Meisterschüleraustellung der HGB Leipzig: Kuratieren mit dem Cuttermesser

Ich gestehe: Mein Blick ist nicht unvoreingenommen. Diese Vergabe der Meisterschülerzeugnisse hätte meine sein können. Sie war es nicht, weil ich das Meisterschülerstudium geschmissen habe. Das Gefühl, nicht mehr an diese Hochschule zu gehören, war zu überwältigend.

Und dennoch glaube ich nicht, dass es nur mein starker persönlicher Filter war, der mich bei der Eröffnung der Meisterschülerausstellung heute Abend hat Dinge entdecken lassen, die mit bisschen Sekt im Kopf skurril, nüchtern betrachtet aber unerträglich sind.
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10 Sätze über Nebeneinkünfte von Politikern

Der Versuch, Peer Steinbrück nach seiner Kür zum SPD-Kanzlerkandidaten wegen sehr üppiger Vortragshonorare zum käuflichen Jubelbarden seiner Auftraggeber zu degradieren, ist unanständig, populistisch und irreführend. Deutschen Politikern ist es ausdrücklich gestattet, sich Nebeneinkünfte in beliebiger Höhe zu organisieren, solange sie diese bestimmten Regeln folgend offenlegen – was Peer Steinbrück stets fristgemäß und einwandfrei getan hat. Das Problem ist also, dass Steinbrücks Verhalten eigentlich kein Problem ist.

Wie mir die Fabeln Gauselmann und die FDP, Gerhard Schröder und Gazprom oder auch Mario Draghi und Goldman Sachs lehrten, hat die Bezahlung von Politikern durch Unternehmen nämlich immer ein Geschmäckle, und zuweilen ein unerträglich fauliges.

Dabei ist es weniger kompliziert, als es scheint: Wenn wir möchten, dass die hellsten und kompetentesten Köpfe unserer Zeit Karriere inder Politik und nicht in der Wirtschaft machen, müssen wir ihnen Diäten zahlen, die mit den Gehältern in der freien Wirtschaft mithalten können, auch wenn das teurer wird als bisher. Im Gegenzug dürften wir dann aber erwarten, dass diese von uns gewählten und bezahlten Politiker für uns arbeiten – und für niemanden sonst. Soweit ich das verstanden habe, sind Parteivorsitzender, Minister und sogar Abgeordneter ohnehin Full-Time-Jobs die – sofern man sie gewissenhaft ausfüllen möchte – gar keine Zeit für Nebentätigkeiten lassen.

Zur Vermeidung von Interessenkonflikten und Korruptionsvorwürfen sollten wir Politiker wenigstens für die Dauer ihrer Mandate dazu verpflichten, auf jegliche Nebeneinkünfte zu verzichten. Das freilich werden wir nie tun – denn wer sollte es in unserem Namen beschließen?

Warum ich sehr wohl etwas zu verbergen habe

„Ich habe doch nichts zu verbergen.“

Dieser Bereich wird videoüberwacht.
Dieser Bereich wird videoüberwacht.

Dieser Satz begleitet mich treu. Er fällt in Diskussionen über Onlinedurchsuchung und Bundestrojaner. Er fällt in Debatten über die Vorratsdatenspeicherung. Wenn es um INDECT geht. Um Fingerabdrücke im Pass und biometrische Fotos. Ich kenne ihn seit meiner Kindheit in einer Wohnanlage der DDR-Volksarmee.

Er fällt immer am Ende des Gesprächs, jedenfalls am Ende des vernünftigen Teils. Ab hier wird’s grundsätzlich, anstrengend und erfahrungsgemäß sowieso nichts mehr. Ich stehe auf, rufe „Bullshit-Bingo!“ und wechsle Thema oder Gesprächspartner. Das ist arrogant und destruktiv. Ich fürchte mich vor schlechtem Karma. Zur Selbstkasteiung werde ich jetzt in ruhigem Ton zu erklären versuchen, warum ich sehr wohl etwas zu verbergen habe.
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Können Deutschlandfähnchen jemals unpolitisch sein?

Die gnadenlose Beflaggung von Gegenständen und Personen anlässlich beliebiger Fußball-Turniere wuchert. In diesem Jahr habe ich erstmals schwarz-rot-goldenes Augen-Make-up und nationalfarbene Dessous wahr genommen. Ich wundere mich.

