Krieg in der Ukraine: Die Peinlichkeit meiner Stadtpark-Idylle

Das Wetter ist kalt, aber sonnig. Auf meiner Morgenrunde zeigt sich der Park in vertrauter, aber deswegen nicht weniger beeindruckender Magie. Das Laub auf dem Boden ist mit dornigem Reif überzogen, das Sonnenlicht bricht in grellem Orange in die Dunkelheit. Ich zögere, die sich mir bietende Schönheit zu fotografieren. Das Wissen, dass weniger als 1.000 Kilometer entfernt Krieg herrscht, verbietet sie. Nur in meinem Kopf. Die Kaninchen, die sich in den ersten Sonnenstrahlen zu wärmen versuchen, der Buntspecht, der sich in der Rinde der Linde sein Frühstück erhämmert und die beiden in völligem Frieden am Ufer sitzenden Fischreiher ahnen davon nichts. Und würden sie, würde es sie kümmern?

Mich kümmert es. Die Videos die zeigen, wie Flammen in mittig abgerissenen Wohnzimmern lodern; wie in einem Wohnblock eine riesige Lücke klafft, als sei eine stählerne Boule-Kugel in ein Stück Sahnetorte gekracht; wie Männer am Bahnsteig in Tränen aufgelöst ihre Töchter zu ihren Frauen in den Zug landauswärts heben, gehen mir nicht aus dem Kopf. Es ist Krieg in Europa, aber das Wort Krieg bezeichnet nicht das Grauen, das sich zuträgt, einbrennt und nie wieder ungeschehen sein wird.

Ein Mann, denke ich, ein einzelner Mann verantwortet das. Wäre er vernünftiger, zivilisierter, heiler – würde nichts davon passieren. Ob das stimmen kann, frage ich mich, ob nicht jeder einzelne General mit seinen Befehlen, jeder einzelne Truppenführer mit seinem Dawai, Dawai, jeder einzelne Soldat mit seinem Finger am Abzug ebenso Verantwortung trägt. Jeder, der jemanden erschießt, verantwortet einen Mord. Und diese Verantwortung ist nicht delegierbar, diese Schuld ist nicht projizierbar; keine Ausrede wird sie jemals halten, schon gar nicht vor dem eigenen Gewissen. Wie sich darauf einlassen, habe ich an Soldatenschaft nie verstanden. Es kann nur funktionieren, wenn man den Gegner entmenschlicht und als Bestie betrachtet. Aber wie, im Moment des Todes, mit der Angst und dem Flehen im Auge des anderen? Wie, mit dem Gegner im Fadenkreuz, der nicht ahnt, dass er fallen wird, wenn mein Finger am Abzug zuckt?

Ob nicht auch die Nato Verantwortung trägt, weil sie sich ausgedehnt hat, frage ich mich, ob nicht auch Merkel Verantwortung trägt, weil sie verhindert hat, dass die Ukraine in die Nato aufgenommen wird, ob man Putin nicht auch irgendwie verstehen muss. Einen Scheiß muss man. Vor allem stoppen, muss man ihn. Egal, was stimmt, egal wer recht hat – er nicht. Und ja, es ist Wut, vielleicht Hass auf einer ganz persönlichen Ebene, den ich empfinde. Ich kenne mich nicht so aus mit Hass. Ich weiß, was für ein Privileg das ist.

Ich fantasiere über einen Stauffenberg unserer Zeit, einen Hitman, einen Agenten, der diesem Irrsinn ein Ende macht. Ob das nicht ebenso ein Verbrechen wäre, fragt mich mein kultivierter Anteil, und ob Auge um Auge und Zahn um Zahn jemals funktioniert hätte. Um Vergeltung zu erzeugen noch immer, um Frieden zu schaffen noch nie, gestehe ich mir ein. Selbstverständlich komme ich in in der Einsamkeit meiner Morgenrunde einmal in diesen Gedankenstrudel gestolpert nicht umhin, mich zynisch zu belächeln für meine Naivität in Sachen Krieg.

