Das Volk überwacht sich selbst

Andauernd werden Literaten wie George Orwell oder Aldous Huxley in unseren Zeiten durch die Feuilletons gezerrt und als weise Propheten der Überwachungsgesellschaft stigmatisiert, in der wir uns bald – vielleicht sehr bald – wiederfinden könnten. Sofern wir es überhaupt merken. Wer bei 1984 oder Brave New World über den Klappentext hinausgekommen ist, weiß, dass es in beiden Szenarios Repressoren außerhalb des Individuums waren, die es zu kontrollieren versuchten. Bei 1984 schritt die Gedankenpolizei ein um den zu sanktionieren, der nicht parteigetreu dachte. In Orwells Brave New World war es Big Brother, der immer zu sah.

Die Tragik des ewigen Wiederkäuens (hoppla: worauf kaue ich eigentlich gerade herum?) von Orwell und Huxley besteht darin, dass die Überwachungsmechanismen in ihren Werken viel intelligenter und perfider konstruiert sind, als es die Realität heute tatsächlich erfordert. Lauthals wird gegen Voratsdatenspeicherung und Onlinedurchsuchung gewettert. Dabei muss man sich in Zeiten von Facebook, Twitter, Blogger oder Myspace kaum noch anstrengen, um detailreiche Lebensprofile von Menschen erschließen zu können: Heutzutage präsentiert man auch private Informationen gern bereitwillig und ganz ohne Zwang selbst. Glücklicherweise werden die bösen, bösen Informationskraken allerdings dermaßen mit Informationen überfüttert, dass ihnen der Wissensbrei bleiern und unnütz im Magen liegt.  Ganz offensichtlich haben die meisten Science-Fiction Autoren unterschätzt, wie ungebremst und viel zu oft auch unreflektiert das Geltungs- und Sendungsbedürfnis der eitlen Menschen unserer Zeit sein würde. Der zu unerträglicher Omnipräsenz tendierende ZEIT-Redakteur Adam Soboczynski brachte das letzte Woche sehr schön auf den Punkt: “Wer schweigt, zählt nicht.”  Wer schweigt geht in der Flut dessen was andere quasseln einfach in Vergessenheit.

Will man also einen zünftigen Überwachungsstaat aufziehen, damit Orwell und Huxley endlich einmal zurecht im Feuilleton auftauchen, braucht man dringend einen neuen gut und vor allem schnell funktionierenden Verdauungstrakt für die mit Bauchweh darniederliegenden Datenkraken.

Der britische Geschäftsman Tony Morgan hat das Problem erkannt und sich freundlicherweise der Lösung eines kleinen Teils davon angenommen: den 4,5 Millionen britischer Überwachungskameras nämlich, deren Bilderflut völlig unbeherrschbar geworden ist. Nur 13 Einwohner des Vereinigten Königreiches teilen sich eine Überwachungskamera. Wer in London unter Verfolgunswahn leidet, hat schlechte Karten: Auf dem Weg zum Einkaufen wird jeder Bürger statitisch gesehen etwa 300 Mal gefilmt.

Mike Neville, der die Videoüberwachung des Landes bei Scotland Yard koordiniert, bezeichnete die Lage als “ein völliges Fiasko”. Nur drei Prozent der Diebstähle auf offener Straße können aufgeklärt

werden, weil 200 Kameras in nur einer Leitstelle mit drei bis vier Angestellten kommt, die deren Bilder auswerten sollen. Von einer Stunde Material wird durchschnittlich nur etwas weniger als eine Minute angesehen. Sogar der Guardian spottet: “Big Brother is not watching.” Das könnte auch daran liegen, dass die Sichtung des gesammelten Materials eine “enervierende und extrem langweilige Arbeit”, wie der Kriminologe Ken Pease vom University College London einräumt.

Vielleicht wird die bald spannender: Londons Polizei testete bereits 2007 sogenannte Drohnen, also winzige Kameras auf Minihelikoptern die von Beamten am Boden ferngesteuert werden können.

Bis dahin muss man der einschläfernden Lage auf anderen Wege Herr werden. Durch Inszenierung eines kurzweiligen Mixed-Reality Online Games für Hobbydetektive zum Beispiel. So bezeichnet jedenfalls Golem die Geschäftsidee von Tony Morgan, dem Gründer des kleinen Start-Ups Internet Eyes.

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Im Rahmen eines Pilotprojektes in der kleinen Stadt Stratford-upon-Avon, (deren Namen außer den knapp 24.000 Einwohnern wohl niemand kennen würde, wäre nicht Shakespeare dort geboren) sollen Internetnutzer ohne Hobbies und Freunde künftig bei der Verbrecherjagd helfen. Nach der Registrierung erhält der Nutzer Zugriff auf regelmäßig wechselnde Live-Bilder. Wann immer er etwas Verdächtiges zu entdecken glaubt, kann er mit einem roten Knopf in der Software Alarm auslösen. Daraufhin wird die zuständige Leitstelle oder der Ladendetektiv vor Ort per SMS oder E-Mail automatisch benachrichtigt und entscheidet nun, was zu tun ist. Für jede richtig erkannte Straftat erhält der Spieler Punkte, für jeden Fehlalarm Punktabzug. Der fleißigste Sherlock Holmes erhält am Ende des Monats einen Geldpreis von 1.000 Britischen Pfund. Tony Morgan sieht in seinem System “die beste Waffe zur Verbrechensverhütung aller Zeiten”

Die größte gewerbliche Kameraleitstelle Camwatch hingegen bangt um ihrer Notwendigkeit, und wirbt auf ihrer Homepage mit der Kompetenz ihrer gutgekleideten und top-geschulten Mitarbeiter. Für Bürgerrechtsbewegungen wie No-CCTV, ist der Alptraum perfekt: Ist das Pilotprojekt erfolgreich überwacht sich das Volk künftig einfach selbst. Warum auch nicht? Schließlich hat ja niemand etwas zu verbergen.

