Wahlsieger SPD

Im Moment sieht es ganz und gar nicht danach aus, aber vielleicht könnte sich die SPD doch noch zum eigentlichen Gewinner der Wahl mausern. In Regierungsverantwortung kommt sie in den nächsten vier Jahren sicher nicht. Aber vielleicht wieder zu sich. Zwei Fehler dürfen ihr dabei jedoch keinesfalls unterlaufen.

1. Bleibt die SPD beim bisherigen Spitzenpersonal kann sich nichts ändern. Das aber ist nötig. Sicher, das Konzept Müntefering hat viele Jahre funktioniert Müntefering ist geschickt und wusste die Partei zusammen zu halten. Aber er hat sich verbraucht. Er steht für die Agenda 2010 und einen teils peinlich offensichtlich taktierenden, teils beleidigenden Wahlkampf. Neu, vorwärtsstrebend, visionär kann die SPD nur ohne ihn wirken. Was ihm selbst bereits zu dämmern schien, als er heute in Aussicht stellte, sein Amt in Aussicht zu stellen. 

Auch Steinmeier muss von der Bühne. Denn dass gestern nach der ersten Hochrechnung allerorts SPD-Funktionäre vor die geöffneten Mikrofone sprangen um zu versichern, dass die Niederlage zwar historisch sei, aber nichts mit dem Spitzenpersonal zu tun habe, beweist, für wie nötig man die Verbreitung dieser These hielt. Natürlich ist das Gegenteil der Fall. Man kann nicht einerseits behaupten, das respektable Ergebnis der CDU sei einzig und allein auf den Beliebtheitsbonus der Kanzlerin zurückzuführen, anderseits aber leugnen, dass das Desaster der SPD zwar trotz keinesfalls aber wegen Frank-Walter Steinmeier passiert sei. Wenn wir ganze Straßenzüge mit Porträtfotos  nicht aber mit Inhalten plakatieren und wenn wir TV-Duelle mit nur zwei statt mit fünf Spitzenkandidaten veranstalten dürfen wir uns dann nicht wundern, wenn der Bundestagswahlkampf zum Personenwahlkampf verkommt. Und den hat Steinmeier verloren. Im Verlieren ist er offenbar aber nicht gut. Gestern in der Berliner Runde nach der Tagesschau kürte er sich zum Oppositionsführer und stellte so klar, dass er seinen Führungsanspruch auch weiterhin aufrecht erhalten werde, noch bevor irgend jemand daran hätte Zweifel äußern können. Ein bisschen peinlich ist das schon. Wir brauchen nämlich keinen Oppositionsführer. Was soll so ein Oppositionsführer denn eigentlich tun? Keine der drei nicht-regierenden Parteien wird in den nächsten Jahren eine Möglichkeit auslassen, mit ihrem Spitzenpersonal für ihre Überzeugungen einzustehen. Aber doch bitte nicht für die Überzeugungen der Opposition.

Derweil ist die Unruhe auf den hinteren Rängen bereits unüberhörbar. Andrea Nahles ruft nach Runderneuerung weil sie ihre große Chance wittert. Sie sei ihr gegönnt. Die Jusos stärken ihr den Rücken und rufen ebenfalls nach Erneuerung.

2. Die SPD muss ihren Inhalten weiterhin treu bleiben. Nicht den Milliardensubventionen, die in saarländischen Gruben verschütt gehen und auch nicht der rückwärtigen Fantasie der Wiedereinführung höherer Sozialleistungen. Wohl aber dem Deutschland-Plan, dessen einziges Manko es war und ist, Deutschland 4.000.000 neue Jobs zu versprechen. Weil sich nach dem Auftauchen dieser Zahl alle vor lachen die Bäuche hielten hat sich kaum einer die Mühe gemacht weiter zu lesen. Das aber lohnt sich. denn der Deutschlandplan  ist ein kluges, modernes und lupenrein sozialdemokratisches Konzept. Und natürlich ist unser Land eines, in dem sich für Mindestlöhne, gebührenfreie Bildung und ein klares Ja zum Atomausstieg Mehrheiten finden lassen. Aber eben nicht von diesen Köpfen.

Deutschland braucht eine starke Sozialdemokratie und hat sie auch verdient. Die nötigen Konzepte dafür stehen und die richtigen Leute machen sich bereit. Jetzt braucht es nur noch ein bisschen Geduld und den unumstößlichen Glauben an die Parabel vom Phoenix aus der Asche.

Warum Nichtwählen nicht schick sondern feige ist

Mir geht es ja genauso wie dem großen Rest der öffentlich quasselnden Zunft: Auch ich finde diesen Wahlkampf besonders. Überall ist vom Kuschelkurs, Wahlkampf-Wett-Schweigen oder Valium-Wahlkampf die Rede. Das ist doch wirklich furchtbar! Also: Nicht der Wahlkampf sondern das selbstmitleidige Gefasel darüber. Denn mit jedem weiteren Artikel, den ich zum Thema lese, gewinne ich den Eindruck, dass mit dem Wahlkampf alles in Ordnung ist, nicht aber mit der Berichterstattung darüber.

Ich hab mich ja schon vor dem TV-Duell lang und breit darüber gewundert, dass allerorts das Mikrowellen-Popcorn ausverkauft war, weil die Republik offenbar mit einem herrlichen Blockbuster-Martial-Arts-Splatter-Horror-Action-Spektakel, nicht aber mit einem kultivierten politischen Dialog rechnete. Und natürlich enttäuscht wurde.