Hitmen gibt es nur in Computerspielen; allwissende Geheimdienste nur auf Netflix und Hacker, die mit drei Zeilen Code Kraftwerke herunterfahren nur in ZDF Vorabendserien; in Sachen IT ähnlich ahnungslos, wie ich in Sachen Krieg.

Aber Helden gibt es, gib es zu!, höre ich mich denken. Wolodimir Selenskij, höre ich mich denken. Und bevor ich mich für ja oder nein entscheiden kann, schießt mir durch den Kopf, wie verrückt das alles ist. Ich vermeide “das alles” in Texten, weil alles zu meinen sehr nahe an nichts zu meinen ist, aber hier stimmt es: Es ist “das alles”, das verrück ist.

Ich erinnere mich an einen Beitrag im Weltspiegel, der davon berichtete, dass ein Böhmermann-ähnlicher Schauspieler und Komiker allen Ernstes zur Präsidentschaftswahl in der Ukraine antreten würde, und dass man sich gar nicht so sicher sein könnte, ob das tatsächlich “allen Ernstes” sei. Und dass die erfolgreichste Rolle dieses Schauspielers die eines Lehrers ist, der durch die Verkettung unwahrscheinlicher Zufälle Präsidentschaftskandidat wird und später – gegen alle Wetten – tatsächlich Präsident. Und dass dieser Schauspieler später in der wirklichen Wirklichkeit Präsident wird. Und jetzt Held, in seinen ebenso authentischen wie inszenierten Auftritten im olivfarbenen Uniform-T-Shirt.

Ich erinnere mich an die ersten Berichte über Putins Truppenverlegung ins russisch-ukrainische Grenzgebiet und an die Überheblichkeit meines Denkens – vor nicht einmal zwei Wochen. Das wird er doch nicht machen, dachte ich. So dumm kann er nicht sein, dachte ich. Einen Krieg kann doch niemand wollen, das wäre doch Wahnsinn, das würden sich doch weder die Amerikaner bieten lassen, noch die Franzosen, noch wir, die Deutschen. Ich erinnere mich an die Bilder von Putin und Personen an seinem kafkaesk langen Marmortisch und wie ich bei mir dachte, dass damit ein Grad von symbolisierter Lächerlichkeit erreicht ist, der unparodierbar ist für Kunst oder Kabarett, in seiner wirklichen Wirklichkeit schon so dermaßen drüber.

Mir ist rückblickend peinlich, dass ich mir einen Einmarsch auch dann noch nicht vorstellen konnte, als Putin in drittklassiger Agenten-Film-Manier auf den fingierten Hilferuf der durch ihn finanzierten Separatisten mit übertrieben staatstragend inszenierter Anerkennung irgendwelcher fantasierten Republiken reagierte, nur damit diese erfundenen Republiken ihn und seine Truppen dann theatralisch um Hilfe in der Auseinandersetzung mit imaginierten ukrainischen Besatzern bitten konnten.

Mir ist unendlich peinlich, wie ahnungslos und träge ich geworden bin in meiner luxuriösen, westlichen Sicherheit; in einer überfressenen Sattheit, in der niemals irgendetwas Unvorhergesehenes passiert, erst recht nichts Gefährliches. Wie ich Frieden und politische Vernunft als gegeben genommen habe. Diese Denkfaulheit ist geradeheraus dumm! Wie könnte ich hier gnädiger mit mir sein, nachdem Trump passiert ist, während Höcke passiert und Bolsonaro. Ich schäme mich dafür, wie ich jetzt, nachdem der Krieg losgebrochen ist immer noch ungläubig und ratlos durch die surreale Idylle meines westberliner Stadparks stolpere.

Ich zwinge mich, konkret zu werden: Wie kann ich helfen? Was kann ich tun? Geld spenden, klar. Demonstrieren gehen, sicher. Kleidung und Hygieneartikel zur Berliner Stadtmission bringen, wie immer. Aber dringender, als unumkehrbar geschehenes Leid zu mildern, will ich ungeschehenes Leid verhindern helfen. Nur wie?