 

In Germany most people speak german

Eigentlich ging es um Handys. Handys sind ja seit der Implosion der Mobiltelefonsparte von Siemens, spätestens aber seit der Schließung des Nokia Werkes in Bochum im letzten Jahr kein besonders deutsches Phänomen mehr. Was sich gerade ändern könnte.

Der kanadischer Hersteller der in Businesskreisen zum Ersatzteddy avancierten Blackberry Mobiltelefone RIM eröffnete nämlich ebenso im letzten Jahr an Ort und Stelle ein Forschungszentrum, in dem deutsche Ingenieure an den Nachfolgern der Nachfolger künftiger Handys arbeiten.

Voller Stolz präsentierte das Unternehmen heute auf einer Pressekonferenz das erste Resultat des deutschen Think Tanks: ein neues Handy. Nicht jedoch, ohne der nach Rumänien abgewanderten Konkurrenz von Nokia mit der Bemerkung vor die Füße zu spucken, dass die extrem kurze Entwicklungszeit des Telefons von nur 12 statt üblicherweise 16 Monaten nur aufgrund der besonders effizienten deutschen Arbeitsleistung habe bewerkstelligt werden können.

Als Gastredner geladen war auch der amtierende deutsche Bundestagspräsident Norbert Lammert. Das dieser unumwunden zugab, nicht viel von Handys zu verstehen und statt dessen einen mitellangen Ausflug in die Geschichte des 21. Oktobers machte, weil er sich damit nun mal besser auskenne, blieb den meisten internationalen Journalisten verborgen. Weil diese nämlich kein einziges Wort verstehen konnten. Lammert sprach Deutsch.

Eine englische Journalistin unterbrach ihn schließlich mit dem Zwischenruf: "We don’t speak German.", woraufhin Lammert kurz von seinem Skript aufsah und lächelnd mit “In Germany the most people speak german." konterte, um anschließend zu erklären, dass, falls er Englisch spräche viele andere Anwesende nicht folgen könnten, was doch auch schade wäre. Anschließend bot er der Journalistin in fließendem, beinahe elegantem Englisch an, seine Rede nach der Veranstaltung gern für sie in ihrer Sprache zusammenzufassen.

 

Womit haben wir es hier zu tun? Mit einem Running Gag? Mit einem Trend? Mit einer verlorenen Wette?

Lammert ist nicht gerade für seine Schlagfertigkeit berühmt, so dass man sich mit einem gerüttelt Maß an mutiger Arroganz dazu hinreißen lassen könnte, ihm zu unterstellen, dass er sich für den Fall des Falles eine entsprechende Reaktion parat gelegt hatte, die er nun tatsächlich vorführte. Was wiederum bedeuten würde, das seine Reaktion wohl überlegt war. Was seinerseits nun wiederum fragt: Warum fiel seine Reaktion so aus?

Ist das eine Form neuen deutschen Selbstbewusstseins zu der uns die schießhundscharfen französischen Sprachwächter inspiriert haben? Ist das faule Scheu vor einer Fremdsprachenrede? Ein beherzter Stinkefinger gegen das arrogante Selbstverständnis englischsprachiger Journalisten?

Im Gegensatz zur tapsigen Verweigerung Westerwelles imponiert mir diese. Sie hat eine Arroganz, die mit Erhabenheit verwechselt werden könnte und eine Schlagfertigkeit die an eloquente Eleganz grenzt.

Quellen: Deutschlandradio, ruhr.business-on.de, heise.de

 

Neues Airbrush-Verfahren enthüllt: Fremdenfeindlichkeit in Deutschland!

Günter Wallraffs neuester Coup: Ein Jahr lang erlebt er braun angesprüht und mit Afro-Perücke den Alltag eines Somaliers in Deutschland. Wie alltäglich ist es aber für Schwarze, dass ihr Jahr nur 6 Wochen Tage dauert und sie währenddessen permanent von einem Filmteam und einem Fotografen begleitet werden?

Den ansonsten sehr respektabel arbeitenden Damen und Herren vom ZEIT-Magazin ist dieser “Alltag” offenbar noch investigativ genug, um ihm ein Doppelcover und sechs Heftseiten zu widmen. Wer anschließend immer noch Schmink-Tipps braucht oder generell sehr für Karneval ist, kann sich alles nochmal en detail im Kino bei “Schwarz auf Weiß – eine Reise durch Deutschland” erklären lassen. Oder er kauft sich mit “Aus der schönen neuen Welt. Expeditionen ins Landesinnere” das Buch zur Story. Vielleicht reicht aber auch schon das Video hier um zu begreifen, wie borniert Wallraff selbst ist: Der Trailer zu seinem Film zeigt nicht etwa die Ausgrenzung die er in seiner Verkleidung erfahren hat sondern wie Wallraff in der Maske zurechtgemacht wird. Mit einem echten Schwarzen auf dem Sofa, der sich am Ende dem direkten Vergleich unterziehen muss. Wow! Ein echter Schwarzer! In Deutschland!

