Zu Tode rationalisiert

Am späten Nachmittag des letzten Freitags öffnet die 32-jährige Stephanie, Mitarbeiterin der Mahnabteilung von France Télécom, das Fenster an ihrem Arbeitsplatz im 4. Stock des Bürogebäudes in der Pariser Rue Médéric und stürzt sich vor den Augen ihrer Kollegin auf die Straße. Einige schreckten erst auf, als sie den Aufprall des Körpers auf der Straße hörten. Stephanie ist nicht sofort tot – eine Kollegin versucht sie mit einer Decke zu wärmen und bei Bewusstsein zu halten – zwei Stunden später erliegt die junge Frau jedoch im Krankenhaus ihren schweren Verletzungen.

Am letzten Mittwoch holt ein Störungstechniker im südwestlich von Paris gelegenen Troyes während einer Konferenz  mit anderen Mitarbeitern des Unternehmens ein Messer aus der Tasche und rammt es sich in den Bauch. Er überlebte schwer verletzt.

Vorgestern Abend wurde eine weitere Angestellte der Firma in ihrem Haus in Metz nahe der Deutschen Grenze von Angehörigen bewusstlos aufgefunden, nachdem Sie eine Überdosis Schlafmittel eingenommen hatte. Auch sie hat überlebt.

Insgesamt haben sich in den letzen anderthalb Jahren 23 Mitarbeiter von France Télécom das Leben genommen. 12 weitere überlebten ihre Suizidversuche.

Als Reaktion setzte der französische Arbeitsminister Darcos am Dienstag einen Behördenvertreter zur Überwachung der Gesundheitssituation bei dem Telekommunikationskonzern ein und traf sich heute mit France Télécom-Chef Didier Lombard um nötige Maßnahmen zu besprechen. Psychisch labile Mitarbeiter sollen nun Zugang zu betrieblich organisierter psychologischer Betreuung erhalten – per Telefonhotline. Weiterhin sollen 100 Personalreferenten eingestellt werden, die die angespannte Lage im Unternehmen analysieren und entspannen sollen. Außerdem soll der massive Umbau des Unternehmens bis Ende Oktober auf Eis gelegt werden. Das alles kann man hier, hier oder hier nachlesen.

Selbstverständlich versucht die Konzernleitung die Situation herunterzuspielen, in dem sie beispielsweise darauf hinweist, dass sich die unternehmensinterne Selbstmordrate statistisch gesehen im normalen Bereich bewegen würde. Außerdem heißt es, dass es sich bei den tragischen Todesfällen grundsätzlich zuerst um persönliche und nicht um betriebliche Dramen handele. Stephanie zum Beispiel, habe psychische Probleme gehabt, wie Personalchef Olivier Barberot dem “Journal du Dimanche” erklärte. "Sie hat 2008 nur 58 Tage gearbeitet und hat in diesem Jahr an 61 Tagen gefehlt. Wir haben reagiert, indem wir ihre Arbeitsbelastung reduziert haben." In den Tod sprang sie allerdings, nachdem sie erfahren hat, dass sie einen neuen Vorgesetzten bekommen soll.

Der Störungstechniker habe ebenfalls überreagiert. Seine Stelle sei zwar weggefallen, ihm sei aber eine vergleichbare Position an anderer Stelle im Unternehmen angeboten worden.

Eine andere Sprache sprechen die Abschiedsbriefe, die einige Mitarbeiter hinterlassen haben. In einem heißt es, dass die mit der Versetzung in einen Vorort von Straßburg verbundene Ferne zu Heimat und Familie unerträglich sei. Ein anderer beschreibt, dass die neue Technik am Arbeitsplatz einfach nicht unter Kontrolle zu bringen wäre. In einem dritten öffentlich gewordenen Brief heißt es wörtlich:

Ich habe mich wegen meiner Arbeit bei France Télécom umgebracht. Das ist der einzige Grund.
Dauernde Dringlichkeit, überlastet von der Arbeit, das Fehlen von Ausbildung, die totale Desorganisation des Unternehmens. Ein Management, das über Terror funktioniert.
Das hat mich selbst völlig durcheinandergebracht und verstört. Ich bin zum Wrack geworden, es ist besser, dem ein Ende zu setzen.

"Es handelt sich nicht nur um persönliche Dramen", sagte der Vorsitzende der Arbeitnehmerorganisation CFDT, François Chérèque am Montag. "Wir haben hier ein Unternehmen, dessen einziges Ziel es ist, Cash und Knete anzuhäufen, und dabei verlangt man von den Beschäftigten immer mehr Rentabilität".