Ich musste noch zur Armee damals; die silberne Schützenschnur, die ich mir für Präzision am Maschinengewehr verdient habe, ist eine meiner beliebtesten Partyanekdoten. Aber doch bitte keine Option! Ich finde es ungeheuerlich, dass ukrainische Männer an der Ausreise gehindert werden, und man ihnen so nicht die Wahl lässt, ob sie vielleicht lieber feige Deserteure in den Augen todesmutiger Kämpfer sein wollen – als tot. Ich kann mir nicht vorstellen, für ein Land mein Leben zu riskieren, auch nicht für meins, auch nicht, obwohl ich mich vor dem Wort “Heimat” nicht fürche und vieles, für das sie steht aus vollem Herzen liebe. Mein Leben und den dumpfen Schlag meines Herzens liebe ich mehr. Und ich bin mir dessen so sicher, dass es mich nicht weniger interessieren könnte, was irgendwer dazu denkt oder sagt.

Will ich aber, dass andere in den Krieg ziehen, um die Ukraine zu verteidigen und ihre so mutige, clevere, listige, vor allem aber mutige Bevölkerung? Will ich, dass die Nato eintritt in diesen Krieg, und die stapazierte Erzählung eines dritten Weltkrieges von “eben noch unvorstellbar” auf “jetzt plötzlich Wirklichkeit” wechselt? Natürlich nicht, denke ich, was für eine Frage soll das sein? Eine durchaus legitime, wie ich feststelle, als ich mir die Alternativen ansehe. Die Ukraine hergeben? Sie opfern, samt ihrer so mutigen Bevölkerung? Hinnehmen, dass das Hirngespinst eines verletzten Mannes, der sein Ego nicht unter Kontrolle hat geopolitische, für 4 Millionen Ukrainer*innen aber vor allem ganz persönliche Wirklichkeit wird? Und dann aufrüsten, damit sich dergleichen wenigstens nicht wiederholt? Ich bin kein Politiker, ich muss das nicht entscheiden, denke ich. Das stimmt. Aber es macht mich nicht frei.

Ich mache ein Foto. Eines, dass für mich Belastung aber Hoffnung ausdrückt. Ob das alles ist, was ich tun kann? Was ich tun sollte? Ich weiß es nicht. Ich erfahre es gerade.

Volkspark Jungfernheide

Gelesen: Die subtile Kunst des darauf Scheissens von Mark Manson

Eigentlich – ich weiß, es ist ganz schlechter Stil, einen Artikel mit dem Wort “eigentlich” zu beginnen und für diesen Artikel passt das ganz hervorragend – eigentlich lese ich keine Ratgeber-Bücher. Ich bin schon im echten Leben sehr skeptisch gegenüber Menschen, die behaupten, sie wüssten, wie es geht. Für alle. Immer. Im echten Leben kann ich diese Menschen aber argumentativ stellen.

Manchmal legen solche Menschen aber Bücher aus wie Stolperfallen – und diese hat mich gekriegt. Der Titel ist catchy, herrlich zynisch, wunderbar entspannt und ein bisschen skandalös. So leicht bin ich zu kriegen.

Als ich ungefähr ein Viertel davon gelesen hatte, fragte mich eine Kollegin, wie ich das Buch finde. Das hätte mein Rettungsring sein können. Wenn du nach einem wirklich beschissenen, wirklich einsamen Tag in eine Bar stolperst, dich an den Tresen setzt und ein Bier bestellst und vor der unangenehmen Außenwirkung, allein in eine Bar gestolpert zu sein um dich einsam zu betrinken nur dadurch bewahrt wirst, dass dich dieser Cowboy-Typ anquatscht, dessen Lallen dir verrät, dass er sehr offensichtlich schon vor Stunden allein in diese Bar gestolpert ist um sich zu betrinken, und der, weil du selbst nur nickst oder den Kopf schüttelst um schneller trinken zu können, so richtig ins Labern kommt und aus der inneren Gulaschsuppe seines Lebens einen halbzerkauten Fleischklumpen nach dem anderen hochwürgt, um ihn jeweils mit einem Stengel frischer Küchen-Psychologisilie garniert vor dir anzurichten, und den du gewähren lässt, weil das Bier glücklicherweise trotzdem dreht und dich das Gelaber immerhin davor bewahrt, unangenehme Einsichten über dein eigenes beschissenes Leben zu haben, dann dürftest du dich ungefähr so fühlen, wie ich mich bei der Lektüre dieses Buches.