Zweifellos leben wir in einem Land, in dem die Ausgrenzung anders Aussehender zur Tagesordnung gehört. Viele Deutsche kriegen davon leider nichts mit, weil es in ihrem sozialen Umfeld  keinen anders Aussehenden gibt. (Herrje: Ist das etwa ein Indiz?) Schon um wieder einmal daran erinnert zu werden wie dreist, wie ignorant und wie himmelschreiend dumm viele unserer deutschen Mitbürger sind, lohnt sich die Lektüre von Wallraffs Artikel. Dennoch bleiben alle Erlebnisse Wallraffs zotige Anekdoten, und ähnlich wie bei den bis zum Erbrechen rezitierten Entgleisungen von Thilo Sarrazin, die der Intellektuellen-Postille Lettre International die Auflage Ihres Lebens beschert haben dürften, steht die Eitelkeit, Sensationsgier und das Aufmerksamkeitsbedürfnis der Autoren einer ernsthaften gesellschaftlichen Debatte im Weg. War es in Sarrazins Fall vor allem die messerscharf-zynische Kopftuchmädchen-Metaphorik die den Blick auf  die durchaus angebrachte Kritik an der verfehlten Integrationsleistung aller Beteiligten vernebelte, so ist es bei Wallraff die vor die Kamera gezerrte Kuriosität des Airbrush-Verfahrens und die ewige Betroffenheits-Romantik, die der ernsthaften Auseinandersetzung mit subtilem wie offensiven Rassismus schon im Ersten Absatz den Garaus macht.

Wallraff schreib selbst:

Der alltägliche Rassismus dagegen schafft es nur selten in die Zeitungen, was nicht bedeutet, dass er seltener ist. Er schafft es nicht über die Wahrnehmungsschwelle, er gehört zum deutschen Alltag […]

Danach aber vergisst er sich darüber zu wundern, auf welch schülerzeitungshafte Art und Weise er diese Wahrnehmungsschwelle durchbricht. Was er erlebt ist für mehr als 300.000 Menschen in diesem Land tägliche Realität. An 52 Wochen im Jahr. Auch ohne Perücke.  Wofür braucht es also diese alberne Undercover-Inszenierung? 300.000 Leute in diesem Land sind auch ohne Airbrush schwarz. Mit ein paar von Ihnen (gern vermittle ich hier Kontakte) hätte er sich lediglich unterhalten brauchen um ihnen ein öffentliches Forum zu verschaffen. Oder geht es Wallraff etwa vielmehr um sein Forum?

Jede meiner Rollen ist auf eine bestimmte Art anmaßend – aber ohne diesen Schritt auf fremdes Terrain würde ich viel weniger über die Lebenswirklichkeit der Menschen erfahren, in deren Haut ich schlüpfe.

Genau so ist es. Dieses Gebaren ist nicht nur anmaßend es ist vor allem eitel. Und hat mit Lebenswirklichkeit – weder mit schwarzer noch mit weißer – rein gar nichts zu tun. Sonst würde ja auch keiner drüber schreiben, oder?

Dabei scheint Wallraff durchaus recherchiert und auch nachgedacht zu haben:

Nach einer Untersuchung des Bielefelder Soziologen Wilhelm Heitmeyer pflegt rund ein Drittel der Deutschen rassistische Vorurteile. Wie viele Menschen in Deutschland hingegen aggressiv rassistisch sind, ist umstritten. Fest steht, dass nicht unerhebliche Teile der Gesellschaft den Rassismus als ideologisches Klebemittel brauchen, um sich ihrer nationalen Identität zu versichern. [..] Fremdenfurcht, genau wie Antisemitismus, hat ja auch nichts mit realen Erfahrungen zu tun, tritt sogar umso häufiger auf, je seltener Menschen Fremden begegnen.

Tiefer dringt er nicht in die Materie ein. Dabei geht der ernsthafte Diskurs frühestens hier los: Die Angst vor dem Fremden ist eine tiefe, fast archaische Urangst des Menschen. Leichter als sie zu überwinden ist es, den Fremden zum Freund zu machen. Vor dem, der nicht fremd ist fürchtet man sich auch nicht. Fremdheit überwindet man mit Begegnung. Womit der Kreis zur verfehlten Integrationspolitik mit schönem Gruß an Thilo Sarrazin geschlossen wäre.

Lichtfest

Genau 20 Jahre nach der entscheidenden, größten Montagsdemonstration, die dem DDR-Regime lehrte, dass es nicht länger gegen sein Volk regieren könne, gingen die Leipziger wieder auf die Straße. 100.000 von Ihnen. Nur weiß man diesmal leider nicht genau warum.

Unbestritten ist der Mut, den die Leipziger vor 20 Jahren aufbrachten bewundernswert. Denn entgegen der historischen Verklärung, die sich wie über alle bedeutsamen geschichtlichen Ereignisse freilich auch über dieses legt, war Demonstrieren gefährlich. Keiner der Demonstranten wusste nämlich, was wir heute wissen: Dass die enorme Zahl der Demonstranten ein Eingreifen der in Stellung gebrachten Hundertschaften, der in Seitenstraßen wartenden Panzer und der mit Stahlmessern bestückten Schneepflüge zu einer Kriegserklärung gegen das eigene Volk erhoben hätte. Dass keiner der Demonstranten einen Stein werfen würde, der leicht eine unbeherrschbare Lawine hätte auslösen können sondern das Gebot der Friedlichkeit der bedrohlichen Stimmung tatsächlich standhält. Und auch, dass die Forderungen der Demonstranten nicht etwa niedergeschlagen sondern bereits in wenigen Wochen überfüllt sein würden.

Schließlich hatte der sozialistische Bruder China nur einige Monate vorher ständig wachsende Demonstrationen von Studenten für Demokratie auf Platz des himmlischen Friedens in Bejing blutig und rigoros niedergeschlagen. Die damalige Regierung der DDR hatte sich öffentlich hinter diese brachiale Präsentation staatlicher Macht gestellt.

Die Leipziger konnten nicht wissen, dass sie gerade den Begriff “friedliche Revolution” prägten und dass man in 20 Jahren ernsthaft darüber nachdenken würde, ihrer Stadt den Untertitel Heldenstadt zu verpassen.