Genauso irritiert bin ich jetzt über das breite Nichtwählerforum das medienübergreifend all jenen eingeräumt wird, die sich “im derzeitigen Politischen System nicht wiederfinden”, denen “die Visionen in den Parteiprogrammen fehlen” oder die der Überzeugung sind, “dass es am Ende ja doch keinen Unterschied macht,  was man wählt”, weil “die da oben” sowieso machen, was sie wollen. Und die dann so tun, als sei nichtwählen tatsächlich eine Alternative.

Es ist eben keine. Denn Nichtwählen sagt nichts, will nichts und benimmt sich irrational wie ein zickiger Teenager, der alles was der Tag für ihn bereithält mit eingezogenem Hals, verschränkten Armen, gehobenem Näschen und einem schrillen “Püh!” kommentiert.

Was Nichtwähler nicht begriffen haben, müssen auch all jene Journalisten einsehen, die sich langweilen, wenn im Wahlkampf keine Wrestling-Showkämpfe ausgetragen werden, wie sie beispielsweise Herr Müntefering vom Zaun brechen wollte, als er Frau Merkel empfahl, doch schon mal die Koffer zu packen.

1. Politik tendiert dazu, ein klitzekleines bisschen komplizierter zu sein als ein Boxkampf, bei dem klar ist, dass der, der zuerst Zähne spuckt verloren hat. Wenn Frau Merkel beispielsweise sagt, Atomkraft sei als “Brückentechnologie”  (19.900 Treffer bei Google) noch einige Jahre nötig, muss das also weder Wischi-Waschi noch ein Ausstieg aus dem Ausstieg durch die Hintertür sein. Möglicherweise handelt es sich dabei auch schlicht um die Wahrheit. Manchmal ist die langweilig und fetzt nicht. Das macht sie aber eben nicht minder wahr, wie die Cleveren unter uns schon im Vorschulalter gelernt haben.

2.Politik verlangt Kompromisse. Kompromisse fetzen oft auch nicht, weil man sich nicht so gut an ihnen reiben kann. Das 3-stufige Steuersystem der FDP kann man lieben oder hassen,  die Kopfpauschale der CDU kann man wollen oder nicht, oder die Bürgerversicherung der Grünen. Ich verstehe, dass man sich auch als Journalist nach solchen klaren Positionen sehnt, weil sich darüber leichter schreiben lässt als über einen mitunter sehr verquasteten Mittelweg wie den des Gesundheitsfonds. Andererseits lohnt es sich nicht, über das Steuersystem der FDP zu diskutieren. Es wird nie passieren. Keine Partei wird in Deutschland je wieder mit absoluter Mehrheit regieren. Wir werden Kompromisse, Mittelwege und die komplizierte Vorwärtsbewegung in kleinen Schritten lieben lernen müssen. Vielleicht verstehen wir unterwegs ja das Wesen der Demokratie.

3. Politik verlangt Realismus. Und mein Eindruck ist, dass das Volk das besser verstanden hat als mancher Kolumnist. Zwei Drittel der Deutschen glauben nicht an das plakative Wahlversprechen der CDU nach der Wahl die Steuern zu senken. Das Volk ist bereit für eine differenzierte Debatte. Mit kleineren Überschriften und ohne Boxkampfregisseure in Polit-Talkshows kriegen wir das auch hin.

4. Politik findet selbstverständlich auch im Kleinen statt, aber eben nicht nur. Wer der Meinung ist, sein politisches Soll allein durch das Engagement in der örtlichen Bürgerinitiative, durch das Mitlaufen bei Anti-Atomkraft-Demos oder das Betreiben eines politischen Blogs zu erfüllen, liegt daneben. Das große Ganze ist auf den Einzelnen angewiesen. Und sich der komplexer werdenden, globalisierenden, in immer stärkere gegenseitige Abhängigkeiten geratenden Weltpolitik zu entziehen, nur weil sie nicht so schön griffig ist, wie die Schwimmbadschließung im Nachbarkiez, ist nicht nur dumm und faul, sondern auch feige. Realpolitik und Radikalität passen nicht gut zusammen. Und das nervt manchmal, auch mich. Aber bundespolitische Kompromisse mitzutragen, sie ganz bewusst zu wählen, auch wenn man die Dinge gern einfacher und klarer und schneller hätte, kann auch Wachstum bedeuten. Nicht nur für die Demokratie, sondern vor allem auch für den Einzelnen, der nach eingehendem Studium eingestehen muss, dass beispielsweise ein Atomausstieg bis 2020 schön und wünschenswert aber leider nur in einer bunten Fantasiewelt möglich ist.

5. Wem das zu anstrengend ist, und wer sich im Paralleluniversum der rosa Kaugummiblasen emittierenden Teenager wohler fühlt als auf dem harten Parkett der Realpolitik, soll bitte bis mindestens 2014 den Mund halten. Wer nicht wählt darf auch nicht meckern.

Brechen die Linken ihr Versprechen?

Mal angenommen, Sie wählen am übernächsten Sonntag CDU. Warum würden das tun?