Gelesen: Die subtile Kunst des darauf Scheissens von Mark Manson weiterlesen

Reichsbürger, Corona-Leugner, Kommunisten: Keine Spur von Einheit in Berlin

Ich versuche jedes Jahr um den 3. Oktober durchs Brandenburger Tor zu laufen. Es ist eine Mischung aus Sentimentalität, Weil-ich-kann und ehrlicher Dankbarkeit. Ich bin in Leipzig geboren und war 10 als die DDR ein Teil der BRD wurde. Den Sozialismus in Wirklichkeit erlebt zu haben, habe ich oft als Bereicherung empfunden. Wenn andere nur ihre Ideale als Maßstab heranziehen konnten, um unser Gesundheitssystem oder unsere Regierung zu bewerten, hatte ich einen wenigstens groben Vergleich zu einem anderen, tatsächlich erfahrenen System.

Ebenso dankbar bin ich, dass ich die entscheidenden Weichen in meinem Leben nicht in einem System treffen musste, dessen Grenzen im Denken, Reisen, Träumen entlang des eisernen Vorhangs verliefen und nicht unerheblich vom eigenen Parteibuch und dem deiner Eltern abhängig waren.

Das Leben, das ich heute führe, wäre in diesem System nicht möglich gewesen. Ich pendle zwischen Hamburg und (West)-Berlin und bin abgesehen von einigen noch unerfüllten Reiseträumen wunschlos glücklich. Im globalen Vergleich lebe ich in einem sehr freien, sehr reichen, sehr verlässlichen Land und auch dafür bin ich sehr dankbar.

Mit dem alljährlichen Oktoberspaziergang durch Brandenburger Tor führe ich mir all das vor Augen. Gestern nun anlässlich des 30. Jubiläum der Wiedervereinigung. Es war gruselig.

Ein Bild des Bundestags, mit drei Zäunen geschützt.
Ein Bild des Bundestags, mit drei Zäunen geschützt.

Der Zugang zu den Stufen des Bundestags war mit 3 Zäunen und einem guten Dutzend Polizisten geschützt, im Hintergrund waren ungefähr ebenso viele Kleinbusse der Polizei geparkt – alle voll besetzt. Wir alle haben die Bilder der Corona-Leugner noch im Kopf, die den Bundestag bei einer ihrer letzten Demonstrationen zu stürmen versucht hatten. Ich kann daher also nicht sagen, dass diese Abschottung unnötig sei. Festlich oder wenigstens offen ist sie jedenfalls nicht.

Diskussionsrunde in Einmütigkeit: Aktivisten von Staatenlos.info.
Diskussionsrunde in Einmütigkeit: Aktivisten von Staatenlos.info.