In meiner Kindheit waren die Straßen zum ersten Mai mit Landesfahnen geschmückt. Am Tag der Arbeit hatte jeder seiner Liebe und Treue zum Arbeiter-und Bauernstaat Ausdruck zu verleihen. Das war oft unauthentisch, aber immer politisch. Sehe ich heute eine Deutschlandfahne im öffentlichen Raum, denke ich zuerst an: Fußball.
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Peta: Why too much sex can be a bad thing

Angekündigt war es schon lange, nun ist es soweit: Peta hat die Webseite peta.xxx live geschalten und unterhält damit eine eigene Präsenz im für Hardcore-Pornografie reservierten Kreis der Top-Level-Domains. Aufmacher der Seite sind Videos, in denen sich drei Ausnahmepornosternchen  halbnackt in Fotoshootings für Peta-Kampagnen räkeln (von denen ich eine schon an anderer Stelle besprochen habe). Dazwischen gibt’s Interviewsequenzen, in denen sie für die Kastration von Hunden und Katzen aussprechen. Begründet wird das mit folgender Gedankenkette:

  • Nicht kastrierte Haustiere vermehren sich unkontrolliert
  • überflüssige Haustiere werden ausgesetzt
  • ausgesetzte Haustiere werden entweder von Wildtieren getötet oder müssen eingeschläfert werden
  • dieses Leid kann nur verhindert werden, in dem man Hunde und Katzen kastriert

Kurios finde ich, dass die Haltung von Haustieren grundsätzlich nicht in Frage gestellt wird, obwohl Peta das ansonsten tut. Stattdessen wird in einem Video sogar mit einer lebenden Schildkröte posiert, die ängstlich zu fliehen versucht. Ebenso wenig wird in Betracht gezogen, dass die Kastration auch leidvoll für ein Tier sein kann (wie ich hier herausgefunden habe). Stattdessen argumentiert Ron Jeremy eher mittelmäßig wissenschaftlich:

  • Hunde zu kastrieren macht sie kein bisschen weniger männlich.
  • Kastrierte Männer wären aber sehr wohl weniger männlich als unkastrierte.
  • Männer, die männliche Hunde wollen, sind wahrscheinlich klein und fahren große Autos. (Jawohl, allen Ernstes.)

Sehr amüsant finde ich, wie Peta auf der übrigen Seite mit gängigen Pornografie-Klischees kokettiert. In der Rubrik Sexy Photos finden sich Bilder von Demonstrationen halbnackter Aktivistinnen sortiert in die Bereiche In Public, In Showers, In Cages, und With Food. Im Kapitel Hardcore Videos zeigt Peta schockierende Filme aus Tierfabriken, Schlachthöfen und Versuchslaboren. Und auf der Seite Sex Tips wird über die aphrodisierende Wirkung veganer Lebensmittel schwadroniert. Vieles ist aus anderen Kampagnen recycelt, weshalb die Seite ein bisschen zusammen geschustert wirkt.

Begründeter Sexismus

Neu ist, dass Peta ausführlich darauf eingeht, warum sie auch auf sexistische Propaganda zurückgreift, um für Tierschutz und Tierrechte zu sensibilisieren. “Jeder sollte die Freiheit haben seinen Kopf und seinen Körper als politisches Instrument zu verwenden.”, heißt es. Daher will sie ausdrücklich jeden Kanal nutzen um die eigene Botschaft zu verbreiten. Außerdem erklärt Peta, dass sie (anders als ihre industriellen Gegner) nicht über die finanziellen Mittel verfügt, um mit politisch korrekter Werbung die entsprechende Aufmerksamkeit zu erzielen. Deshalb sei sie auf die virale Verbreitung der oft günstig produzierten Spots angewiesen. Die ist durch die zuverlässig aufbrausende Welle der Empörung nach jedem sexistischen Tiefschlag garantiert. Nach wie vor gilt: Sex sells. Was auch dadurch bewiesen ist, dass ich diesen Beitrag schreibe und Du ihn liest.

Erwartungsgemäß fehlt der Seite jegliche kritische Auseinandersetzung mit Pornografie. Diese ist aber gerade bei den Protagonisten der Seite durchaus angebracht bitternötig.