Vielleicht, weil Sie die proklamierten Inhalte der CDU mögen, oder schon immer CDU gewählt haben, oder aus Protest CDU diesmal wählen. Vielleicht – und so unwahrscheinlich ist das gar nicht – vielleicht würden Sie aber auch deshalb CDU wählen, weil Sie wollen, das Angela Merkel Kanzlerin bleibt. Vielleicht mögen Sie sie,  weil Sie das Bild, das medial von ihr verbreitet wird vertrauenswürdig finden oder weil das so wahnsinnig nett war am letzten Sonntag am Bratwurststand neben ihr auf dem Marktplatz. Vielleicht finden Sie auch einfach, dass sie einen ganz guten Job gemacht hat und wählen Sie deshalb noch einmal.

Natürlich: Solange Sie nicht im Wahlkreis “015 Stralsund, Nordvorpommern, Rügen” leben, können Sie Angela Merkel gar nicht direkt wählen sondern nur ihre Partei, das wissen Sie. Und dennoch ist jede Wahl auch eine Personenwahl. Das wissen alle.

Nehmen wir mal an, die CDU, die Sie nur gewählt haben, weil Sie Angela Merkel mögen würde nun ein solch gutes Wahlergebnis erzielen, dass sie theoretisch federführend bei der Bildung einer Regierungskoalition sein könnte. Und gehen wir mal davon aus, dass Sie Angela Merkel gewählt hätten, obwohl ihre politischen Gegner, nennen wir sie mal Steinmeier und Künast, vor der Wahl keine Gelegenheit ausgelassen hätten zu betonen, dass sie eine Regierungsbildung unter Merkels Führung kategorisch ausschließen.

Wie würde Sie es – das alles vorausgesetzt – dann finden, wenn Angela Merkel, die Sie ja gewählt haben, unter dem Druck von SPD und Grünen auf den Posten der Bundeskanzlerin verzichten würde und stattdessen ein anderer aus der Partei, sagen wir mal Roland Koch, Bundeskanzler würde?

Ich würde mich betrogen fühlen. Denn ich hätte ja Merkel und nicht Koch gewählt. 

Genauso betrogen würde ich mich fühlen, wenn nun Herr Ramelow von den Linken scheinbar großzügig und edel auf den Ministerpräsidentenposten in Thüringen verzichtet, weil Herr Matschie und Frau Rothe-Beinlich ihn – warum auch immer – nicht mögen, und stattdessen den Posten frei macht für einen, den ich eben nicht gewählt habe, den ich womöglich nicht einmal kenne.

Unbestritten hat es sich mancher anders gewünscht. Aber Fakt ist:  Die Wähler haben die Linke zur zweitstärksten Kraft in Thüringen gemacht. Entgegen, trotz oder gerade wegen aller Traumtänzer-, Sozialismus- oder SED-Nachfolge-Polemik. Wenn nun die politisch Beteiligten einen CDU-Ministerpräsidenten um jeden Preis verhindern wollen, müssen sie einen aus der Linken küren. Und zwar nicht irgend einen sondern Bodo Ramelow. Denn der ist gewählt. Alles andere ist in meinen Augen eben nicht “vernünftig” oder “solide” sondern Betrug am Wähler und Verrat an der Demokratie.

Käme es tatsächlich dazu, dass Rot-Rot-Grün in Thüringen einen Ministerpräsidenten aus dem schwarzen Zylinder direkt ins höchsten Amt des Landes hievte, wäre das aber vor allem eine bittere Niederlage für die Linke. Nicht nur, dass sie sich, dem Volk, dem Wähler und der staunenden Presse damit eingestehen müsste, dass auch sie nach der Wahl freilich nicht alles halten kann, was sie vorher kühn versprochen hat. Auch litte Stolz und Würde der Partei ganz erheblich darunter, wenn die Linke entgegen aller demokratischen Konventionen vor einem röhrenden Matschie in die Knie gehen würde, damit der künftige Ministerpräsident ihren Rücken als Steigbügel in den Chefsessel benutzen kann. Damit wäre alle anderen Parteien in ihrer ebenso arroganten wie hilflosen Haltung bestätigt, die Linke auch künftig angestrengt ignorieren zu dürfen – und zwar auch dann, wenn sie im Schatten astronomisch hoher linker Wahlergebnisse eigentlich vor Neid erblassen sollten.

Die Linke würde unsanft auf dem harten Pflaster der Realpolitik aufschlagen und müsste dann strauchelnd einsehen, dass die ordentlichen Regeln hier für sie trotz allem nicht gelten.

Zu Tode rationalisiert

Am späten Nachmittag des letzten Freitags öffnet die 32-jährige Stephanie, Mitarbeiterin der Mahnabteilung von France Télécom, das Fenster an ihrem Arbeitsplatz im 4. Stock des Bürogebäudes in der Pariser Rue Médéric und stürzt sich vor den Augen ihrer Kollegin auf die Straße. Einige schreckten erst auf, als sie den Aufprall des Körpers auf der Straße hörten. Stephanie ist nicht sofort tot – eine Kollegin versucht sie mit einer Decke zu wärmen und bei Bewusstsein zu halten – zwei Stunden später erliegt die junge Frau jedoch im Krankenhaus ihren schweren Verletzungen.

Am letzten Mittwoch holt ein Störungstechniker im südwestlich von Paris gelegenen Troyes während einer Konferenz  mit anderen Mitarbeitern des Unternehmens ein Messer aus der Tasche und rammt es sich in den Bauch. Er überlebte schwer verletzt.

Vorgestern Abend wurde eine weitere Angestellte der Firma in ihrem Haus in Metz nahe der Deutschen Grenze von Angehörigen bewusstlos aufgefunden, nachdem Sie eine Überdosis Schlafmittel eingenommen hatte. Auch sie hat überlebt.

