Nolegida: “Keine Gewalt!” muss auch für Polizisten gelten

Der Fotograf Sebastian Willnow nahm bei der gestrigen Nolegida-Demo ein Foto auf, das zwei meiner Freunde und mich Auge in Auge mit einigen Polizisten zeigt. Das Foto erschien u.a. auf den Internetseiten der Mitteldeutschen Zeitung, der Frankfurter Neuen Presse, beim neuen deutschland und beim MDR. Dort mit einer etwas missverständlichen Bildunterschrift. Es waren nicht die Demonstranten, von denen hier Gewalt ausging.

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Wir standen in einer Gruppe von etwa 400 Personen an der Mündung der Grimmaischen Straße zum Augustusplatz. Es ist richtig, dass in dieser Gruppe zwei Antifa-Fahnen geschwungen wurden, die auf Polizisten möglicherweise wie die sprichwörtlichen roten Tücher auf Stiere wirken. Es ist weiterhin richtig, dass immer wieder laute Sprechchöre unter den Demonstranten aufkamen, darunter “Nazis raus!”, “Say it loud, say it clear: Refugees are welcome here!” und auch das zugegeben wie aggressives Hundegebell klingende “Haut ab!”. Wahr ist allerdings ebenso, dass eine fabelhafte Kapelle – die Brassbanditen – Hava nagila spielte und die Leute dazu tanzten. Ich empfand die Stimmung “normal” für eine Demo, aber vielleicht lasse ich meine persönlichen Empfindungen mal noch ein paar Zeilen beiseite.

Fakt ist: Die Demonstranten dort waren absolut friedlich. Ich weiß das sicher, denn ich stand in der ersten Reihe. Das Foto beweist es (Bommelmütze). Die Polizisten allerdings drängten mehrfach völlig unvermittelt und ohne jegliche Rücksicht in die Menge um eine Gasse zu bilden, durch die einzelne Legida-Demonstranten zu ihrer Demo gehen konnten. Es gab keine Lautsprecher-Durchsagen, keine Megafone, nicht einmal Rufe. Es gab keinerlei Kommunikation der Polizisten mit den Demonstranten, jedenfalls keine verbale. Blitzschnell und ohne ein nach außen wahrnehmbares Startsignal wurden Demonstranten an den Schultern gepackt und nach hinten geschuppt. Demonstranten wurden zur Seite gestoßen und von ihren Standorten gedrängt. Auch vor den  Musikern und ihren Instrumenten wurde kein Halt gemacht. Ein Mann setzte sich zur Wehr und wurde mit der Hand geschlagen. Zwei Männer wurden – weil sie im Weg standen – so heftig von Polizisten gestoßen, dass sie zu Boden gingen. Einer der Männer stieß mit dem Kopf aufs Pflaster und war eine Sekunde lang benommen. Der Tross Polizisten kletterte über ihn hinweg ohne ihm zu helfen oder ihn auch nur eines Blickes zu würdigen, dabei hätte er ernsthaft verletzt sein können. Gemeinsam mit einem anderen Demonstranten zog ich den Mann aus der Lauflinie der Polizei und richtete ihn wieder auf. Wenn ich die Polizisten zwischen den einzelnen Ausbrüchen (es waren insgesamt vier) ansprach, bekam ich keine Antwort. Auch auf “Keine Gewalt!”-Rufe erfolgte keine spürbare Reaktion. Ich habe gesehen, dass Sebastian Willnow auch diese Szenen fotografiert hat. Merkwürdigerweise tauchen diese Bilder nirgendwo auf.

Ich habe heute auch mit Menschen gesprochen, die die Polizei an anderen Orten der Stadt als sehr besonnen, ruhig und freundlich wahrgenomen haben. Ich kann das allerdings für den Teil der Demonstration auf dem ich war überhaupt nicht bestätigen. Die einzigen, von denen dort Gewalt ausging waren Polizisten.