Ein paar Meter weiter auf dem Weg zum Brandenburger Tor dann ein Party-Pavillon, zwei übersteuerte Boxen und eine Gruppe von 70 bis 100 Leuten, die wie ich versucht zu verstehen, was passiert. An einem großen Runden Tisch sitzen 7 Personen. Einer knabbert Nüsschen, einer raucht, eine trinkt Apfelsaft aus einem Plastikbecher, die anderen sitzen einfach dabei, einer hält ein Mikrofon und spricht. Obwohl ich da ein paar Minuten gestanden habe, habe ich Mühe wiederzugeben worüber. Deutschland sei nie entnazifiziert worden, niemals offiziell in einen Zustand des Friedens eingetreten, hätte als Land keine Legitimität, keine demokratisch gewählte Regierung, wäre dafür von völlig gleichgeschalteten Medien dominiert und von Geheimdiensten, Wirtschaftsinteressen und einem deep state unterminiert, den wir alle noch nicht erkannt hätten. Es ist wirr, es ist unbegründet, nirgends zu Ende gedacht und ich halte das nicht lange aus. In den Gesichtern der umherstehenden Polizist:innen versuche ich abzulesen, wie sie das so finden. Aber das sind Profis, ich lese gar nichts.

Corona beenden: Als ließe sich ein Virus wegdemonstrieren.
Corona beenden: Als ließe sich ein Virus wegdemonstrieren.

Als wir uns dem Brandenburger Tor nähern, hören wir schon von weitem einen Redner verkünden, dass alle Parteien im Bundestag – auch die AFD – der Abschaffung unserer Freiheit zugestimmt haben. Das Volk sei damit nicht mehr parlamentarisch repräsentiert, das gesamte Parlament entsprechend eine Farce. Hinter vorgehaltener Hand würden das sogar Mitglieder des Bundestages selbst so formulieren. Die Menge grölt. Wir sind in eine Demo aus Corona-Leugnern geraten. Es sind nicht viele, 200 vielleicht, aber sie schaffen es dennoch so etwas wie Flair – oder einigen wir uns lieber auf Stimmung – zu erzeugen. Eine Art gemeinsames Verständnis. Ich streife ein paar Minuten filmend durch die Masse. Es ist eng, also trage ich meinen Mund-Nasen-Schutz, mit dem ich natürlich auffalle. Aber ich werde in Ruhe gelassen. Ich will auch relativ schnell, relativ dringend meine Ruhe. Ich versuche einzuschätzen, wie weit die Staatenlosen ideologisch von den Corona-Leugnern entfern sind, aber ich komme zu keinem Ergebnis. Wie weit ist von Atlantis bis zum Bernsteinzimmer? Ich gehe weiter.

Auf der anderen Seite des Brandenburger Tores: Reichsbürger.
Auf der anderen Seite des Brandenburger Tores: Reichsbürger.

Auf der anderen Seite des Brandenburger Tores wurde es nicht besser. Aber immerhin weniger. Reichsbürger. Zwei Dutzend, vielleicht drei. Die Dichte an Reichsflaggen war hoch, die Dichte an Fakten in den Ausführungen des Redners eher gering. Was mir zum ersten mal so richtig klar wird: Hier herrscht Sehnsucht nach dem Kaiserreich. Die Staatenlos-Demonstranten wollen einen legitimen Staat, haben über dessen Form aber noch nicht nachgedacht. Die Corona-Leugner wollen gern zurück zu einem demokratischen Staat, in dem wir ihrer Wahrnehmung nach nicht mehr leben. Die Reichsbürger hier hielten nicht viel von Demokratie und wünschen sich allen Ernstes eine Monarchie zurück. Ich muss losprusten an einer Stelle und ernte böse Blicke. Wohl auch, weil ich munter fotografiere.