Insgesamt haben sich in den letzen anderthalb Jahren 23 Mitarbeiter von France Télécom das Leben genommen. 12 weitere überlebten ihre Suizidversuche.

Als Reaktion setzte der französische Arbeitsminister Darcos am Dienstag einen Behördenvertreter zur Überwachung der Gesundheitssituation bei dem Telekommunikationskonzern ein und traf sich heute mit France Télécom-Chef Didier Lombard um nötige Maßnahmen zu besprechen. Psychisch labile Mitarbeiter sollen nun Zugang zu betrieblich organisierter psychologischer Betreuung erhalten – per Telefonhotline. Weiterhin sollen 100 Personalreferenten eingestellt werden, die die angespannte Lage im Unternehmen analysieren und entspannen sollen. Außerdem soll der massive Umbau des Unternehmens bis Ende Oktober auf Eis gelegt werden. Das alles kann man hier, hier oder hier nachlesen.

Selbstverständlich versucht die Konzernleitung die Situation herunterzuspielen, in dem sie beispielsweise darauf hinweist, dass sich die unternehmensinterne Selbstmordrate statistisch gesehen im normalen Bereich bewegen würde. Außerdem heißt es, dass es sich bei den tragischen Todesfällen grundsätzlich zuerst um persönliche und nicht um betriebliche Dramen handele. Stephanie zum Beispiel, habe psychische Probleme gehabt, wie Personalchef Olivier Barberot dem “Journal du Dimanche” erklärte. "Sie hat 2008 nur 58 Tage gearbeitet und hat in diesem Jahr an 61 Tagen gefehlt. Wir haben reagiert, indem wir ihre Arbeitsbelastung reduziert haben." In den Tod sprang sie allerdings, nachdem sie erfahren hat, dass sie einen neuen Vorgesetzten bekommen soll.

Der Störungstechniker habe ebenfalls überreagiert. Seine Stelle sei zwar weggefallen, ihm sei aber eine vergleichbare Position an anderer Stelle im Unternehmen angeboten worden.

Eine andere Sprache sprechen die Abschiedsbriefe, die einige Mitarbeiter hinterlassen haben. In einem heißt es, dass die mit der Versetzung in einen Vorort von Straßburg verbundene Ferne zu Heimat und Familie unerträglich sei. Ein anderer beschreibt, dass die neue Technik am Arbeitsplatz einfach nicht unter Kontrolle zu bringen wäre. In einem dritten öffentlich gewordenen Brief heißt es wörtlich:

Ich habe mich wegen meiner Arbeit bei France Télécom umgebracht. Das ist der einzige Grund.
Dauernde Dringlichkeit, überlastet von der Arbeit, das Fehlen von Ausbildung, die totale Desorganisation des Unternehmens. Ein Management, das über Terror funktioniert.
Das hat mich selbst völlig durcheinandergebracht und verstört. Ich bin zum Wrack geworden, es ist besser, dem ein Ende zu setzen.

"Es handelt sich nicht nur um persönliche Dramen", sagte der Vorsitzende der Arbeitnehmerorganisation CFDT, François Chérèque am Montag. "Wir haben hier ein Unternehmen, dessen einziges Ziel es ist, Cash und Knete anzuhäufen, und dabei verlangt man von den Beschäftigten immer mehr Rentabilität".

Tatsächlich werden enorme Anstrengungen unternommen, den ehemaligen Staatskonzern fit für den internationalen Wettbewerb zu machen. So wurden in den vergangenen Jahren 22.000 Stellen abgebaut, weitere 7.000 Mitarbeiter wurden versetzt, weil das Unternehmen zahlreiche kleinere Niederlassungen geschlossen hat und immer noch schließt um sie in größeren zu bündeln. Dieser Stellenab und –umbau ist offenbar noch längst nicht beendet: "Alle Angestellten erhalten regelmäßig per Mail Angebote, das Unternehmen zu verlassen", sagt Philippe Meric von der Gewerkschaft SUD. "Die Manager haben Vorgaben, die Mitarbeiter zu ermuntern, zu gehen."  Erreichen sie dieses Ziel, erhalten sie eine entsprechende finanzielle Belohnung.

Dementsprechend überrascht es niemanden, dass die Krankheitsquote im Unternehmen im letzten Jahr um sieben Prozent gestiegen ist.

Letzten Donnerstag nun demonstrierten zahlreiche Angestellte gegen die in ihren Augen unerträglichen Arbeitsbedingungen. Auf Transparenten bezeichneten sie diese als “terreur” und forderten: "Stoppt das Leiden bei der Arbeit".

France Télécom ist sicher das deutlichste, längst aber nicht das einzige Beispiel für regelrechte Selbstmordwellen in französischen Unternehmen. Vor zwei Jahren, gab es in den Entwicklungsabteilungen der Autokonzerne Renault und PSA ebenso eine Reihe von Suizidfällen binnen kurzer Zeit.

Mich macht das betroffen und sehr ratlos. Ich selbst arbeite für eine international agierende Bank und weiß, dass die Maschine Erwerbsarbeit gierig ist und man sich sehr gut an seinen privaten, moralischen, ideellen Wurzeln festhalten muss um nicht im sich selbst immer weiter rationalisierenden Räderwerk verloren zu gehen. Oft liest man vom “Kapitalismusbergwerk” oder vom “Hamsterrad”. Psychische Erkrankungen nehmen auch hierzulande zu, das Burn-Out wird zur neuen Volkskrankheit. Und ich verstehe nicht ganz, warum.