Sasha Grey drehte zwischen ihrem 18 und 21 Lebensjahr einhundertneunundachtzig Hardcore-Pornofilme, die sich allesamt dadurch auszeichnen, dass sie neue Maßstäbe in Sachen sexueller Erniedrigung und Brutalität setzen. Angezogen kann man Grey in einer Aufzeichnung der Tyra-Banks-Talkshow erleben, die meiner Meinung nach Bände über ihren psychischen Zustand spricht.

Jenna Jameson wurde im alter von 16 Jahren von vier betrunkenen Männern mit Steinen niedergeschlagen und vergewaltigt und darüber hinaus von ihrem Onkel sexuell missbraucht. Sie und ihre Therapeuten finden, dass das mit ihrer Pornofilmkarriere rein gar nichts zu tun hat.

Ron Jeremy hält mit eintausendsiebendhundertfünfzig Sexfilmen den offiziellen Guinness-Rekord für die größte Anzahl an Auftritten in Pornos. In seiner Karriere hat er mit über 4.000 Frauen geschlafen, darunter eine 87-jährige Seniorin. In seiner Autobiografie und zahlreichen Interviews gibt er an, sehr darunter zu leiden, von aller Welt nur auf seinen 24,5 cm langen Penis reduziert und von niemandem ernst genommen zu werden.

Und die Tiere?

Ich behaupte, dass alle drei Akteure sehr erhebliche seelische Verwundungen erlitten haben. Wenn ich sie sprechen höre, empfinde ich mehr Mitgefühl für sie als für die geschundenen Tiere, deren Leid sie zu mildern versuchen. Alle drei führen geradezu auf, wie kaputt Pornografie ihre Akteure macht. Wenn sie dann den pseudosexiesten aller Schlafzimmerblicke aufsetzen und “Sometimes, too much sex can be a bad thing.” hauchen, läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken.

Der mit Tierleid rein gar nichts zu tun hat.

2 Millionen Tonnen Fleisch in 91 Tagen

“Im ersten Quartal 2012 wurden in Deutschland 2 Millionen Tonnen Fleisch in gewerblichen Schlachtbetrieben erzeugt.”

Bravo! Das Statistische Bundesamt muss einen sachlichen und neutralen Ton für seine Pressemitteilungen wählen, auch für jene zur jüngsten Entwicklung der Fleischproduktion in Deutschland. Beim oben zitierten Satz ist dies einwandfrei gelungen. Auf den ersten Blick. Heftet man ihn aber nicht schnell genug in den Ordner “Zur Kenntnis genommen” weg, brechen seine Worte auf wie Knospen:

Das ist Literatur! Wie arglos diese fünfzehn Worte daherzukommen versuchen und welche Schlagkraft ihnen doch eigen ist! Wie viel Zeitgeist, wie viel Ideologie und wie viel Kälte darin steckt! Wie präzise der Konsens-Schleier beschrieben ist, den wir kollektiv über Grausamkeiten drapiert haben!

Ich habe Mühe, sachlich zu bleiben und kann mir eine kleine Demontage leider nicht verkneifen.
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10 Sätze über das sinkende Schiff

Viel Zeit habe ich in den letzten Tagen damit verbracht, Fotos des auf Grund gelaufenen Kreuzfahrtschiffes Costa Concordia anzustarren, schamhaft angesichts dessen, was ich dabei empfinde.

Costa Concordia
CC darkroom productions/ Flickr

Die Havarie hat elf Menschen das Leben gekostet, weitere einundzwanzig werden augenblicklich noch vermisst. Fast zweieinhalbtausend Tonnen Schweröle im Rumpf des Schiffes drohen auszulaufen und eines der letzten europäischen Walschutzgebiete zu zerstören. Die vierhundertfünfzig Millionen Euro, die da mit fünfundsechzig Grad Schlagseite im Wasser liegen, sehen ihrer Verschrottung entgegen.

Trotzdem sprüht das Bild des gekenterten Riesenkreuzers in meinen Augen vor Poesie, ist eine Metapher unserer Zeit, ein Icon unserer Hybris, ein Mahnmal.