Und das geht nicht. Mir leuchtet ein, dass Polizisten auch nur Menschen sind und dass sie angespannt waren und dass sie doch schon so lange Dienst schieben mussten und von sonstwoher kamen und dass sie viel lieber zuhause bei ihren Familien gewesen wären. Aber ich verstehe nicht, welchen Unterschied das machen sollte.

Ich erwarte, das Polizisten auch und gerade in solchen Momenten ihren Job machen: Bürger schützen. Und ich darf das erwarten, denn ich bezahle sie dafür. Ich erwarte Professionalität, ich erwarte Besonnenheit und ich erwarte, dass man Demonstranten nicht wie einen dämlichen Mob behandelt. Wir haben Ohren und Gehirne, man kann mit uns sprechen. Wenn man uns gebeten hätte, eine Gasse zu bilden, hätten wir eine verdammte Gasse gebildet. Ein Legida-Demonstrant ist bei den Handgemengen auf die Nolegida-Seite geraten. Dem wurde kein einziges Haar gekrümmt, der hat sich von ganz allein in Grund und Boden geschämt.

Die Agression der Polizei war völlig unangemessen – zumindest hier. Erst dadurch kam eine hitzige Stimmung auf, die zu Kippen droht. Es ist kein Wunder, wenn einige Leute am nächsten Mittwoch lieber zu hause bleiben, denn man kann nicht leugnen: Es war gefährlich. In der Grimmaischen Straße allerdings nicht wegen gewaltbereiter Demonstranten.

Zum Weiterlesen:

Was uns der Genmais über die europäischer Demokratie lehrt

Bei einem Treffen der EU-Minister in der letzten Woche, gab es viele glühende Reden gegen die Genehmigung des Anbaus von gentechnisch verändertem Mais in der EU; die nötigen Stimmen für ein Verbot kamen jedoch nicht zustande.

Nun liegt die Entscheidung für oder gegen eine Anbaugenehmigung bei der EU-Kommission, die den Anbau – dank hervorragender Lobbyarbeit – sehr wahrscheinlich abnicken wird.

Am Morgen des 12. Februar gab Elvira Drobinski-Weiß, verbraucherpolitische Sprecherin der SPD, welche ja – das muss man an dieser Stelle betonen – augenblicklich eine Regierungspartei ist, folgendes, überaus sehenswertes Interview im ARD-Morgenmagazin. Was uns der Genmais über die europäischer Demokratie lehrt weiterlesen

Partei ergreifen? Naja, wenigstens mal vorfühlen.

Heute Abend werde ich das Neumitglieder-Treffen einer Partei besuchen. Noch bin ich kein Mitglied. Aber aufgeregt. Und irritiert von mir selbst.

Seit ich wählen darf, wähle ich grün. Immer aus Überzeugung, nie aus Gewohnheit. Seit Jahren denke ich darüber nach, in die Partei einzutreten. Ich kann deshalb sehr kompakt argumentieren, warum das eine schlechte Idee ist. Partei ergreifen? Naja, wenigstens mal vorfühlen. weiterlesen

Jeden Furz bei Facebook reinstellen, aber über Prism schimpfen. Here’s why.

„Ich verstehe nicht, warum du dich über die NSA-Bespitzelung so aufregst, wo du doch alle möglichen privaten Informationen über dich bei Facebook breit trittst.“
„Das ist etwas völlig anderes.“
„Das ist das Allergleiche.“

Ist es nicht. Weil ich es in den letzten Wochen gefühlte 93 Mal erklärt habe, hier ein letztes Mal schriftlich in ein Offline-Gleichis verpackt: Jeden Furz bei Facebook reinstellen, aber über Prism schimpfen. Here’s why. weiterlesen

Wir sind rechtschaffende Leute, aber wir haben viel zu befürchten.