Natürlich: Arbeitspensum und –komplexität steigen immer weiter, die Globalisierung und vielleicht auch die Gier zwingt Unternehmen Prozesse immer effizienter und rationeller zu arbeiten, und noch immer Leben wir in einer Gesellschaft, in der sozialer Status direkt von der Teilnahme am oder dem Ausgeschlossensein vom Erwerbsleben abhängt.

Fraglich ist doch aber, wie hoch der Druck, wie stark der “terreur” und wie aufgerieben und ausgebrannt das Nervenkostüm eines Menschen sein muss, damit er direkt durchs offene Fenster am Arbeitsplatz in den Tod springt. Welchen Stellenwert hat die berufliche Stellung für so einen Menschen? Und wie konnte sie so bedeutungsvoll, so wichtig werden, dass sie über Leben und Tod entscheidet?

Hätte die einer Kündigung folgende Arbeitslosigkeit wirklich das Ende aller Möglichkeiten bedeutet? Hätte es nicht die Möglichkeit gegeben, sich einen anderen Arbeitgeber zu suchen?

Selbstverständlich kann ich mir kein Urteil über die 23 Verstorbenen erlauben. Aber an diesem Beispiel wird so deutlich wie selten, dass das Konzept von Erwerbsarbeit als Sinnstifter, als Lebensinhalt, als Maßstab für Erfolg oder Misserfolg eines Menschenlebens nie angemessen war und sich selbst überholt hat. Die Frage die jetzt kommt ist noch schwieriger:

Wofür leben wir eigentlich?

Wenn es nun aber so ist, dass die Erwerbsarbeit zum Lebensinhalt vieler geworden ist, was ja nicht zuletzt auch darin begründet liegt, dass sie vielerorts den Löwenanteil der Lebenszeit und –energie beansprucht, dann muss man fragen, was aus ihr geworden ist bzw. was aus ihr wird: Wenn die Arbeit verlangt, dass sich der einzelne über sie definiert, muss sie ihn auch wertschätzen.

 

Quellen: Nouvel Obs, Le Point, Die Welt, Telepolis

Nicht schwitzen!

Dafür, dass einem an jeder Straßenecke prophezeit wird, wie waaahnsinnig langweilig der heutige Fernsehabend sein wird solange man nicht “Die Simpson – Der Film” guckt, ist das mediale Rauschen um das anstehende TV-Duell zwischen Steinmeier und Merkel doch ziemlich laut, oder?

Gysi schimpft über das„Regierungs-Selbstgespräch zwischen Kanzler und Vize-Kanzler Steinhauer, äh, meier“ und fragt sich, “wie’se da Spannung reinkriejen wolln", während Westerwelle dem verhinderten Zuschauer die “Realsatire” freundlicherweise schon mal vorab zusammenfasst: “Frau Merkel wird dann sagen: Frank-Walter, es war nicht alles schlecht. Und Frank-Walter sagt: Da hast du recht, Angela.” Frau Künast hingegen übt sich in Sachlichkeit und erklärt, es sei schlichtweg "undemokratisch, wenn nicht alle Parteien ihre Konzepte darlegen können". Trotz ehrlichem und aufrichtigem darüber Nachdenken fällt mir kein Argument dagegen ein: Das stimmt wohl. Ebenso richtig scheint mir zu sein, dass der Gesprächsrunde heute Abend deutlich Potential verloren geht, weil die drei oben genannten einfach ausgesperrt wurden. Deren Zusammentreffen am Donnerstag bei Maybrit Illner war nicht nur aufschlussreich sondern durchaus auch verblüffend, gerade in Bezug auf die eigentlich ja streng verbotene aber teilweise geradezu aufdringliche programmatische Ähnlichkeit von Grünen und FDP.

Aber nicht nur die Leugnung jeglicher oppositionellen Kraft treibt mir mit Blick auf die Sendung heute Abend Falten der Irritation auf die Stirn:

1. Wer heute die Fernsehzeitung aufschlägt lernt das gruseln: Das TV-Duell läuft auf 5 Kanälen gleichzeitig. Auf Phoenix wird das Geschehen simultan in Gebärdensprache übersetzt, alle anderen Kanäle, nämlich das Erste, das ZDF, RTL und Sat.1 werden sich nur durch das eingeblendete Logo voneinander unterscheiden. Ganz ehrlich: Was soll das? Gewinnen RTL und Sat.1 durch einen einzigen Abend tatsächlich an politischem Profil? Glaubt das jemand? Oder wäre bei einer erwarteten Einschaltquote von 20 Millionen jede andere Programmierung schlichtweg zu teuer?

2. Obwohl es schon die Sache schon beim letzten Mal eher zur Komödie denn zum Action-Kracher gemacht hat, werden auch diesmal vier Moderatoren – genau: einer nämlich von jedem beteiligten Sender – auf die Kandidaten losgelassen. Vielleicht ist das Kindergartenfairness fürs Leben, und vielleicht sind die zu erwartenden Gockelkämpfe zwischen Herrn Plasberg und Herrn Kloeppel auch unterhaltsam, der Seriosität der Sache dienlich ist diese Moderatoren-Gruppentherapie wohl aber nicht.