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Zu Tode rationalisiert

Am späten Nachmittag des letzten Freitags öffnet die 32-jährige Stephanie, Mitarbeiterin der Mahnabteilung von France Télécom, das Fenster an ihrem Arbeitsplatz im 4. Stock des Bürogebäudes in der Pariser Rue Médéric und stürzt sich vor den Augen ihrer Kollegin auf die Straße. Einige schreckten erst auf, als sie den Aufprall des Körpers auf der Straße hörten. Stephanie ist nicht sofort tot – eine Kollegin versucht sie mit einer Decke zu wärmen und bei Bewusstsein zu halten – zwei Stunden später erliegt die junge Frau jedoch im Krankenhaus ihren schweren Verletzungen.

Am letzten Mittwoch holt ein Störungstechniker im südwestlich von Paris gelegenen Troyes während einer Konferenz  mit anderen Mitarbeitern des Unternehmens ein Messer aus der Tasche und rammt es sich in den Bauch. Er überlebte schwer verletzt.

Vorgestern Abend wurde eine weitere Angestellte der Firma in ihrem Haus in Metz nahe der Deutschen Grenze von Angehörigen bewusstlos aufgefunden, nachdem Sie eine Überdosis Schlafmittel eingenommen hatte. Auch sie hat überlebt.

Insgesamt haben sich in den letzen anderthalb Jahren 23 Mitarbeiter von France Télécom das Leben genommen. 12 weitere überlebten ihre Suizidversuche.

Als Reaktion setzte der französische Arbeitsminister Darcos am Dienstag einen Behördenvertreter zur Überwachung der Gesundheitssituation bei dem Telekommunikationskonzern ein und traf sich heute mit France Télécom-Chef Didier Lombard um nötige Maßnahmen zu besprechen. Psychisch labile Mitarbeiter sollen nun Zugang zu betrieblich organisierter psychologischer Betreuung erhalten – per Telefonhotline. Weiterhin sollen 100 Personalreferenten eingestellt werden, die die angespannte Lage im Unternehmen analysieren und entspannen sollen. Außerdem soll der massive Umbau des Unternehmens bis Ende Oktober auf Eis gelegt werden. Das alles kann man hier, hier oder hier nachlesen.

Selbstverständlich versucht die Konzernleitung die Situation herunterzuspielen, in dem sie beispielsweise darauf hinweist, dass sich die unternehmensinterne Selbstmordrate statistisch gesehen im normalen Bereich bewegen würde. Außerdem heißt es, dass es sich bei den tragischen Todesfällen grundsätzlich zuerst um persönliche und nicht um betriebliche Dramen handele. Stephanie zum Beispiel, habe psychische Probleme gehabt, wie Personalchef Olivier Barberot dem “Journal du Dimanche” erklärte. "Sie hat 2008 nur 58 Tage gearbeitet und hat in diesem Jahr an 61 Tagen gefehlt. Wir haben reagiert, indem wir ihre Arbeitsbelastung reduziert haben." In den Tod sprang sie allerdings, nachdem sie erfahren hat, dass sie einen neuen Vorgesetzten bekommen soll.

Der Störungstechniker habe ebenfalls überreagiert. Seine Stelle sei zwar weggefallen, ihm sei aber eine vergleichbare Position an anderer Stelle im Unternehmen angeboten worden.

Eine andere Sprache sprechen die Abschiedsbriefe, die einige Mitarbeiter hinterlassen haben. In einem heißt es, dass die mit der Versetzung in einen Vorort von Straßburg verbundene Ferne zu Heimat und Familie unerträglich sei. Ein anderer beschreibt, dass die neue Technik am Arbeitsplatz einfach nicht unter Kontrolle zu bringen wäre. In einem dritten öffentlich gewordenen Brief heißt es wörtlich:

Ich habe mich wegen meiner Arbeit bei France Télécom umgebracht. Das ist der einzige Grund.
Dauernde Dringlichkeit, überlastet von der Arbeit, das Fehlen von Ausbildung, die totale Desorganisation des Unternehmens. Ein Management, das über Terror funktioniert.
Das hat mich selbst völlig durcheinandergebracht und verstört. Ich bin zum Wrack geworden, es ist besser, dem ein Ende zu setzen.

"Es handelt sich nicht nur um persönliche Dramen", sagte der Vorsitzende der Arbeitnehmerorganisation CFDT, François Chérèque am Montag. "Wir haben hier ein Unternehmen, dessen einziges Ziel es ist, Cash und Knete anzuhäufen, und dabei verlangt man von den Beschäftigten immer mehr Rentabilität".