Aus dieser perspektive sind die Feierlichkeiten zur Erinnerung an die Revolution wichtig und gut. Auch weil sie uns daran erinnern können, dass unsere alltägliche Freiheit alles andere als selbstverständlich ist. Tatsächlich ist es inmitten Demonstration am Freitag gelungen, ein Gefühl dafür zu bekommen, welche Macht Menschen ausstrahlen können, wenn Sie sich zusammenschließen und welches Potential frei wird, wenn sie sich erheben.  Das schlichte Mitlaufen in diesem Strom am Freitag reichte schon für tiefe Ergriffenheit und Gänsehaut.

Je weiter das Lichtfest jedoch in die Vergangenheit rückt, desto deutlicher legt sich ein dichter Schleier des Zweifels über diese Kraft: Wofür demonstrieren wir eigentlich? Was machen wir eigentlich mit der gewonnen Freiheit? Sind wir jetzt glücklicher? Geht es uns besser?

Die künstlerischen Arbeiten, die die Strecke des schon historisch gewordenen Demonstrationszuges am Freitag säumten, erregten viel Aufmerksamkeit. Erschließen konnte man sich nur die wenigsten von Ihnen ohne vorherige Lektüre. Ein dröhnende Basswellen verströmender, blau angeleuchteter Hauptbahnhof sagt nicht viel, außer, dass er viel sagen könnte. Ein Werbedisplay mit hektisch wechselnden Zahlenkolonnen wirft Fragen auf, beantwortet aber keine. Und farbige Lichsäulen die sich Hochhausfassaden hinunterstürzen sehen toll aus – schweigen aber.

Natürlich gab es auch zahlreiche Arbeiten, die sich sehr direkt mit den Protesten 1989 auseinandersetzten, die teils originale Bild- und Tonquellen verwendeten oder die Zeitzeugen zu Wort kommen ließen. Jene Arbeiten, die das aber eben nicht taten, die also nicht ausschließlich erinnern wollten, offenbarten vor allem eines: Niemand weiß genau wofür wir eigentlich heute kämpfen. Oder ob.

Die LVZ hatte an mehreren Stellen Videowände aufgestellt, auf die Demonstranten mit ihren Mobiltelefonen Nachrichten schicken konnten. Eine andere Videoarbeit gab einfach nur ein Livebild der gerade stattfindenden Demonstration wieder. Überall schossen Digitalkameras blitzend Bilder. Überall filmten winzige Handykameras das Geschehen.  Die Demonstration dokumentierte sich selbst. Warum? Die Demonstranten versicherten sich gegenseitig ihrer Ergriffenheit. Wovon? Und feierten Ihre Freiheit. Ihre Freiheit wozu?

Gelegentlich lief man durch eine Wolke Glühweindampf oder Bratwurstrauch. Und spätestens dann war es mit Händen zu greifen: Wir sind satt und träge geworden. Und an diesem Abend waren wir besoffen von der eigenen Courage. Noch immer mögen wir den starken Auftritt und das große Gefühl. Im Kino zum Beispiel.  Aber weil demonstrieren heute nicht mehr gefährlich ist haben wir uns Kletterhallen gebaut. Wenn wir uns nach Dingen sehnen kaufen wir sie uns einfach.  Und wenn wir frei sein wollen fahren wir in den Urlaub.

Ich bastel’ mir einen Atomausstieg

Der immer noch um eifrige Unterzeichner werbende offene Brief von campact beginnt mit den Worten:

CDU, CSU und FDP haben die Bundestagswahl nicht wegen, sondern trotz ihrer Position zur Atomenergie gewonnen. Nach allen aktuellen Umfragen lehnt eine deutliche Mehrheit der Bundesbürger/innen Laufzeitverlängerungen für Atomkraftwerke ab.

und schummelt ein bisschen. Denn so wahnsinnig deutlich ist diese Mehrheit in Wirklichkeit beileibe nicht : Stattliche 57 Prozent der Teilnehmer einer Onlineumfrage auf den Seiten des Umweltministeriums sprachen sich ausdrücklich für eine Rücknahme des Atomausstieges aus. Glücklicherweise war diese nicht representativ. Im Gegensatz zu einer von  Infratest dimap vorgelegten Studie, die belegt, dass nur eine hauchdünne Mehrheit der Deutschen am Automausstieg festhalten will. Mit der anderen Hälfte würde ich mich gern mal unterhalten.

Im Grunde ist es müßig, sich jetzt noch mit solchen Studien aufzuhalten: Der Wähler hat entschieden und wird erst in vier Jahren wieder gefragt. Wenn er zwischendurch Gesicht zeigen oder ein Zeichen setzen will, kann er eine Petition unterschreiben oder ein Transparent malen. Mit etwas Glück wirft Dieter H. Marx, Geschäftsführder des Deutschen Atomforums eine Blick darauf, aus dem Fenster des Verhandlungszimmers in dem er mit Frau Merkel und Herrn Westerwelle die Einzelheiten der Laufzeitverlängerung bespricht. Vielleicht hat er einen melancholischen Moment.

Der Wähler hat aber durchaus noch Trumpf im Ärmel: Sehr gern tritt er nämlich in Personalunion mit einem Konsumenten auf. Und der steuert Kraft seines Portemonnaies sehr direkt in welche Richtung die Reise geht. Dass kann man an der atemberaubenden Reformhausisierung der Lebensmitteldiscounter, an der Centifizierung der Mobilfunkanbieter oder den langen Nasen deutscher Autobauer sehr schön studieren. Unsere Kaufkraft ist ein scharfes Schwert, dass nicht nur Herrn Dieter H. Marx die Sorgenfalten ins Gesicht treiben könnte – wenn wir nur endlich lernen würden damit zu kämpfen.

