Brückenideologie

Es ist ja eine Unart vieler großartiger Dinge, dass sie einen am nächsten Morgen mehr oder weniger stark verkatert zurücklassen. Ich sage das nicht gern, muss es aber, weil ich zur Ehrlichkeit erzogen bin: mit dem bisschen Klicken und Tippen unter dem offenen Brief vom Campact, um das ich gestern gegeben hatte, ist der Weltfrieden noch lange nicht gerettet. Wer sich die Seite mit dem offenen Brief genau ansieht, hätte das auch gestern schon merken können. Wie plausibel ist es denn, eine so komplexe Sache wie die Atomenergie in einem offenen Brief von nicht mal einer Seite zu stopfen? Und wie umfassend können die Informationen Hinter dem “5-Minuten-Info”-Knopf auf der Homepage wohl sein? Ohne Zweifel: die Lektüre dieser Informationen ist überaus lehrreich, und alles was da steht ist nachprüfbar und stimmt. Nur leider steht da eben nicht alles.

In Deutschland sind noch 17 Atomreaktoren in Betrieb. Auch Forscher, die nicht im Verdacht stehen von der Atomlobby bezahlt zu werden behaupten, dass man beim aktuellen Stand der Technik  4.000 Windräder bräuchte um einen einzigen Reaktor zu ersetzen. Und hier ist nicht von diesen niedlichen kleinen Windmühlen die Rede, mit denen wir allerorts unsere Felder verzieren sondern von Anlagen, die fast so hoch sind wie der Kölner Dom. Es könnte eng werden in einem Land, in dem sich 68.000 dieser Monstren gen Himmel recken?

Die Solarenergie könnte uns vor diesem Windradgefängnis leider nicht retten: Will man die Leistung eines Atomkraftwerkes durch Solarenergie ersetzen, müsste man eine Fläche von 330 km² mit Photovoltaik bepflastern. Und dabei sechsmal so viel Geld investieren wie in den Bau eines neuen AKW.

Wie alle Vergleiche hat auch dieser freilich einen Gehfehler: Die Technik wird sich in den nächsten Jahren voraussichtlich genauso explosionsartig fortentwickeln, wie sie in den letzten 10 Jahren gewachsen ist. Sie wird effizienter, preiswerter und klüger werden. Und neben der Solar- und Windenergie tragen freilich auch Biomasse und Wasserkraft zum Energiemix der Zukunft bei. Führt man sich dann noch vor Augen, dass der Anteil erneuerbarer Energien allein in den letzten 5 Jahren mehr als verdoppelt werden konnte, ist man beinahe versucht sich dem ideologischen “Atom-Kraft?-Nein-Danke!”-Gebrüll anzuschließen. Bis man bemerkt, dass der Anteil trotz allen Booms heute erst bei mageren 15 Prozent liegt.

Was also, wenn das Wachstum künftig  doch ins Stocken gerät? Und was, wenn es uns nicht  gelingt, unseren Energieverbrauch so drastisch wie nötig zu senken, ohne Arbeitsplätze in der energieintensiven Industrie dafür opfern zu müssen? Dann bliebe uns nur der Bau neuer Kohlekraftwerke, gegen die ja schon heute – zu recht – vehement protestiert wird. Kohlekraftwerke sind die unangefochtenen Spitzenreiter unter den Co2-Luftverpestern. Und der Gedanke, dass sie ihr Co2 künftig eben nicht mehr in die Luft sondern dank der neuen CSS-Technik einfach in Hohlräume unter die Erde pumpen mach sie auch nicht wirklich sympathischer.  Auf Hohlräume ist kein Verlass, wie wir in den Lektionen Morsleben, Gorleben und Asse II sehr einprägsam lernen mussten.

Ich bin immer sehr für einfache, idealistische, stürmische Lösungen. Radikale Parolen merkt man sich besser als verquastete Einerseits-andererseits-sowohl-als-auch-Konstruktionen. Fakt ist aber: Atomenergie ist wieder en vogue: Schweden hat seit 1980 keinen neuen Reaktor mehr gebaut, ist aber jetzt gerade wieder dabei. Finnland baut gerade einen neuen Reaktor. Gleiches gilt für Bulgarien. Und für Frankreich. Und für Tschechien auch. Sind die alle bescheuert? Ignorant? Gedankenlos? Oder vielleicht doch nur pragmatisch?

Den beiden britischen Grünen-Abgeordneten Chris Goodall und Marc Lynas droht ein Parteiausschlussverfahren, weil sie öffentlich erklären, dass die Atomkraft dabei helfe, den Klimawandel einzudämmen. Die deutsche Margareta Wolf hat den Grünen nach 28 Jahren den Rücken gekehrt, weil sie das “Märchen vom Atommausstieg für romantisch und opportunistisch” hält.

Am Wahlkampf hat mich vieles genervt. Aber das Wort “Brückentechnologie” habe ich schätzen gelernt.

2 Gedanken zu „Brückenideologie“

  1. Hey,
    das ist ja sehr interessant und ich hab auch schon davon gehört…Parteiausschluß bei den "Grünen" !
    Weil die Abgeordneten Chris Goodall und Marc Lynas öffentlich erklären, dass die Atomkraft dabei helfe, den Klimawandel einzudämmen…Scheinbar geht jetzt auch schon in den Grünen Parteigremien die Realität verloren!?Interessieren würde mich, wie diese Leute die Arithmetik überlisten wollen? Gott zum Gruße!

  2. Lieber Herr Bleimer,

    herzlichen Dank für ihren Beitrag.

    Wie wir gerade wieder lernen, sind Politik und Realität keine Freundinnen. Jedenfalls nicht in den Momenten, in denen es darum geht, sich als politische Gruppe zu profilieren oder wenigstens von anderen Gruppen unterscheidbar zu machen. Für die Grünen ist es im Augenblick nicht entscheidend, ob ein Ausstieg aus der Atomkraft in schon zehn Jahren realistisch ist oder nicht. Sie sind derzeit nicht in Regierungsverantwortung und müssen sich an ihren Utopien nicht messen lassen. Im Moment genügt es ihnen völlig, die Befürworter des Ausstiegs als ihre Unterstützer zu gewinnen. Weil das im Moment – die jüngsten Wahlergebnisse beweisen es – ganz gut funktioniert, wenn macht man kritische Stimmen den kurzen Prozess.

    Um also bei ihrem Bild zu bleiben: Zuerst überlisten die Grünen den Wähler; der legt sich dann mit der Arithmetik an.

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