Tatsächlich werden enorme Anstrengungen unternommen, den ehemaligen Staatskonzern fit für den internationalen Wettbewerb zu machen. So wurden in den vergangenen Jahren 22.000 Stellen abgebaut, weitere 7.000 Mitarbeiter wurden versetzt, weil das Unternehmen zahlreiche kleinere Niederlassungen geschlossen hat und immer noch schließt um sie in größeren zu bündeln. Dieser Stellenab und –umbau ist offenbar noch längst nicht beendet: "Alle Angestellten erhalten regelmäßig per Mail Angebote, das Unternehmen zu verlassen", sagt Philippe Meric von der Gewerkschaft SUD. "Die Manager haben Vorgaben, die Mitarbeiter zu ermuntern, zu gehen."  Erreichen sie dieses Ziel, erhalten sie eine entsprechende finanzielle Belohnung.

Dementsprechend überrascht es niemanden, dass die Krankheitsquote im Unternehmen im letzten Jahr um sieben Prozent gestiegen ist.

Letzten Donnerstag nun demonstrierten zahlreiche Angestellte gegen die in ihren Augen unerträglichen Arbeitsbedingungen. Auf Transparenten bezeichneten sie diese als “terreur” und forderten: "Stoppt das Leiden bei der Arbeit".

France Télécom ist sicher das deutlichste, längst aber nicht das einzige Beispiel für regelrechte Selbstmordwellen in französischen Unternehmen. Vor zwei Jahren, gab es in den Entwicklungsabteilungen der Autokonzerne Renault und PSA ebenso eine Reihe von Suizidfällen binnen kurzer Zeit.

Mich macht das betroffen und sehr ratlos. Ich selbst arbeite für eine international agierende Bank und weiß, dass die Maschine Erwerbsarbeit gierig ist und man sich sehr gut an seinen privaten, moralischen, ideellen Wurzeln festhalten muss um nicht im sich selbst immer weiter rationalisierenden Räderwerk verloren zu gehen. Oft liest man vom “Kapitalismusbergwerk” oder vom “Hamsterrad”. Psychische Erkrankungen nehmen auch hierzulande zu, das Burn-Out wird zur neuen Volkskrankheit. Und ich verstehe nicht ganz, warum.

Natürlich: Arbeitspensum und –komplexität steigen immer weiter, die Globalisierung und vielleicht auch die Gier zwingt Unternehmen Prozesse immer effizienter und rationeller zu arbeiten, und noch immer Leben wir in einer Gesellschaft, in der sozialer Status direkt von der Teilnahme am oder dem Ausgeschlossensein vom Erwerbsleben abhängt.

Fraglich ist doch aber, wie hoch der Druck, wie stark der “terreur” und wie aufgerieben und ausgebrannt das Nervenkostüm eines Menschen sein muss, damit er direkt durchs offene Fenster am Arbeitsplatz in den Tod springt. Welchen Stellenwert hat die berufliche Stellung für so einen Menschen? Und wie konnte sie so bedeutungsvoll, so wichtig werden, dass sie über Leben und Tod entscheidet?

Hätte die einer Kündigung folgende Arbeitslosigkeit wirklich das Ende aller Möglichkeiten bedeutet? Hätte es nicht die Möglichkeit gegeben, sich einen anderen Arbeitgeber zu suchen?

Selbstverständlich kann ich mir kein Urteil über die 23 Verstorbenen erlauben. Aber an diesem Beispiel wird so deutlich wie selten, dass das Konzept von Erwerbsarbeit als Sinnstifter, als Lebensinhalt, als Maßstab für Erfolg oder Misserfolg eines Menschenlebens nie angemessen war und sich selbst überholt hat. Die Frage die jetzt kommt ist noch schwieriger:

Wofür leben wir eigentlich?

Wenn es nun aber so ist, dass die Erwerbsarbeit zum Lebensinhalt vieler geworden ist, was ja nicht zuletzt auch darin begründet liegt, dass sie vielerorts den Löwenanteil der Lebenszeit und –energie beansprucht, dann muss man fragen, was aus ihr geworden ist bzw. was aus ihr wird: Wenn die Arbeit verlangt, dass sich der einzelne über sie definiert, muss sie ihn auch wertschätzen.