Eine sehr gelungene Anleitung hier für liefern die gewitzten Zeitgenossen von atomausstieg-selber-machen.de, die sich mindestens genauso sehr wie ich darüber wundern, dass immer noch sechs von zehn Haushalten den Standarttarif des örtlichen Anbieters nutzen. In aller Regel ist der nicht nur teuer sondern auch schmutzig und radioaktiv. Die Seite stellt die vier deutschen Ökostromanbieter vor und erklärt, was diese außer der Lieferung regenerativen Stromes noch alles draufhaben. Von der Förderung dezentraler, bürgereigener Minikraftwerke bis zur Aufforstung des Regenwaldes dürfte hier für jeden was dabei sein.

Ist das geschafft, und hat man einmal gespürt wie mächtig die eigene Unterschrift sein kann, bekommt man vielleicht Lust auf mehr. Zahlreiche Unternehmen haben mittlerweile auf Ökostrom umgestellt, darunter REWEAdidas, Metro, O₂, Postbank, Fordfreenet, 1&1 (inklusive der Töchter web.de und gmx.de). Und als humorvolles Bonbon auch die Deutsche Lufthansa. Die sich offensichtlich ein bisschen dafür schämt, dass man mit einem Urlaubsflug – nur dem Hinflug! –  nach Bali so viel CO₂in die Luft pustet wie sonst in 3 Monaten. Süß. Wichtig ist aber, auch unternehmen von der Sinnhaftigkeit des Wechsels zu überzeugen. Denn in Deutschland entfällt nur knapp ein Drittel des Stromverbrauches auf private Haushalte.

Hat man dauerhaft Gefallen am strategischen Konsumieren gewonnen, ist die Zeit reif Utopia in die eigenen Lesezeichen aufzunehmen. Dann geht der Spaß erst richtig los. Aber eins nach dem anderen. Und zuerst: Ärmel hoch und wechseln.

Brückenideologie

Es ist ja eine Unart vieler großartiger Dinge, dass sie einen am nächsten Morgen mehr oder weniger stark verkatert zurücklassen. Ich sage das nicht gern, muss es aber, weil ich zur Ehrlichkeit erzogen bin: mit dem bisschen Klicken und Tippen unter dem offenen Brief vom Campact, um das ich gestern gegeben hatte, ist der Weltfrieden noch lange nicht gerettet. Wer sich die Seite mit dem offenen Brief genau ansieht, hätte das auch gestern schon merken können. Wie plausibel ist es denn, eine so komplexe Sache wie die Atomenergie in einem offenen Brief von nicht mal einer Seite zu stopfen? Und wie umfassend können die Informationen Hinter dem “5-Minuten-Info”-Knopf auf der Homepage wohl sein? Ohne Zweifel: die Lektüre dieser Informationen ist überaus lehrreich, und alles was da steht ist nachprüfbar und stimmt. Nur leider steht da eben nicht alles.

In Deutschland sind noch 17 Atomreaktoren in Betrieb. Auch Forscher, die nicht im Verdacht stehen von der Atomlobby bezahlt zu werden behaupten, dass man beim aktuellen Stand der Technik  4.000 Windräder bräuchte um einen einzigen Reaktor zu ersetzen. Und hier ist nicht von diesen niedlichen kleinen Windmühlen die Rede, mit denen wir allerorts unsere Felder verzieren sondern von Anlagen, die fast so hoch sind wie der Kölner Dom. Es könnte eng werden in einem Land, in dem sich 68.000 dieser Monstren gen Himmel recken?

Die Solarenergie könnte uns vor diesem Windradgefängnis leider nicht retten: Will man die Leistung eines Atomkraftwerkes durch Solarenergie ersetzen, müsste man eine Fläche von 330 km² mit Photovoltaik bepflastern. Und dabei sechsmal so viel Geld investieren wie in den Bau eines neuen AKW.

Wie alle Vergleiche hat auch dieser freilich einen Gehfehler: Die Technik wird sich in den nächsten Jahren voraussichtlich genauso explosionsartig fortentwickeln, wie sie in den letzten 10 Jahren gewachsen ist. Sie wird effizienter, preiswerter und klüger werden. Und neben der Solar- und Windenergie tragen freilich auch Biomasse und Wasserkraft zum Energiemix der Zukunft bei. Führt man sich dann noch vor Augen, dass der Anteil erneuerbarer Energien allein in den letzten 5 Jahren mehr als verdoppelt werden konnte, ist man beinahe versucht sich dem ideologischen “Atom-Kraft?-Nein-Danke!”-Gebrüll anzuschließen. Bis man bemerkt, dass der Anteil trotz allen Booms heute erst bei mageren 15 Prozent liegt.

Was also, wenn das Wachstum künftig  doch ins Stocken gerät? Und was, wenn es uns nicht  gelingt, unseren Energieverbrauch so drastisch wie nötig zu senken, ohne Arbeitsplätze in der energieintensiven Industrie dafür opfern zu müssen? Dann bliebe uns nur der Bau neuer Kohlekraftwerke, gegen die ja schon heute – zu recht – vehement protestiert wird. Kohlekraftwerke sind die unangefochtenen Spitzenreiter unter den Co2-Luftverpestern. Und der Gedanke, dass sie ihr Co2 künftig eben nicht mehr in die Luft sondern dank der neuen CSS-Technik einfach in Hohlräume unter die Erde pumpen mach sie auch nicht wirklich sympathischer.  Auf Hohlräume ist kein Verlass, wie wir in den Lektionen Morsleben, Gorleben und Asse II sehr einprägsam lernen mussten.