Tatsächlich werden enorme Anstrengungen unternommen, den ehemaligen Staatskonzern fit für den internationalen Wettbewerb zu machen. So wurden in den vergangenen Jahren 22.000 Stellen abgebaut, weitere 7.000 Mitarbeiter wurden versetzt, weil das Unternehmen zahlreiche kleinere Niederlassungen geschlossen hat und immer noch schließt um sie in größeren zu bündeln. Dieser Stellenab und –umbau ist offenbar noch längst nicht beendet: "Alle Angestellten erhalten regelmäßig per Mail Angebote, das Unternehmen zu verlassen", sagt Philippe Meric von der Gewerkschaft SUD. "Die Manager haben Vorgaben, die Mitarbeiter zu ermuntern, zu gehen."  Erreichen sie dieses Ziel, erhalten sie eine entsprechende finanzielle Belohnung.

Dementsprechend überrascht es niemanden, dass die Krankheitsquote im Unternehmen im letzten Jahr um sieben Prozent gestiegen ist.

Letzten Donnerstag nun demonstrierten zahlreiche Angestellte gegen die in ihren Augen unerträglichen Arbeitsbedingungen. Auf Transparenten bezeichneten sie diese als “terreur” und forderten: "Stoppt das Leiden bei der Arbeit".

France Télécom ist sicher das deutlichste, längst aber nicht das einzige Beispiel für regelrechte Selbstmordwellen in französischen Unternehmen. Vor zwei Jahren, gab es in den Entwicklungsabteilungen der Autokonzerne Renault und PSA ebenso eine Reihe von Suizidfällen binnen kurzer Zeit.

Mich macht das betroffen und sehr ratlos. Ich selbst arbeite für eine international agierende Bank und weiß, dass die Maschine Erwerbsarbeit gierig ist und man sich sehr gut an seinen privaten, moralischen, ideellen Wurzeln festhalten muss um nicht im sich selbst immer weiter rationalisierenden Räderwerk verloren zu gehen. Oft liest man vom “Kapitalismusbergwerk” oder vom “Hamsterrad”. Psychische Erkrankungen nehmen auch hierzulande zu, das Burn-Out wird zur neuen Volkskrankheit. Und ich verstehe nicht ganz, warum.

Natürlich: Arbeitspensum und –komplexität steigen immer weiter, die Globalisierung und vielleicht auch die Gier zwingt Unternehmen Prozesse immer effizienter und rationeller zu arbeiten, und noch immer Leben wir in einer Gesellschaft, in der sozialer Status direkt von der Teilnahme am oder dem Ausgeschlossensein vom Erwerbsleben abhängt.

Fraglich ist doch aber, wie hoch der Druck, wie stark der “terreur” und wie aufgerieben und ausgebrannt das Nervenkostüm eines Menschen sein muss, damit er direkt durchs offene Fenster am Arbeitsplatz in den Tod springt. Welchen Stellenwert hat die berufliche Stellung für so einen Menschen? Und wie konnte sie so bedeutungsvoll, so wichtig werden, dass sie über Leben und Tod entscheidet?

Hätte die einer Kündigung folgende Arbeitslosigkeit wirklich das Ende aller Möglichkeiten bedeutet? Hätte es nicht die Möglichkeit gegeben, sich einen anderen Arbeitgeber zu suchen?

Selbstverständlich kann ich mir kein Urteil über die 23 Verstorbenen erlauben. Aber an diesem Beispiel wird so deutlich wie selten, dass das Konzept von Erwerbsarbeit als Sinnstifter, als Lebensinhalt, als Maßstab für Erfolg oder Misserfolg eines Menschenlebens nie angemessen war und sich selbst überholt hat. Die Frage die jetzt kommt ist noch schwieriger:

Wofür leben wir eigentlich?

Wenn es nun aber so ist, dass die Erwerbsarbeit zum Lebensinhalt vieler geworden ist, was ja nicht zuletzt auch darin begründet liegt, dass sie vielerorts den Löwenanteil der Lebenszeit und –energie beansprucht, dann muss man fragen, was aus ihr geworden ist bzw. was aus ihr wird: Wenn die Arbeit verlangt, dass sich der einzelne über sie definiert, muss sie ihn auch wertschätzen.

