverantwortung kommt sie in den nächsten vier Jahren sicher nicht. Aber vielleicht wieder zu sich. Zwei Fehler dürfen ihr dabei jedoch keinesfalls unterlaufen.

1. Bleibt die SPD beim bisherigen Spitzenpersonal kann sich nichts ändern. Das aber ist nötig. Sicher, das Konzept Müntefering hat viele Jahre funktioniert Müntefering ist geschickt und wusste die Partei zusammen zu halten. Aber er hat sich verbraucht. Er steht für die Agenda 2010 und einen teils peinlich offensichtlich taktierenden, teils beleidigenden Wahlkampf. Neu, vorwärtsstrebend, visionär kann die SPD nur ohne ihn wirken. Was ihm selbst bereits zu dämmern schien, als er heute in Aussicht stellte, sein Amt in Aussicht zu stellen. 

Auch Steinmeier muss von der Bühne. Denn dass gestern nach der ersten Hochrechnung allerorts SPD-Funktionäre vor die geöffneten Mikrofone sprangen um zu versichern, dass die Niederlage zwar historisch sei, aber nichts mit dem Spitzenpersonal zu tun habe, beweist, für wie nötig man die Verbreitung dieser These hielt. Natürlich ist das Gegenteil der Fall. Man kann nicht einerseits behaupten, das respektable Ergebnis der CDU sei einzig und allein auf den Beliebtheitsbonus der Kanzlerin zurückzuführen, anderseits aber leugnen, dass das Desaster der SPD zwar trotz keinesfalls aber wegen Frank-Walter Steinmeier passiert sei. Wenn wir ganze Straßenzüge mit Porträtfotos  nicht aber mit Inhalten plakatieren und wenn wir TV-Duelle mit nur zwei statt mit fünf Spitzenkandidaten veranstalten dürfen wir uns dann nicht wundern, wenn der Bundestagswahlkampf zum Personenwahlkampf verkommt. Und den hat Steinmeier verloren. Im Verlieren ist er offenbar aber nicht gut. Gestern in der Berliner Runde nach der Tagesschau kürte er sich zum Oppositionsführer und stellte so klar, dass er seinen Führungsanspruch auch weiterhin aufrecht erhalten werde, noch bevor irgend jemand daran hätte Zweifel äußern können. Ein bisschen peinlich ist das schon. Wir brauchen nämlich keinen Oppositionsführer. Was soll so ein Oppositionsführer denn eigentlich tun? Keine der drei nicht-regierenden Parteien wird in den nächsten Jahren eine Möglichkeit auslassen, mit ihrem Spitzenpersonal für ihre Überzeugungen einzustehen. Aber doch bitte nicht für die Überzeugungen der Opposition.

Derweil ist die Unruhe auf den hinteren Rängen bereits unüberhörbar. Andrea Nahles ruft nach Runderneuerung weil sie ihre große Chance wittert. Sie sei ihr gegönnt. Die Jusos stärken ihr den Rücken und rufen ebenfalls nach Erneuerung.

2. Die SPD muss ihren Inhalten weiterhin treu bleiben. Nicht den Milliardensubventionen, die in saarländischen Gruben verschütt gehen und auch nicht der rückwärtigen Fantasie der Wiedereinführung höherer Sozialleistungen. Wohl aber dem Deutschland-Plan, dessen einziges Manko es war und ist, Deutschland 4.000.000 neue Jobs zu versprechen. Weil sich nach dem Auftauchen dieser Zahl alle vor lachen die Bäuche hielten hat sich kaum einer die Mühe gemacht weiter zu lesen. Das aber lohnt sich. denn der Deutschlandplan  ist ein kluges, modernes und lupenrein sozialdemokratisches Konzept. Und natürlich ist unser Land eines, in dem sich für Mindestlöhne, gebührenfreie Bildung und ein klares Ja zum Atomausstieg Mehrheiten finden lassen. Aber eben nicht von diesen Köpfen.

Deutschland braucht eine starke Sozialdemokratie und hat sie auch verdient. Die nötigen Konzepte dafür stehen und die richtigen Leute machen sich bereit. Jetzt braucht es nur noch ein bisschen Geduld und den unumstößlichen Glauben an die Parabel vom Phoenix aus der Asche.

Warum Nichtwählen nicht schick sondern feige ist

Mir geht es ja genauso wie dem großen Rest der öffentlich quasselnden Zunft: Auch ich finde diesen Wahlkampf besonders. Überall ist vom Kuschelkurs, Wahlkampf-Wett-Schweigen oder Valium-Wahlkampf die Rede. Das ist doch wirklich furchtbar! Also: Nicht der Wahlkampf sondern das selbstmitleidige Gefasel darüber. Denn mit jedem weiteren Artikel, den ich zum Thema lese, gewinne ich den Eindruck, dass mit dem Wahlkampf alles in Ordnung ist, nicht aber mit der Berichterstattung darüber.