3. Die Regeln des Duells sind vorab veröffentlicht, damit alle Hobbyschiedsrichter, die es pünktlich vom Dorfsportplatz zur Tagesschau geschafft haben, die Trillerpfeife für Fouls auch zuhause nur aus dem Mund nehmen müssen, um die Bierflasche anzusetzen. Neben der Begrenzung und peinlichen Überwachung der Redezeit auf 90 Sekunden pro Frage finden sich im Regelwerk auch so sinnige Vorgaben wie das Verbot jeglicher Gegenstände auf dem Pult außer Papier und Stift. Wollte jemand einen Teddy mitbringen oder was?

4. Lässt man auch dieses Mal den Regisseur Volker Weicker an die Steuerknüppel hinter den Kulissen. Weicker ist gut und preisgekrönt. Vor allem für Fußballspiele, Formel-1-Übertragungen und (Aufpassen!) Boxkämpfe. Und wie ein Boxkampf soll die ganze Nummer wohl auch wirken. “Blutgrätschen sind verboten”, titelt der Tagesspiegel zynisch. Gut zu wissen.

Soweit ich das verstanden habe, ist das hier ein Bundestagswahlkampf. Es geht darum, als Wähler zu entscheiden, wem man am ehesten zutraut, das Land halbwegs passabel durch diese ja nicht ganz einfache Zeit zu navigieren. Es geht nicht darum, wem im TV-Event des Jahres die markigsten Sprüche einfallen und wer überzeugender mit den Armen wedelt sondern darum, die zur Wahlstehenden Inhalte in einer kompakten 90-minütigen Gesprächsrunde – keinem Fußballspiel – direkt gegenüberzustellen.

Das hab ich aber ganz offensichtlich missverstanden, wie ein Blick in die Medien verrät:  Der RBB beispielsweise widmet dem Duell im Vorfeld ein Medienmagazin in dem die Moderatoren der Sendung – und nicht etwa die Kandidaten – ins Blaue drauf los schwadronieren dürfen. Die Zeit hingegen erhofft sich vom Duell die Wahlkampfwende, und gibt obendrauf gleich noch hilfreiche Tipps in Steinmeiers Richtung: “So kann ein schwitzender Kandidat etwaige Zweifel an seiner Eignung bestätigen.”

Da kann man nur hoffen, dass Steinmeiers Antitranspirant heute Abend nicht versagt bzw.. dass Udo Walz nicht gerade heute mit einer akuten Magen-Darm-Infektion darnieder liegt. Glaubt man den Medienmachern, könnte Merkel die Wahl verlieren, wenn ihre Haare heute Abend nicht perfekt sitzen.

Wenn man sich mal auf der Zunge zergehen lässt, für wie bescheuert leicht manipulierbar der Wähler von einigen Medienfuzzis Medienmachern gehalten wird, könnte man tatsächlich Lust auf einen Boxkampf bekommen.

Caster – Die Ausgestellte

Das ist doch spitzenmäßig, dass die subversiven, investigativen Top-Journalisten des australischen Daily Telegraph derartig gut vernetzt sind, dass sie der ins Zentrum der aktuellen Genderdebatte gezerrten  (kopfkompass berichtete) südafrikanischen Sportlerin Caster Semenya die Resultate ihres von der IAAF angeordneten Geschlechtstestes hübsch aufbereitet in der Morgenausgabe des Blattes präsentieren kann. Et voila!

Vielleicht ist es ein klitzekleines bisschen problematisch, dass Semenya den australischen Telegraph höchstwahrscheinlich nicht abonniert hat, da er leider, leider auf einem anderen Kontinent erscheint. Und vielleicht ist es auch ein klein wenig schade, dass die Ergebnisse weder offiziell noch bestätigt sind, da eben noch nicht alle Testergebnisse vorliegen. Und etwas unglücklich ist wohl auch, dass Semenya von diesen Ergebnissen im Vorfeld der nun doch sehr öffentlichen Veröffentlichungen nichts wusste. Bei allem Gutmenschsein, wünscht man dem anonymen, nicht genannten weil nicht genannt werden wollenden Informanten dann doch, dass auch er eines Tages aus der internationalen Farbbild-Presse erfährt, dass sich unter seinem Bierbauch nicht nur ein hoffnungslos überdehnter Magen sondern auch zwei prächtige Eierstöcke befinden.

Die sehr gut funktionierenden Netzwerke haben jedenfalls ans gleißende Tageslicht gebracht, das Semenya tatsächlich weder Mann noch Frau ist. Wer Lust auf biologische, hormonelle und organische Details hat, kann diese hier befriedigen, und sich dann kopfüber in das morastige Und-wie-jetzt-weiter? stürzen, das sich nach der Lektüre auftut.

Es wird beispielsweise allen ernstes darüber nachgedacht Semenya ihre Goldmedaille abzuerkennen, weil sie über dreimal soviel Testosteron wie normale Frauen verfügt. Allein schon bei diesem einzelnen Gedanken wird mir ganz schummrig zumute, ob all der umherschwirrenden Fragezeichen. Lassen wir den spannenden Exkurs darüber, was normale Frauen sind der Einfachheit halber mal beiseite. Wer kann aber ernsthaft davon ausgehen, dass es sich bei irgendeiner der beim 800m-Lauf der Berliner Leichtathletik-WM gestarteten Läuferinnen um eine “normale Frau” handelte? Ich verwette mutig mein Y-Chromosom (hoppla, hab ich überhaupt eines?) darauf, dass ausnahmslos jede von denen einen erhöhten Testosteron-Spiegel hatte, weil das im Leistungssport unserer Tage wohl einfach zum guten Ton, zumindest aber zu den Voraussetzungen für eine minimale Siegchance gehört. Und dann wüsste ich noch gern, seit wann genau eben dieser Testosteron-Spiegel bei Leistungssportlerinnen gemessen wird. Ach, das wird gar nicht generell gemacht sondern nur in Ausnahmefällen? Konkret wurde das eigentlich nur bei Semenya gemacht? Oha. Soso. Ob das wohl zu den obskuren Rassismus- und Sexismus-Vorwürfen geführt hat? Hm.