 

Quellen: Nouvel Obs, Le Point, Die Welt, Telepolis

Der Steinmeier-Effekt

Eines vorweg: Bisher habe ich in meinem Leben genau zwei Mal SPD gewählt. Einmal, weil ich den örtlichen Oberbürgermeister, der sich erneut zur Wahl stellte kannte und mochte. Und einmal, weil ich zwischen der charmanten wenn auch eitlen Dynamik eines Gerhard Schröder und der behäbigen wenn auch soliden Dümpelei eines Helmut Kohl zu entscheiden hatte. Vielleicht sind wir hier schon am Kern des Problems: Ich habe in beiden Fällen Personen gewählt, keine Parteien.

Ganz offensichtlich ist das keine meiner persönlichen Unarten sondern durchaus ein allgemein-gesellschaftliches, zumindest aber deutsches Phänomen. Ich kenne keine Prognose, die irgend einen Zweifel daran ließe, das Angela Merkel die kommende Bundestagswahl haushoch gewinnen werde. Nicht die CDU. Sondern ihre Vorsitzende. Die Kanzlerin. Angie. Die Deutschen mögen sie. Und wollen, dass sie bleibt.

Frank-Walter Steinmeier ist furchtbar unsympathisch. Finde ich. Und damit scheine ich nicht allein zu sein. Abgesehen von der Wahl ihres Kanzlerkandidaten hat die SPD nämlich alles richtig gemacht:

In ihrem67-seitigen Deutschland-Plan formuliert sie klare Visionen. Natürlich: Die Hoffnung auf Vollbeschäftigung in Deutschland ist keine hehre Vision, auch kein verführerisches Wahlkampfversprechen sondern schlichtweg albern. Davon abgesehen aber, durchaus respektable Ziele: Staatsinvestitionen wann immer möglich in ökologisch verträgliche, wenn nicht gar regenerative Projekte. Klare Regulierung der Finanzmärkte. Konkrete Zielmarken zur Gleichbehandlung von Frauen. Ein evidentes Konzept zur Breitbandversorgung von ganz Deutschland bis 2010 usw. usf.

Die CDU hingegen bleibt – und das ist auch überall zu lesen – schwammig und ungefähr. Ihr Regierungsprogramm ist dermaßen konsensfähig, dass ich persönlich große Mühe habe, mir ein beherztes Gähnen zu verkneifen. Keine konkreten Zahlen, keine genauen Termine, keine Fakten anhand derer man in vier Jahren prüfen könnte, wie viel die Versprechungen wert waren. Und das zügig zusammengeflickschusterte Konzept von Shooting-Star zu Guttenberg, das als prompte Reaktion auf Steinmeiers Plan gespielt werden sollte, wurde jetzt kurz vor knapp zurückgezogen.

Davon abgesehen spielt die Kanzlerin das alte Spiel, das keine so gut beherrscht wie sie: Aussitzen und Abwarten. Sie lässt sich auf keinerlei unangenehme Konfrontation ein, ignoriert den politischen Gegner anstatt mit ihm zu streiten und tut so, als sei überhaupt gar kein Wahlkampf. Vielleicht nicht die schlechteste Strategie. Spannend ist aber, das man dieses Verhalten einer Angela Merkel als ruhige Hand, Konzentration auf wesentliche tagespolitische Aufgaben oder sicheres Fortschreiten des eingeschlagenen Führungskurses auslegt, während man einem Frank-Walter Steinmeier an ihrer Stelle Feigheit, Konzeptlosigkeit oder Farblosigkeit unterstellen würde.

Hier sind wir schon wieder am Kern des Problems: Frank-Walter Steinmeier ist furchtbar unsympathisch. Und langweilig. So sehr, dass sein Townhall-Meeting nur von halb so vielen Zuschauern verfolgt wird, wie das der Kanzlerin vor einigen Wochen. Und sogar so sehr, dass dem Medienjournalisten Niggemeier, den die ganze Angelegenheit ja nun von Berufswegen interessieren sollte, der Kopf im plötzlich einsetzenden Tiefschlaf auf die Tischplatte zu schlagen droht.