Ich bin immer sehr für einfache, idealistische, stürmische Lösungen. Radikale Parolen merkt man sich besser als verquastete Einerseits-andererseits-sowohl-als-auch-Konstruktionen. Fakt ist aber: Atomenergie ist wieder en vogue: Schweden hat seit 1980 keinen neuen Reaktor mehr gebaut, ist aber jetzt gerade wieder dabei. Finnland baut gerade einen neuen Reaktor. Gleiches gilt für Bulgarien. Und für Frankreich. Und für Tschechien auch. Sind die alle bescheuert? Ignorant? Gedankenlos? Oder vielleicht doch nur pragmatisch?

Den beiden britischen Grünen-Abgeordneten Chris Goodall und Marc Lynas droht ein Parteiausschlussverfahren, weil sie öffentlich erklären, dass die Atomkraft dabei helfe, den Klimawandel einzudämmen. Die deutsche Margareta Wolf hat den Grünen nach 28 Jahren den Rücken gekehrt, weil sie das “Märchen vom Atommausstieg für romantisch und opportunistisch” hält.

Am Wahlkampf hat mich vieles genervt. Aber das Wort “Brückentechnologie” habe ich schätzen gelernt.

Klicken für den Atomausstieg

Bestimmt sind wir uns einig: es war noch nie so einfach wie heute sich politisch zu engagieren. Während man sich früher auf Demos die Beine in den Bauch stehen musste oder an Gleise gekettet eine fiese Blasenentzündung riskierte – und womöglich eine Vorstrafe – genügen heute ein paar Klicks und die Preisgabe einiger persönlicher Daten, um sein Gewissen zu beruhigen und mit dem guten Gefühl ins Bett gehen zu können, Anteil am Design in dieser Gesellschaft genommen zu haben. So ist es mittlerweile fast zu einem Trend geworden, in der Mittagspause um Online-Petitionen zu unterzeichnen oder offene Briefe. Mein letzter war der, mit dem eifrigen Damen und Herren von campact Merkel, Westerwelle und Seehofer dazu ermahnen, unbedingt am vor 10 Jahren von Rot-Grün beschlossenen Atomausstieg festzuhalten.

Zweifellos ist der Atom-Ausstieg das respektabelste Ergebnis der Rot-Grünen-Koalition und ebenso unbestritten hat er entscheidende Weichen für eine Energiepolitik gestellt, die Deutschland zur weltweiten Nummer 1 der Photovoltaik und Windenergiebranche hat reifen lassen. Ein Vorsprung in Know-How und Technologie auf dem unser Land in den nächsten Jahrzehnten surfen könnte. Sofern uns jetzt nicht die Luft ausgeht.

Danach sieht es aber leider aus. Bereits am 29. September – also keine zwei Tage nach der Wahl – forderten alle vier AKW-Betreiber Deutschlands in gespenstischer Geschlossenheit und unmissverständlicher Deutlichkeit den Ausstieg aus dem Ausstieg:

„RWE vertraut darauf, dass die Union und die FDP ihre Wahlversprechen einhalten und die Weichen für Laufzeitverlängerungen von Kernkraftwerken stellen.“

Sollten sie damit auch nur teilweise durchkommen, ginge dem Energiesektorder Innovationsdruck verloren, der das Effizienzproblem der Solarenergie und den Speichernotstand der Windkraft momentan in atemberaubender Geschwindigkeit vor sich hertreibt. Schlagartig nämlich wäre auch in Zukunft preiswerter und stabiler Atomstrom in Hülle und Fülle verfügbar, so dass man sich gut und gerne ein paar Jahre Ruhe vom nervigen Energieeffizienz-Geschrei gönnen könnte. Und bei gewohnter Bequemlichkeit wohl auch würde.

Vorausgesetzt man besitzt die tollkühne Ignoranz zu verdrängen, dass ins sogenannte “Forschungsbergwerk Asse II”  an jedem einzelnen Tag rund 12.000 Liter Grundwasser sickern um sich irgendwo zwischen den einhundertsechsundzwanzigtausend Fässern schwach- bis mittelradioaktiven Mülls oder vielleicht auch rings um die 28 Kilo dort lagernden Plutoniums zu einer radioaktiven Lauge anzureichern. Es ist keine Lösung sondern lediglich Ausdruck völliger Ratlosigkeit, dass man diese Lauge kurzerhand von einem Schacht in den anderen pumpt. Das hat zwar den Vorteil, dass der Schacht in dem die Fässer lagern begehbar bleibt, ändert aber nichts daran, dass kein Mensch such nur den Ansatz einer Idee hat, wie man diesen unterirdischen See unschädlich oder wenigstens ungefährlich machen könnte.

Atomlobbyisten sind mächtiger als uns allen lieb sein kann, und tun ihr Bestes um uns davon zu überzeugen, dass die Menge des bei der Stromerzeugung anfallenden radioaktiven Abfalls gemessen am Wirkungsgrad geradezu lächerlich gering sei, und die Suche nach einem geeigneten sicheren Endlager kurz vor dem Abschluss stünde. Besondere Hoffnungen werden hierbei offenbar in das derzeitige Forschungslabor im französischen Bure gelegt. Die tonhaltigen Gesteinsschichten hier könnten den Atommüll für ungefähr 1.000.000 Jahre sicher einschließen, was ja gar nicht nötig sei, weil die Radioaktivität des Mülls schon nach 100.000 Jahren abgeklungen wäre. Das lässt einen erst einmal durchatmen. Wer den Meditationskurs aber geschwänzt hat, und wessen Gehirn frech und fröhlich zum nächsten Gedanken weiter springt, dem stockt der Atem schon nach einigen Sekunden wieder. Selbst wenn das ständige Fließen der irdischen Geologie das lothringische Fleckchen Erde vom Merlot besoffen vergessen sollte, bleibt das Risiko Mensch. Denn auch mit an Verblendung grenzendem Wohlwollen ist das, was wir als Zivilisation bezeichnen alles in allem höchstens 100 000 Jahre alt. Und müsste also mindestens noch einmal genauso lange halten, damit wir vor unserem Verschwinden auch fertig mit unserem Müll wären.