Vom wahrscheinlich sehr schmerzhaften öffentlichen Planieren der intimsten Privatsphäre mal abgesehen, scheinen mir solche generellen Tests allerdings als durchaus sinnvoll. Jedenfalls solange, bis im Leistungssport begriffen wurde, dass es natürlich die verlässlichen und heimeligen Pole männlich und weiblich gibt, in deren vertrauten Schein wir uns gern wärmen, dass sich dazwischen aber ein weites und spannendes Feld auftut, in dem echte Menschen mit echten Gefühlen, Familien Biographien und so weiter leben. Und mit dem echten und eigentlich selbstverständlichen Recht auf persönliche Würde.

Semenya selbst sagt laut Spiegel:

“Ich halte das für einen Witz, das regt mich nicht auf. Gott hat mich so erschaffen, wie ich bin, und ich akzeptiere mich.”

und ich hoffe sehr, dass es sich für sie auch wirklich so anfühlt. Glauben kann ich es nicht. Erst recht nicht, wenn ich mir die ziemlich angestrengten Modefotos des südafrikanischen You Magazine ansehe.

Herbst

toter schmetterling-pola

Heute Nachmittag am Wannsee fiel ein Schmetterling tot vom Himmel und landete mit einem leisen Klick  auf meiner Schulter, von der aus er so langsam meine Brust hinunter trudelte, dass ich seinen Fall sachte mit meiner Hand aufhalten – nein: unterbrechen – konnte.

Offenbar war er schon länger tot, denn unter seinen Flügeln hatte bereits eine Ameisengesandtschaft mit der sorgfältigen Demontage begonnen. Es war es der Wind, der den schillernden Leichnam noch einmal hatte schweben lassen. Und ich war es, der ihn nun in eine kleine Kuhle im Waldboden legte damit die Ameisen aus ihm einen neuen Frühling bauen können.

Aber dalli: Wählen gehen!

Raus aus den Federn und ab zur Urne, aber zack zack! Auf dem Rückweg kann ja wer will ja frische Brötchen von der Tanke mitbringen. Gefrühstückt wird nämlich nach der Wahl.

Wählen ist erste Bürgerpflicht. Und nach dem erhobenen Zeigefinger von Herrn Ramelow wird ja wohl keiner mehr Widerworte wagen, oder? Würde ich auch nicht empfehlen. Sonst gibt’s ne gepfefferte Backpfeife! Und Herrn Ramelows Handgelenk scheint mir heute besonders locker.

Und wie es nach der Wahl weitergeht, wenn jeder sein Kreuz an der Stelle gemacht hat, an der es Herr Ramelow befielt wurde beim gestrigen Wahlkampfabschluss in Erfurt sehr plastisch aber nicht minder poetisch symbolisiert:

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Herr Ramelow, wer auch immer Sie in PR-Fragen zum Wahlkampf beraten hat, kann sie überhaupt nicht leiden. Wer immer es ist, möchte mit allen Mitteln verhindern, dass Sie in den nächsten Jahren politisch irgend etwas mitzuentscheiden haben.

Erhobene Zeigefinger gehören in wilhelminische Kinderheime, Backpfeifenhände auf Wahlplakaten ins Kuriositätenkabinett und Politiker, die auf Nagelbrettern stehen unter denen Menschen liegen schlichtweg verboten.

Jeden Tag eine gute Tat…

Technorati-Tags: ,,

Manchmal ist es ganz einfach, sein Karma-Konto um einige Punkte aufzubessern.

Heute zum Beispiel brauchte ich nur meinen Fingernagel dazu. Um ein kleines “b” von einem Wahlplakat zu kratzen:

Kostet das eigentlich Punkte, wenn man sich anschließend öffentlich für seine Heldentaten rühmt?

Bestimmt…..

Mist.

Und ich dachte, ihr Farbigen seit wenigstens ein bisschen naturverbunden!

Es ist heiß in der S-Bahn. Was doppelt nervt, weil ich mal wieder in meinem Karnevalskostüm aus feinstem italienischem Tuch unterwegs bin, dass mir dabei hilft, für den Konsumentenkreditspezialisten gehalten zu werden, den ich heute verkörpere. Die Schuhe reiben mir die Fersen blutig, das Sakko erhöht meine Körpertemperatur in fiebrige Bereiche und meine Krawatte kommt mir wie das Geschenkband vor, das meiner Masochistenrolle den letzten Schliff gibt. Ich fühle mich unsicher und ein bisschen wie ein Clown.