Selbstverständlich hat die SPD Fehler gemacht. Kurt Beck zum Beispiel. Oder Matthias Platzeck. Oder die Reanimierung von Müntefering inklusive der lächerlichen Umzugskisten-Entgleisung und dem Märchen von den egalen Arbeitslosen. Trotz allem ist mir schleierhaft, warum sie vom Wähler dafür so hart bestraft wird. “Mit der Agenda 2010 hat sie ihre Klientel verprellt.”, lautet eine gern gewählte Standard-Antwort. Na schön. Mag sein. Aber ebenso gut hätten die Grünen ihre Klientel mit dem Ja zum Afghanistan-Einsatz vor einigen Jahren oder dem rassistisch-sexistischen Wahlplakat-Totalausfall von neulich  in die Flucht schlagen können, der zwar heute zurückgenommen wurde, aber eben nicht ungeschehen gemacht werden kann. Ist aber nicht passiert.

Der Umgang mit der SPD ist ungerecht. Das liegt an Steinmeier, an der stillen, aber  transmedialen Übereinkunft dass die SPD nunmal dieses Jahr das Opfer ist und daran, dass niemand 67-seitige Programme lesen möchte, wenn er sich aus Erfahrung ohnehin nicht mehr daran zu glauben traut.

Effizienzprogramm

Am Anfang war das wie Versteckte Kamera. Ich war der Lockvogel. Ich hatte mir eine lustige Verkleidung angezogen, in der man mich nicht erkennen konnte und meine Aufgabe war es nun, den armen Opfern etwas weißzumachen, dass ziemlich absurd, ziemlich unerhört und auch ein bisschen lächerlich war. Im Unterschied zur Versteckten Kamera gab es bei mir aber keine Kamera und auch keine Auflösung. Und witzig war es auch nur kurz.

Das Situation ist folgende: Ich verdiene mein Geld in einer Bank. Ich mach das nur Teilzeit und nur, um das, wofür ich eigentlich lebe finanzieren zu können. Und ich halte das nur aus, weil ich an Tagen wie diesem auch in Flip-Flops und kurzen Hosen da hingehen darf und die Kollegen einander Witze erzählen und wann immer jemand Geburtstag hat dessen Arbeitsplatz so aufwändig und liebevoll dekorieren, dass zum Arbeiten eigentlich kein Platz mehr ist.

Einige meiner Freunde wundern sich, wie ich das mache und auch warum, weil mein Job nun mal in einer Inkasso-Abteilung situiert ist, in der es zuweilen durchaus hart und kalt und unangenehm zugeht. Sie finden, ich verschwende mein Potential und riskiere abzustumpfen und in jenem gefürchteten Hamsterrad zu landen, aus dem man nie wieder rauskommt. Andere Freunde wiederum, klagen mir nach Feierabend (meinem!) ihr Leid darüber, dass es wahnsinnig schwierig ist, sich seinen Tag zu organisieren, wenn man nichts muss, und dass man von dem bisschen Almosen, das einem der Staat zur Verfügung stellt unmöglich leben kann. Sie finden, ich habe es wirklich gut getroffen, mit meiner vorgegebenen Tagesstruktur und meinem gesicherten Ein- oder Auskommen. Ich finde beide haben recht und kann mich nicht entscheiden.

Letzte Woche nun war ich zum ersten Mal auf Tour. In einer Filiale. „Draußen“, wie es im Bankdeutsch heißt. Meine Aufgabe war, Kundenbetreuerinnen, die seit 30 Jahren im Finanzvertrieb tätig sind zu erklären, wie genau sie unsere Kredite verkaufen müssen und dass es künftig bitte dringend mehr sein müssen als bisher, ohne mir anmerken zu lassen, dass ich eine ahnungslose Teilzeitkraft bin, die in den Job nur reingerutscht ist, weil sie zur falschen Zeit im falschen Call-Center gearbeitet hat und übermütig war. Und die sich in Wirklichkeit weder für Kredite, noch für Kreditkarten, noch für Geld, nicht mal für Zahlen insgesamt interessiert.