Ich hab mich ja schon vor dem TV-Duell lang und breit darüber gewundert, dass allerorts das Mikrowellen-Popcorn ausverkauft war, weil die Republik offenbar mit einem herrlichen Blockbuster-Martial-Arts-Splatter-Horror-Action-Spektakel, nicht aber mit einem kultivierten politischen Dialog rechnete. Und natürlich enttäuscht wurde.

Genauso irritiert bin ich jetzt über das breite Nichtwählerforum das medienübergreifend all jenen eingeräumt wird, die sich “im derzeitigen Politischen System nicht wiederfinden”, denen “die Visionen in den Parteiprogrammen fehlen” oder die der Überzeugung sind, “dass es am Ende ja doch keinen Unterschied macht,  was man wählt”, weil “die da oben” sowieso machen, was sie wollen. Und die dann so tun, als sei nichtwählen tatsächlich eine Alternative.

Es ist eben keine. Denn Nichtwählen sagt nichts, will nichts und benimmt sich irrational wie ein zickiger Teenager, der alles was der Tag für ihn bereithält mit eingezogenem Hals, verschränkten Armen, gehobenem Näschen und einem schrillen “Püh!” kommentiert.

Was Nichtwähler nicht begriffen haben, müssen auch all jene Journalisten einsehen, die sich langweilen, wenn im Wahlkampf keine Wrestling-Showkämpfe ausgetragen werden, wie sie beispielsweise Herr Müntefering vom Zaun brechen wollte, als er Frau Merkel empfahl, doch schon mal die Koffer zu packen.

1. Politik tendiert dazu, ein klitzekleines bisschen komplizierter zu sein als ein Boxkampf, bei dem klar ist, dass der, der zuerst Zähne spuckt verloren hat. Wenn Frau Merkel beispielsweise sagt, Atomkraft sei als “Brückentechnologie”  (19.900 Treffer bei Google) noch einige Jahre nötig, muss das also weder Wischi-Waschi noch ein Ausstieg aus dem Ausstieg durch die Hintertür sein. Möglicherweise handelt es sich dabei auch schlicht um die Wahrheit. Manchmal ist die langweilig und fetzt nicht. Das macht sie aber eben nicht minder wahr, wie die Cleveren unter uns schon im Vorschulalter gelernt haben.

2.Politik verlangt Kompromisse. Kompromisse fetzen oft auch nicht, weil man sich nicht so gut an ihnen reiben kann. Das 3-stufige Steuersystem der FDP kann man lieben oder hassen,  die Kopfpauschale der CDU kann man wollen oder nicht, oder die Bürgerversicherung der Grünen. Ich verstehe, dass man sich auch als Journalist nach solchen klaren Positionen sehnt, weil sich darüber leichter schreiben lässt als über einen mitunter sehr verquasteten Mittelweg wie den des Gesundheitsfonds. Andererseits lohnt es sich nicht, über das Steuersystem der FDP zu diskutieren. Es wird nie passieren. Keine Partei wird in Deutschland je wieder mit absoluter Mehrheit regieren. Wir werden Kompromisse, Mittelwege und die komplizierte Vorwärtsbewegung in kleinen Schritten lieben lernen müssen. Vielleicht verstehen wir unterwegs ja das Wesen der Demokratie.

3. Politik verlangt Realismus. Und mein Eindruck ist, dass das Volk das besser verstanden hat als mancher Kolumnist. Zwei Drittel der Deutschen glauben nicht an das plakative Wahlversprechen der CDU nach der Wahl die Steuern zu senken. Das Volk ist bereit für eine differenzierte Debatte. Mit kleineren Überschriften und ohne Boxkampfregisseure in Polit-Talkshows kriegen wir das auch hin.

4. Politik findet selbstverständlich auch im Kleinen statt, aber eben nicht nur. Wer der Meinung ist, sein politisches Soll allein durch das Engagement in der örtlichen Bürgerinitiative, durch das Mitlaufen bei Anti-Atomkraft-Demos oder das Betreiben eines politischen Blogs zu erfüllen, liegt daneben. Das große Ganze ist auf den Einzelnen angewiesen. Und sich der komplexer werdenden, globalisierenden, in immer stärkere gegenseitige Abhängigkeiten geratenden Weltpolitik zu entziehen, nur weil sie nicht so schön griffig ist, wie die Schwimmbadschließung im Nachbarkiez, ist nicht nur dumm und faul, sondern auch feige. Realpolitik und Radikalität passen nicht gut zusammen. Und das nervt manchmal, auch mich. Aber bundespolitische Kompromisse mitzutragen, sie ganz bewusst zu wählen, auch wenn man die Dinge gern einfacher und klarer und schneller hätte, kann auch Wachstum bedeuten. Nicht nur für die Demokratie, sondern vor allem auch für den Einzelnen, der nach eingehendem Studium eingestehen muss, dass beispielsweise ein Atomausstieg bis 2020 schön und wünschenswert aber leider nur in einer bunten Fantasiewelt möglich ist.