Weil ich gern möchte, dass die Binsenweisheit “Gleich und gleich gesellt sich gern” stimmt, suche ich mir einen Platz aus, der verlangt, dass ich in meinem Aufzug durch den ganzen Wagon wanken muss. Mir gegenüber sitzt nun nämlich ein etwa gleich großer etwa gleich alter Mann, dessen Schädel genauso rasiert ist wie meiner, und dessen Brille ebenso transparent wie meine ist. Im Gegensatz zu mir ist der Mann schwarz. Und im Gegensatz zu meinem Deutsche-Bank-blauen Anzug ist sein Kostüm orange, aus Seide und über und über mit Blütenmotiven bestickt. Er sieht darin aber genauso verkleidet aus wie ich. Meine Meinung.

Ich frage mich, wo er hinfährt und warum er so angezogen ist. Während ich darauf herum denke, fällt mir auf, dass meine Rolle im Gegensatz zu seiner definiert und legitimiert ist. Ich mach heute den Konsumentenkreditspezialisten. Keiner wundert sich. Außer mir, als ich feststelle, dass ich mich in seinem prächtigen Overall nicht verkleideter fühlen würde, als in meinem muffligen Bänkerzwirn. Obwohl er doch den Exoten macht hier. So weit ich das an seiner Mimik ablesen konnte fühlt er sich aber im Gegensatz zu mir gut. Zumindest okay.

Auf den Platz neben ihn setzt sich eine junge Frau. Die finde ich sehr schön in ihrem schwarzen halblangen Baumwollkleid mit den breiten Trägern. Ihre Haut ist nicht braun, sondern eher golden und ihre Formen rund und propper aber eben nicht dick. Im Gegensatz zu mir, findet sie keinen Grund mich zu bemerken oder gar anzustarren. Was mich nicht überrascht. Ich unterstelle ihr, dass sie mich verachtet, weil ich sie eher dem linken, wenigstens aber dem Öko-Spektrum zuschreibe und sie mich wegen meiner Verkleidung sicher dem konservativen wenn nicht gar wirtschaftsliberalen.

Auf meinem linken Knie landet eine dicke Fliege. Sie krabbelt eine S-Form meinen Oberschenkel hoch, hält kurz inne und krabbelt ein Fragezeichen zurück. Nicht, dass ich Fliegen besonders mögen würde, besonders nachts nicht, besonders nicht in meinem Schlafzimmer. Aber ich bin doch sehr fasziniert von dem Gedanken, dass in diesen winzigen Beinchen Muskeln untergebracht sein sollen, und auch von der Frage, wie es wohl so ist, die Welt durch Facettenaugen wahrzunehmen.

Ich war noch mitten im Studium, als sich die Fliege erhob eine kleine Spirale durch die Luft drehte um sich dann auf dem Sitz neben mir niederzulassen. Zum letzten Mal in ihrem Leben. Denn schon während die Fliege mein Knie erkundet, nimmt sie der Mann, der mir gegenübersitzt ins Visier. Das merke ich aber erst als er anfängt, merkwürdig den Kopf zu bewegen während die Fliege ihre letzten Kreise zieht um ihrem Flug zu folgen. Jetzt, da sie still und nichtsahnend auf dem Platz neben mir sitzt zieht er die Augenbrauen zusammen und hebt ganz langsam die Hand, um sie in einem Moment höchster Konzentration blitzschnell und mit einem lauten Knall auf das Insekt niederfahren zu lassen. Die schöne Frau neben ihm erschrickt und macht ein empörtes Gesicht. Dann erstarrt die Situation für einige Sekunden. Jetzt lüftet der Mann seine Hand und gibt den Blick auf das tote Tier frei. Mit Daumen und Zeigefinger packt er es an einem Flügel und befördert es geräuschvoll in den kleinen metallenen Abfallbehälter unter dem Fenster.  Jetzt bewegt sich auch die Frau wieder.

“Warum haben Sie das gemacht?”, ruft sie und reißt die Augen dabei so weit auf, dass ich daran erinnert werde, dass menschliche Augäpfel tatsächlich Kugeln sind.

“Das Vieh hat genervt!”, antwortet der Mann in so einem ausgeprägten Hamburger Dialekt, dass mir die Mundwinkel entgleisen.

“Ja aber doch nicht sie, sondern ihn!” Sie hat mich also doch bemerkt!

“Mich hat sie nicht genervt.”, sage ich kleinlaut.

“Aber mich.”, sagt er.

“Und ich dachte, ihr Farbigen seit wenigstens ein bisschen naturverbunden!”, zischt sie.

“Ihr Farbigen!”, äfft er sie nach. “Welche Farbigen denn? Die aus dem Fernsehen, denen die Fliegen in Nase und Ohren krabbeln?”

“Keine Ahnung. Ihr Afrikaner eben!”

“Ich bin Deutscher.”, singt er lächelnd. Dann aber ernster: “Und deshalb weiß ich auch, dass ihr Weißen nicht im Stande dazu seit Insektensprays zu erfinden, die wirklich funktionieren.”

“Ich würde eh’ kein Insektenspray benutzen!”, sagt sie. Und begründet: “Jedes Lebewesen ist Teil der Schöpfung!”

Er rollt die Augen: “Ich bin auch Teil der Schöpfung. Und ich erschlage Fliegen, wenn sie nerven.”

“Ja, super.”, zickt sie.

“Super, echt!”, legt sie nochmal nach.

Dann bleibt die Zeit für drei Stationen stehen.

Dann steht er auf.

Er beugt sich zu hier herunter, verwandelt sich mimisch in Indiana Jones und sagt: “Das Leben ist ein Dschungel, Baby.”

Dann steigt er aus.

Sie schnalzt mit der Zunge und wendet sich entnervt ab.

Mir entgleisen die Mundwinkel.