Ich mag Herausforderungen. Diesen Satz Bankdeutsch habe ich so verinnerlicht, dass ich ihn mir mittlerweile selbst glaube. Außerdem hatte ich letzte Woche im SSV einen modernen Anzug für nur 60 € ergattert, der mir bei der Anprobe für eine Freundin das zweifelhafte Kompliment „fieser Bürohengst“ bescherte. Zu guter Letzt gelang es mir, das Auswendiglernen jeder einzelnen Präsentationsseite in diesem bibeldicken Vorbereitungsordner als geistigen Fitnesstest zu begreifen, den ich mit Bravour bestand. Dementsprechend war ich voll auf der Überholspur in meinem gemieteten schwarzen Ford Focus mit abgedunkelten Scheiben und Heckspoiler.

Trotzdem ging es irgendwie schief. Und ich wusste, dass es schief gehen würde, in der Minute, in der sich der solariumbraune, perlweißlächelnde Filialleiter mit seiner goldberingten Hand durch sein Haar fuhr, als wolle er mir zeigen, dass die spitzen Enden seiner gegelten Locken als formidable Waffen in einem eventuellen Zweikampf taugen würden. Eskaliert ist es aber erst beim Gespräch mit den Privatkundenbetreuerinnen. Und zwar in jedem einzelnen der drei Gespräche, die ich zu führen hatte.

Die erste kommentierte die Anmoderation ihres Filialleiters, dass ich nun Zeit für sie hätte mit: „Ich aber nicht für ihn.“, ohne ihren Blick vom Computerbildschirm abzuwenden. Im Gespräch, dass dann dennoch stattfand, fiel ihr Kopf zur Seite, ihre Augen fast zu, ihre Arme von der Stuhllehne und der Satz „Mich interessieren nicht die Bedingungen der Restschuldversicherung sondern welchen Ertrag sie mir bringt.“, aus ihrem Mund.

Die zweite gab in der einen Stunde, die ich Zeit für Sie hatte ein und denselben abgelehnten Kreditantrag insgesamt sieben Mal unverändert zur Überprüfung, in der Hoffnung, dass er irgendwann genehmigt werde, während ich ununterbrochen damit beschäftigt war ihr zu erklären, dass dies nicht passieren wird, solange sie den Antrag nicht ändert. Nachdem wir den Antrag vor dem achten Mal gemeinsam geändert haben, woraufhin er genehmigt wurde, ballte sie eine Hand kämpferisch zur Faust, steckte mir den Zeigefinger der anderen zwischen die Schlüsselbeine und rief: „Sehen Sie! Man muss einfach hartnäckig sein, irgend wann klappt’s.“

Die dritte schließlich brach nach der ersten für sie neuen Erkenntnis zum Kreditthema, die sie ungefähr zwei Minuten nach Gesprächsbeginn erlangt, augenblicklich in Tränen aus und kriegte sich bis zum Ende des Gespräches auch nicht mehr ein. Zwischen Schluchzen und Schnäuzen versuchte sie immer wieder mir in Satzfragmenten zu erklären, dass sie drohe wahnsinnig darüber zu werden, dass hier jeder was anderes erzählt, alle behaupten nun aber definitiv recht zu haben, und niemand einsehe, dass es hier ein unbestreitbares Kommunikationsproblem gibt, das seriöses Arbeiten ad absurdum führt.

Ich hab das eingesehen. Erst recht, als mir die Halbtagskraft vom Schalter, die das Glück hatte, die Filiale genauso zeitig zu verlassen wie ich bei einem Kaffee auf einer Bank in der Fußgängerzone erklärte, dass vor vier Wochen eine der Filialbetreuerin im Rahmen eines so genannten „Effizienzprogrammes“ rausgeschmissen wurde und die verbleibenden vier nun eben jeweils 1.500 statt vorher 1.200 Kunden haben mit denen sie selbstverständlich nun auch 20 Prozent mehr Ertrag erwirtschaften müssten. Dies sei jedoch schon allein deshalb völlig unmöglich, weil die Filiale erstens nun mal nur 12 Stunden am Tag geöffnet sei und zweitens sämtliche Vertriebsprogramme nach einer Softwareumstellung vor einigen Monaten nur noch sporadisch funktionierten.

„Wie halten Sie das aus?“, fragte ich.
„Ich halte das nicht aus.“, antwortete sie. „In zwei Monaten ist mein Haus abbezahlt, dann kündige ich.“
„Um was zu tun?“, fragte ich.
„Um nicht den Verstand zu verlieren.“, antwortete sie. „Und nicht meine Lebensfreude.“