Ich erinnere mich gut an den Moment der Enttäuschung, als ich fünfjährig einsehen musste, dass mich meine Mutter auch dann sehen konnte, wenn ich mir die Augen zu hielt. Ich erinnere mich, an das Trauma eines Freundes, der im Alter von 12 Jahren anhand der Verletzung versteckter Plompen beweisen konnte, dass sein Vater sein Tagebuch las und an den Umzug der Schuberts in eine andere Stadt, nachdem sie ihre Stasi-Unterlagen gelesen hatten.

Festzustellen, dass man beobachtet wurde obwohl man sich in sicherem Umfeld wähnte, ist unerträglich. Meine Mutter hat ihrer Stasi-Akte niemals angefordert. Ihr war klar, dass daraus Spitzeleien im nächsten Umfeld offenbar würden, die Konsequenzen verlangten, vor denen sie sich noch mehr fürchtete als vor den seelischen Verletzungen durch den vielfach begangenen Verrat. Ich kann das verstehen. Aber ich halte das für falsch. Fakten wie diese muss man ansehen, finde ich.

Die Situation, der wir uns alle in den letzten Wochen häppchenweise gewahr werden, ist eine andere aber vielleicht doch vergleichbar. Wir sind rechtschaffende Leute, aber wir haben viel zu befürchten. weiterlesen

Prism: Wie erklären wir das unseren Kindern?

Ich bin gelähmt. Ich bin entsetzt. Ich schaudere. Ich fürchte mich. Ich bin wütend. Ich fühle mich manipuliert. Verarscht. Verraten. Beraubt. Ich fühle mich entwürdigt. Ich komme mir naiv vor, gutgläubig und dumm.

Ich hatte mir vorgenommen, zu warten, bis ich wieder klar sehe, bevor ich darüber schreibe. Aber ich beruhige mich nicht. Alles wird unüberschaubarer, ungeheuerlicher, bedrohlicher. Ich bin gut darin, meine Gefühle zu beschreiben, aber es geht nicht um mich. Ich bin gut darin, mich zu echauffieren, aber das wird nichts nützen. Ich kenne mich ein bisschen aus mit totalitären Systemen und Computern, aber auch das reicht nicht.

Ich sitze auf meinem Fensterbrett und schaue der Stadt beim Blinken zu. Ich muss über Begriffe wie Gesellschaft, System, Staat und Macht nachdenken. Immerzu. Ich versuche zu begreifen, was Freiheit ist und Demokratie. Ich frage mich, wie wir uns dieses Idealen annähern könnten. Ich frage mich, wer “wir” ist. Prism: Wie erklären wir das unseren Kindern? weiterlesen

Brüderle – der unverstandene Stratege?

FDP-Fraktionschef Rainer Brüderle fabulierte gestern im ARD-Morgenmagazin darüber, dass man die Wahl des Bundesvorsitzenden von Ende Mai durchaus auf Ende Februar bzw. Anfang März vorziehen könnte, um rechtzeitig gestärkt in den Bundestagswahlkampf zu ziehen. Viele Parteikollegen und Journalisten kritisieren diesen Vorstoß als unüberlegt, kontraproduktiv und regelrecht tollpatschig.

Die leidige Personaldebatte, die sogar tapferen FDP-Ignoranten seit Monaten zum Hals heraus hängt, erhält so ein weiteres schlecht geschriebenes Kapitel. Der zum greifen nahe Wiedereinzug der FDP in den niedersächsischen Landtag könnte so zwei Tage vor der Wahl unnötig gefährdet sein.

Könnte. Genauso gut könnte es nämlich sein, dass Brüderles Aussage ziemlich clever war.
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10 Sätze über Nebeneinkünfte von Politikern

Der Versuch, Peer Steinbrück nach seiner Kür zum SPD-Kanzlerkandidaten wegen sehr üppiger Vortragshonorare zum käuflichen Jubelbarden seiner Auftraggeber zu degradieren, ist unanständig, populistisch und irreführend. Deutschen Politikern ist es ausdrücklich gestattet, sich Nebeneinkünfte in beliebiger Höhe zu organisieren, solange sie diese bestimmten Regeln folgend offenlegen – was Peer Steinbrück stets fristgemäß und einwandfrei getan hat. Das Problem ist also, dass Steinbrücks Verhalten eigentlich kein Problem ist.