5. Wem das zu anstrengend ist, und wer sich im Paralleluniversum der rosa Kaugummiblasen emittierenden Teenager wohler fühlt als auf dem harten Parkett der Realpolitik, soll bitte bis mindestens 2014 den Mund halten. Wer nicht wählt darf auch nicht meckern.

Brechen die Linken ihr Versprechen?

Mal angenommen, Sie wählen am übernächsten Sonntag CDU. Warum würden das tun?

Vielleicht, weil Sie die proklamierten Inhalte der CDU mögen, oder schon immer CDU gewählt haben, oder aus Protest CDU diesmal wählen. Vielleicht – und so unwahrscheinlich ist das gar nicht – vielleicht würden Sie aber auch deshalb CDU wählen, weil Sie wollen, das Angela Merkel Kanzlerin bleibt. Vielleicht mögen Sie sie,  weil Sie das Bild, das medial von ihr verbreitet wird vertrauenswürdig finden oder weil das so wahnsinnig nett war am letzten Sonntag am Bratwurststand neben ihr auf dem Marktplatz. Vielleicht finden Sie auch einfach, dass sie einen ganz guten Job gemacht hat und wählen Sie deshalb noch einmal.

Natürlich: Solange Sie nicht im Wahlkreis “015 Stralsund, Nordvorpommern, Rügen” leben, können Sie Angela Merkel gar nicht direkt wählen sondern nur ihre Partei, das wissen Sie. Und dennoch ist jede Wahl auch eine Personenwahl. Das wissen alle.

Nehmen wir mal an, die CDU, die Sie nur gewählt haben, weil Sie Angela Merkel mögen würde nun ein solch gutes Wahlergebnis erzielen, dass sie theoretisch federführend bei der Bildung einer Regierungskoalition sein könnte. Und gehen wir mal davon aus, dass Sie Angela Merkel gewählt hätten, obwohl ihre politischen Gegner, nennen wir sie mal Steinmeier und Künast, vor der Wahl keine Gelegenheit ausgelassen hätten zu betonen, dass sie eine Regierungsbildung unter Merkels Führung kategorisch ausschließen.

Wie würde Sie es – das alles vorausgesetzt – dann finden, wenn Angela Merkel, die Sie ja gewählt haben, unter dem Druck von SPD und Grünen auf den Posten der Bundeskanzlerin verzichten würde und stattdessen ein anderer aus der Partei, sagen wir mal Roland Koch, Bundeskanzler würde?

Ich würde mich betrogen fühlen. Denn ich hätte ja Merkel und nicht Koch gewählt. 

Genauso betrogen würde ich mich fühlen, wenn nun Herr Ramelow von den Linken scheinbar großzügig und edel auf den Ministerpräsidentenposten in Thüringen verzichtet, weil Herr Matschie und Frau Rothe-Beinlich ihn – warum auch immer – nicht mögen, und stattdessen den Posten frei macht für einen, den ich eben nicht gewählt habe, den ich womöglich nicht einmal kenne.

Unbestritten hat es sich mancher anders gewünscht. Aber Fakt ist:  Die Wähler haben die Linke zur zweitstärksten Kraft in Thüringen gemacht. Entgegen, trotz oder gerade wegen aller Traumtänzer-, Sozialismus- oder SED-Nachfolge-Polemik. Wenn nun die politisch Beteiligten einen CDU-Ministerpräsidenten um jeden Preis verhindern wollen, müssen sie einen aus der Linken küren. Und zwar nicht irgend einen sondern Bodo Ramelow. Denn der ist gewählt. Alles andere ist in meinen Augen eben nicht “vernünftig” oder “solide” sondern Betrug am Wähler und Verrat an der Demokratie.

Käme es tatsächlich dazu, dass Rot-Rot-Grün in Thüringen einen Ministerpräsidenten aus dem schwarzen Zylinder direkt ins höchsten Amt des Landes hievte, wäre das aber vor allem eine bittere Niederlage für die Linke. Nicht nur, dass sie sich, dem Volk, dem Wähler und der staunenden Presse damit eingestehen müsste, dass auch sie nach der Wahl freilich nicht alles halten kann, was sie vorher kühn versprochen hat. Auch litte Stolz und Würde der Partei ganz erheblich darunter, wenn die Linke entgegen aller demokratischen Konventionen vor einem röhrenden Matschie in die Knie gehen würde, damit der künftige Ministerpräsident ihren Rücken als Steigbügel in den Chefsessel benutzen kann. Damit wäre alle anderen Parteien in ihrer ebenso arroganten wie hilflosen Haltung bestätigt, die Linke auch künftig angestrengt ignorieren zu dürfen – und zwar auch dann, wenn sie im Schatten astronomisch hoher linker Wahlergebnisse eigentlich vor Neid erblassen sollten.

Die Linke würde unsanft auf dem harten Pflaster der Realpolitik aufschlagen und müsste dann strauchelnd einsehen, dass die ordentlichen Regeln hier für sie trotz allem nicht gelten.