Atomlobbyisten lassen weiterhin nichts unversucht all jene als hysterische Esoteriker da stehen zu lassen, die vor einem schweren Störfall, im sogenannten Super-GAU warnen. Der passiere nämlich nur drei Mal in 100 000 Reaktorjahren und sei damit außerordentlich unwahrscheinlich. Wer den Meditationskurs geschwänzt hat um an der Stochastik-AG teilzunehmen weiß aber, dass immer diese Wahrscheinlichkeit (worauf immer ihre Berechnung auch fußen mag) kein Grund zur Beruhigung ist. Denn drei Störfälle in 100 000 Jahren sind genauso wahrscheinlich wie einer morgen, einer übermorgen und ein am Tag darauf.

Es mag uns in unserer selbstverliebten Technikgläubigkeit nicht gefallen, muss bis auf weiteres aber hingenommen werden: wir beherrschen die Atomenergie eben nicht. Ihre Risiken können wir vielleicht kalkulieren, aber wir können sie nicht zügeln. Und weil wir ihre Folgen – sogar die, die ganz ohne Katastrophe eintreten – nicht verantworten können, müssen wir die Finger von ihr lassen.

Diese sind auf Maus und Tastatur ohnehin viel besser aufgehoben – um den Erinnerungsbrief an die neue Regierung zu unterzeichnen.

Watch out Guido!

Nicht nur Westerwelle selbst wünscht sich sicherlich, den 18-plus-X Wahlkampf von 2005 aus den Köpfen der Menschen und den Archiven der Medien zu verbannen. Weil das nicht geht, hat er sich fürs Überpinseln entschieden. Sogar beim schon im Vorfeld nicht gerade als seriös geltenden TV-Total-Wahlkampf-Showdown letzte Woche erschien er als einziger in Schlips und Kragen und mahnte gebetsmühlenartig zur Seriosität. “Schließlich geht es weder um Sie noch um mich. Es geht um unser Land, Herr Raab.” Dass er mit Sätzen wie diesem gepunktet hat, wissen wir heute alle.

Offenbar steigt ihm sein Erfolg jedoch zu Kopf. Über den Pressekonferenz-Eklat am Montag wurde ja auf breiter Front berichtet – nicht gerade zu Westerwelles Gunsten. Für ihn offenbar Anlass genug sich bei der heutigen Pressekonferenz anlässlich der FDP-Präsidiumssitzung nochmals auf den Fremdsprachenverweigerungs-Ausrutscher zu beziehen:

“Herzlich Willkommen zur Pressekonferenz zur FDP-Präsidiumssitzung, die auf Wunsch aller ausschließlich in deutscher Sprache gehalten wurde.” Das Gelächter blieb verhalten, der Witz war eben so witzig nicht. Auch später in der Konferenz bezog er sich nochmal auf den Vorfall und zwar in einer Art und Weise, die man gutmütig durchaus als Entschuldigung verstehen könnte. Er verwies auf den harten, anstrengenden Wahlkampf, sein erheblichen Schlafdefizit und behauptete außerdem dem BBC-Journalisten die Antwort 3 mal höflich und nur ein zu vernachlässigendes Mal etwas spitz gegeben zu haben. Er bat um Nachsicht.

Vielleicht wäre man sogar versucht gewesen selbige walten zu lassen, wenn der Rest dieser Pressekonferenz nicht so katastrophal daneben gegangen wäre. Als er die Frage eines weiteren Reporters inhaltlich nicht verstand, “obwohl sie auf deutsch gestellt war”, schlug dieser gewitzt vor, dass er auch auf Altgriechisch fragen könnte. Westerwelle parierte und drohte er werde die Frage dann auf Latein beantworten. Wenn er es denn nur mal hätte.

Die Wahrheit ist: Herr Westerwelle hat keine einzige Frage beantwortet. Natürlich hat er geredet. Gebetsmühlenartig wie gewohnt. Gesagt hat er aber nichts. Weshalb sich sogar der Phoenix-Moderator Gerd-Joachim von Fallois nach Abschluss der Konferenz dazu hinreißen ließ dem irritierten Zuschauer zu erklären: “Wir Journalisten sind ja nicht freiwillig hierher gelaufen, sondern von der FDP eingeladen worden. Wenn Herr Westerwelle aber keine Fragen beantworten will, hätte man sich das auch sparen können.”

Das stimmt nicht ganz. Wie immer gab es was zu lernen. Westerwelles Weisheit des Tages: “Fragen beantwortet man nicht immer, wenn sie gestellt werden, sondern wenn sie sich stellen.” Auf die kritische Nachfrage einer Journalistin, die dieses Statement offenbar nicht nur ebenso respektlos sondern auch ebenso gefährlich für die Demokratie und die Rolle der Medien in selbiger empfand, stolperte er: “Sie dürfen meine Weigerung Ihre Fragen zu beantworten nicht in den falschen Hals bekommen.” Er könne Fragen zu den Ergebnissen der Koalitionsverhandlungen mit der Union freilich erst geben, wenn diese Verhandlungen abgeschlossen seien.

Das mag stimmen. Was aber war dann Westerwelles Ansinnen bei dieser Pressekonferenz? Hatte er erwartet, dass ihn die Journalisten nach seinem Lieblingsmüsli oder seiner aktuellen Gute-Nacht-Lektüre fragen würden?