Wie mir die Fabeln Gauselmann und die FDP, Gerhard Schröder und Gazprom oder auch Mario Draghi und Goldman Sachs lehrten, hat die Bezahlung von Politikern durch Unternehmen nämlich immer ein Geschmäckle, und zuweilen ein unerträglich fauliges.

Dabei ist es weniger kompliziert, als es scheint: Wenn wir möchten, dass die hellsten und kompetentesten Köpfe unserer Zeit Karriere inder Politik und nicht in der Wirtschaft machen, müssen wir ihnen Diäten zahlen, die mit den Gehältern in der freien Wirtschaft mithalten können, auch wenn das teurer wird als bisher. Im Gegenzug dürften wir dann aber erwarten, dass diese von uns gewählten und bezahlten Politiker für uns arbeiten – und für niemanden sonst. Soweit ich das verstanden habe, sind Parteivorsitzender, Minister und sogar Abgeordneter ohnehin Full-Time-Jobs die – sofern man sie gewissenhaft ausfüllen möchte – gar keine Zeit für Nebentätigkeiten lassen.

Zur Vermeidung von Interessenkonflikten und Korruptionsvorwürfen sollten wir Politiker wenigstens für die Dauer ihrer Mandate dazu verpflichten, auf jegliche Nebeneinkünfte zu verzichten. Das freilich werden wir nie tun – denn wer sollte es in unserem Namen beschließen?

Hassliebe: Die Wanze in meiner Tasche

Miriam Meckel, Direktorin am Institut für Medien- und Kommunikationsmanagement in St. Gallen, twitterte letzte Woche:

“Think of your smartphone as a tracking device that happens to make a call. “

Wir wissen, dass mit Hilfe unsere Mobiltelefone Bewegungsprofile von uns erstellt werden können. Und auch, dass von dem, was wir als Privatsphäre (miss)verstehen nicht viel übrig bleibt, wenn man die Verbindungsdaten und den Datenverkehr zur Auswertung hinzuziehen würde. Wir nehmen das hin. Aber Warum?

Mir gelingt das, weil ich entgegen Meckels Vorschlag eben nicht daran denke. Ich wische meine Überwachungsfantasien wie Fettflecken vom Display, indem ich mir einrede, sie wären übertrieben und psychotisch. Ich halte Orwell und Huxley für Science-Fiction-Autoren, nicht für Propheten. Ich lache über Verschwörungstheorien. In meiner betriebswirtschaftlichen Ausbildung habe ich gelernt, dass Konzerne mein Geld wollen, nicht aber mein Leben. Ich bezweifle, dass der Staat mich kontrollieren will, weil ich mir immer noch einrede, ich sei der Staat. Aber ich finde es zunehmend schwieriger, mir zu glauben.
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Was ist gute Kunst?

Zuweilen habe ich mich in meinem Kunststudium sehr gelangweilt. Insbesondere in Vorlesungen, in denen seelenlose Kunstwerke besprochen wurden. Anfangs habe ich mich dafür sehr geschämt. Wer bin denn ich, die Qualität eines Kunstwerkes zu beurteilen? Bitte was ist denn die Seele eines Kunstwerkes? Je mehr Arbeiten ich selbst produzierte, umso klarer wurde mir: Gute Kunst ist keine Frage des Geschmacks, sondern eine Frage der  Qualität. Deshalb schreibe ich heute Texte. Und deshalb kann ich versuchen zu erklären, woran man gute Kunst erkennt. Ich verspreche: Es ist einfacherals angenommen.
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