30 Jahre sind genug: Die FDJ will zurück zum Sozialismus.
30 Jahre sind genug: Die FDJ will zurück zum Sozialismus.

Ich laufe Unter den Linden Richtung Osten. Und ich muss nicht weit laufen, bevor ich die nächsten Lautsprecher plärren höre. Hinter einem Tross Polizeifahrzeugen nähert sich ein olivgrüner IFA W50 – DER LKW der DDR. Aus den auf der Fahrerkabine angebrachten Lautsprechern dröhnt ein russisch klingender Marsch. Dahinter ein Demonstrationszug aus Sozialisten & Kommunisten. Zum ersten Mal nach 30 Jahren sehe ich wieder das Logo der FDJ, der sogenannten Freien Deutsche Jugend. In der DDR war diese Jugendorganisation gar nicht mal so frei, sondern mehr oder weniger eine Pflichtveranstaltung für Jugendliche, in der neben gemeinsamen Freizeitaktivitäten natürlich auch politische Indoktrinierung im Sinne des Systems stattfand. Die sehr jung aussehenden Vertreter der heutigen FDJ finden, 30 Jahre BRD sei genug – wir bräuchten jetzt Revolution und anschließend Sozialismus. Auf einem Transparent lese ich “Euer Staatsbankrott wird unser Sieg sein” und frage mich – und wovon leben wir dann? Am Ende des Zuges tragen Menschen die Fahne der DDR mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz. Ich bin unsicher, wie ernst die das meinen.

Ich kann nicht mehr. Bin ich der Einzige, der unser System grundsätzlich in Ordnung, wenn auch nicht vollkommen gerecht, inklusiv, offen oder ungefährdet ist? Bin ich der Einzige, dem es angst macht, am Nationalfeiertag keine 300 Meter um die Wahrzeichen der Republik laufen können, ohne einer lautstarken Splittergruppe der Gesellschaft mit verqueren Ansichten in die Arme zu laufen? Ich plädiere nicht für Militärparaden oder Chemtrails in Nationalfarben, aber vielleicht irgendetwas? Wo demonstrieren die zufriedenen Demokraten? Wo sind die Stände der etablierten Parteien? Wo spricht Merkel?

Merkel spricht in Potsdam. Aber die zufriedenen Demokraten demonstrieren nicht. Nirgends. Vielleicht sind sie zu zufrieden.

Ein paar Notizen zu Moria

Das Leid von Moria hat sich wie ein Schatten auf mich gelegt. Ich fühle mich heuchlerisch, kaltherzig & faul. Hier gibt es frische Brötchen, ein Höckerchen vorm Sessel & Netflix. Dort trinken Menschen Abwasser, hungern & schlafen auf der Straße.

Selten habe ich mich so wenig von dieser repräsentativen Demokratie repräsentiert gefühlt wie jetzt. Selten war das so wenig mein Europa. Selten habe ich mich so sehr vor dieser abwägenden, rationalisierenden, politischen Sprache geekelt.

Ein paar Notizen zu Moria weiterlesen

Über dem Shoppen vorangezwungene Pausen

Ich bin stehengeblieben, um zu glotzen, zu staunen und zu fotografieren; anderen war es keinen flüchtigen Blick wert. Vorm Laden von Bershka im Alexa Shopping Center in Berlin steht eine Schlange von circa 40 Personen, die darauf warten, eingelassen zu werden. Ich war noch nie in einem Bershka-Laden, vielleicht sind die besonders. Und bestimmt gäbe es keine Schlange, wenn nicht Pandemie wäre. Aber trotzdem:

Wie muss man als Person 39 und 40 drauf sein? Wie übersteht man die, ich weiß nicht, 15 oder vielleicht 20 Minuten in der Schlange, ohne vom Eindruck der eigenen Beknacktheit überwältigt zu werden und sich elegant aber zügig wieder in den Strom der am Laden Vorbeieilenden einzureihen und zu verschwinden? Wie kann man es schaffen, in dieser dem Shoppen vorangezwungenen Pause nicht innerlich einzukehren und zu sich zu kommen? Zu reflektieren über Sinn oder Unsinn des anstehenden Konsums, wenn nicht gar der eigenen Existenz?

Über dem Shoppen vorangezwungene Pausen weiterlesen

Surreal normal

Ich wache auf; die Birke und die Sonne sind schon mitten im Schattenspiel, der Position des Schattenspiels auf dem Kleiderschrank nach zu urteilen, ist es ungefähr 8. Mir fällt ein, das Sonntag ist: yay, denke ich, bleibe liegen und tue nichts. Ich lasse mich in meine Gedanken fallen; vorsichtig anfangs, dann mutiger und stelle nach 10, 12 Gedanken zufrieden fest: alles normal. Mir sind diese Momente kostbar geworden. Wann immer ich einen Moment normal erwische, bleibe ich so lange es geht.