Und viel wichtiger: Müssen wir hinnehmen, das Politiker neuerdings ungeniert und vor offenen Mikrofonen erklären, dass es Transparenz und klare Kante in der Politik nicht mehr geben kann? Ganz ähnlich polterten ja Herr zu Guttenberg und auch Herr Steinbrück bei Anne Will einen Sonntag vor der Wahl, als sie verkündeten, dass es unabhängig vom Wahlausgang harte Einschnitte geben würde, und man “Abschied von Liebgewonnenem” nehmen müsse, um sich dann trotz mehrfacher Nachfrage Wills zu weigern, auszusprechen worum es sich dabei handele.

Poor Guido!

Darüber muss man gar nicht streiten: Es war unelegant, unhöflich und belehrend, wie der deutsche Außenminister in spe Guido Westerwelle sich auf einer Pressekonferenz am Montag weigerte, die Frage eines Journalisten der BBC in Englisch zu beantworten und ihm in zweiter Instanz sogar verbot seine Frage wenigstens auf Englisch zu stellen. Zumal Sätze wie “Es ist Deutschland hier.” sogar in Westerwelles Muttersprache ziemlich dahingestolpert klingen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dennoch darf man sich darüber wundern, welch hämischen Wellen diese peinlichen 30 Sekunden im Netz schlagen.

Es ist nämlich alles andere als üblich, dass sich Politiker vor laufender Kamera in einer anderen als ihrer Muttersprache äußern, zumal dann nicht, wenn die Themen ernst oder sogar heikel sind. Das begreift man schnell, wenn man beispielsweise versucht, ein Videoschnipselchen im Netz zu finden, an dem sich die Englischkenntnisse unseres bisherigen Außenministers Frank-Walter Steinmeier prüfen ließen – es gibt keins. Auch die Suche nach einer Englischprobe von Angela Merkel endet mit null Treffern. Lediglich Joschka Fischer traut sich ein englisches Interview zu geben, allerdings erst, nachdem er aus der politischen Verantwortung des Außenministers längst entlassen ist.

Dafür gibt es nachweislich auch gute Gründe: Wenn mein Lieblingspopstar zur Eröffnung seines einzigen Deuschlandkonzertes ein besoffenes “Güten Obend Börlin” herauskaut, ist das niedlich und supersüß. Wenn aber Herr Sarkozy gleiches versucht, während er über politische Dinge spricht, kann das nur peinlich und irritierend wirken:

Das hat offenbar sogar Sarko selbst eingesehen, und sich nach der Bauchlandung umgehend für ein paar Englischstunden angemeldet. Schreibt jedenfalls der Telegraph.

Verblüffend finde ich auch, dass sich niemand über die Selbstverständlichkeit wunderte, mit der der Journalist die englische Frage stellte. Ich weiß schon, wenn ich jetzt sage, dass niemand auf einer Pressekonferenz in London auf den Gedanken käme eine deutsche Frage zu stellen, heißt es sofort, dass man das überhaupt nicht vergleichen könne, weil Englisch schließlich die derzeitig Weltsprache ist. Dass stimmt freilich. Wäre ich jedoch Journalist in Frankreich oder England, würde ich mich bemühen die entsprechende Landessprache zu erlernen. Das soll die journalistische Arbeit ja erheblich erleichtern. Und wäre außerdem Ausdruck von Respekt und Interesse.

Frustrierte bitte nach links

Als ich neulich mit einem Freund durch die Fußgängerzone einer größeren deutschen Stadt flanierte, sprach uns ein mutiger Wahlkampfhelfer der Linken an. Noch bevor dieser sein Verslein zu Ende sprechen konnte, riss mein Freund die Augen auf und rief: “Oh mein Gott! Sehen wir wirklich so frustriert aus?” Der Wahlkampfhelfer wandte sich sofort ab, mein Freund begann augenblicklich darüber zu referieren, dass wir dringend an unserer Haltung und unserem Gesichtsausdruck feilen müssten und ich fragte mich, ob es wirklich nur die Frustrierten seien, die links wählen würden.

Heute Morgen präsentierte mir Infratest dimap grafisch hübsch aufbereitet die Antwort:

Natürlich muss man dem Einwand des Neuen Deutschland statt geben: Diese Frage ist suggestiv und sogar ein kleines bisschen fies. Trotzdem ist mir die Antwort ein heller Leuchtturm im innerköpfigen Nebel der aufzieht, sobald ich zu ergründen versuche, wer warum links wählt.

Um die allermeisten Thesen der Linken wegzuwischen, braucht man maximal ein Argument(manchmal gar keines, siehe: Reichtum für alle!). Jeder weiß, dass die Rente mit 67 beispielsweise nicht dem neoliberalen Marktradikalismus sondern der demografischen Entwicklung in unserem Lande geschuldet ist. Kein vernünftiger Mensch kann ernsthaft dafür sein, morgen schon aus Afghanistan abzuziehen. Und niemand will die astronomische Rechnung zahlen, die eine pauschale Erhöhung der Harzt-IV-Bezüge auf 500 € verursachen würde.

Aber ich sehe das sein: Sozialromantik wärmt das Herz. Und so kann es sich ein bisschen wie Urlaub anfühlen, die Linke zu wählen. Einfach mal Abschalten von der nervigen Realität der Globalisierung mit all ihren billigen fleißigen Arbeitskräften in Fernost. Die Schuldenuhr einfach mal dass sein lassen, was sie ist: eine zu lang geratene Digitalanzeige. Und mal ein paar Minuten der schönen Fantasie nachhängen, den unzähligen stinkreichen Bonzen in unserem Land die Konten anzuzapfen.

Ich merke das selber: Ich bin unsachlich. Aber die Linken sind es auch. Genau wie ihre Wähler. Die aber haben mich im Gegensatz zu den Parteigranden tief beindruckt. Mit obige Antwort nämlich.

Die Wähler der Linken wissen, dass die Partei die Probleme unseres Landes weder lösen kann noch will noch jemals wird. Aber sie wählen sie trotzdem. Weil sie so prima meckern können.