Als der Moment vorbei ist, greife ich mein Tablet, öffne die Berliner Zeitung und lese diesen Artikel:

Gegen Corona: Polizei löst Querfront-Demo in Berlin auf

Surreal normal weiterlesen

Fremde Hündin, ferne Hündin

Mit jeder weiteren Person, die ich in der Schlange vor dem Bäcker entdecke als ich um die Ecke biege, blase ich die Backen ein bisschen weiter auf; dann fällt die Genervtheit zu einem Lächeln zusammen. Ganz am Ende der um zwei Meter pro Person zu langen Schlange sitzt ein Hund. Es ist dieser rotschwarzweiße mit den spitzen Ohren und den eleganten, schmalen Pfötchen. Ich bin ihm gestern schon begegnet auf meiner Morgenrunde, aber er durfte nicht zu mir. Jetzt ist er dort am Fahrradständer angebunden, wo ich stehen muss; wo ich selbst dann stehen müsste, wenn ich mich über die Nähe nicht freuen würde. Er freut sich auch. Er wedelt mit seinem buschigen Schwanz als ich ihn anlache; steckt mir den Kopf zwischen die Knie, als ich mich zu ihm hocke; streckt sich, als ich ihm den Hals kratze; legt sich auf den Rücken, damit ich ihr die Brust graulen kann.

Fremde Hündin, ferne Hündin weiterlesen

Zurzeit wachsen lassen

Ich liege in der Wanne, den Kopf so tief im Wasser, dass meine Nase eine Insel bildet und versuche, Noten von feinstem Zitronen-, Mandarinen-, und Orangenöl zu unterscheiden. Diese Badekugel soll all das bieten; ich rieche nur Vanille. Vordringlicher als die Wahrnehmungen meiner Nase sind aber die meiner Haut: Dass Wasser ist warm und weich und ich bin warm und weich und ich könnte – solange ich mich nicht bewege – nicht sagen, wo das eine aufhört und das andere anfängt; ebensowenig, wie ich zurzeit – solange nicht Wochenende ist – sagen könnte, wann welcher Tag anfängt oder endet, oder warum das wichtig sein könnte.

Ich stehe auf, ich laufe, ich mache Yoga, ich meditiere. Ich arbeite, ich esse, ich arbeite, ich esse. Ich laufe, ich sehe einen Film, ich bin müde, ich schlafe. Dann stehe ich wieder auf.

Zurzeit wachsen lassen weiterlesen

Radius

Ich soll nur noch rausgehen, wenn ich muss, aber obwohl ich mich zusammenreiße so gut ich kann, ist mein Müssen ein anderes als dasjenige, das die Kanzlerin neulich im Fernsehen erklärte.

Ich muss jeden Tag, ich kann sonst nicht schlafen, weil die Muskeln in meinen Beinen nachts zu zucken anfangen – um ihren gerechten Anteil betrogen.

Ich bekomme ein Gefühl von Radius. Wie ein auf einer Wiese an einem Seil angepflocktes Schaf.

Nicht bloß, dass ich nur soweit von meiner Wohnung weggehen kann, wie ich im Stande und gewillt bin zu Fuß zurückzugehen, sondern auch, dass ich da schon überall war, hunderte Male, dass ich jeden Halm kenne und jede Wurzel, gut genug, um nicht mehr darüber zu stolpern.

Radius weiterlesen

Landtag in Thüringen: Bloß keine Angst vor der AfD

Ich habe ein paar Tage gebraucht, die Ergebnisse der Landtagswahl 2019 in Thüringen zu verdauen. Die Linke stärkste Kraft. Die sogenannte AfD ihr dicht auf den Fersen. Die CDU abgeschlagen auf Platz 3. Alle anderen Parteien unter ferner liefen. Und nu?

Landtag in Thüringen: Bloß keine Angst vor der AfD weiterlesen