 

Quellen: Nouvel Obs, Le Point, Die Welt, Telepolis

Nicht schwitzen!

Dafür, dass einem an jeder Straßenecke prophezeit wird, wie waaahnsinnig langweilig der heutige Fernsehabend sein wird solange man nicht “Die Simpson – Der Film” guckt, ist das mediale Rauschen um das anstehende TV-Duell zwischen Steinmeier und Merkel doch ziemlich laut, oder?

Gysi schimpft über das„Regierungs-Selbstgespräch zwischen Kanzler und Vize-Kanzler Steinhauer, äh, meier“ und fragt sich, “wie’se da Spannung reinkriejen wolln", während Westerwelle dem verhinderten Zuschauer die “Realsatire” freundlicherweise schon mal vorab zusammenfasst: “Frau Merkel wird dann sagen: Frank-Walter, es war nicht alles schlecht. Und Frank-Walter sagt: Da hast du recht, Angela.” Frau Künast hingegen übt sich in Sachlichkeit und erklärt, es sei schlichtweg "undemokratisch, wenn nicht alle Parteien ihre Konzepte darlegen können". Trotz ehrlichem und aufrichtigem darüber Nachdenken fällt mir kein Argument dagegen ein: Das stimmt wohl. Ebenso richtig scheint mir zu sein, dass der Gesprächsrunde heute Abend deutlich Potential verloren geht, weil die drei oben genannten einfach ausgesperrt wurden. Deren Zusammentreffen am Donnerstag bei Maybrit Illner war nicht nur aufschlussreich sondern durchaus auch verblüffend, gerade in Bezug auf die eigentlich ja streng verbotene aber teilweise geradezu aufdringliche programmatische Ähnlichkeit von Grünen und FDP.

Aber nicht nur die Leugnung jeglicher oppositionellen Kraft treibt mir mit Blick auf die Sendung heute Abend Falten der Irritation auf die Stirn:

1. Wer heute die Fernsehzeitung aufschlägt lernt das gruseln: Das TV-Duell läuft auf 5 Kanälen gleichzeitig. Auf Phoenix wird das Geschehen simultan in Gebärdensprache übersetzt, alle anderen Kanäle, nämlich das Erste, das ZDF, RTL und Sat.1 werden sich nur durch das eingeblendete Logo voneinander unterscheiden. Ganz ehrlich: Was soll das? Gewinnen RTL und Sat.1 durch einen einzigen Abend tatsächlich an politischem Profil? Glaubt das jemand? Oder wäre bei einer erwarteten Einschaltquote von 20 Millionen jede andere Programmierung schlichtweg zu teuer?

2. Obwohl es schon die Sache schon beim letzten Mal eher zur Komödie denn zum Action-Kracher gemacht hat, werden auch diesmal vier Moderatoren – genau: einer nämlich von jedem beteiligten Sender – auf die Kandidaten losgelassen. Vielleicht ist das Kindergartenfairness fürs Leben, und vielleicht sind die zu erwartenden Gockelkämpfe zwischen Herrn Plasberg und Herrn Kloeppel auch unterhaltsam, der Seriosität der Sache dienlich ist diese Moderatoren-Gruppentherapie wohl aber nicht.

3. Die Regeln des Duells sind vorab veröffentlicht, damit alle Hobbyschiedsrichter, die es pünktlich vom Dorfsportplatz zur Tagesschau geschafft haben, die Trillerpfeife für Fouls auch zuhause nur aus dem Mund nehmen müssen, um die Bierflasche anzusetzen. Neben der Begrenzung und peinlichen Überwachung der Redezeit auf 90 Sekunden pro Frage finden sich im Regelwerk auch so sinnige Vorgaben wie das Verbot jeglicher Gegenstände auf dem Pult außer Papier und Stift. Wollte jemand einen Teddy mitbringen oder was?

4. Lässt man auch dieses Mal den Regisseur Volker Weicker an die Steuerknüppel hinter den Kulissen. Weicker ist gut und preisgekrönt. Vor allem für Fußballspiele, Formel-1-Übertragungen und (Aufpassen!) Boxkämpfe. Und wie ein Boxkampf soll die ganze Nummer wohl auch wirken. “Blutgrätschen sind verboten”, titelt der Tagesspiegel zynisch. Gut zu wissen.

Soweit ich das verstanden habe, ist das hier ein Bundestagswahlkampf. Es geht darum, als Wähler zu entscheiden, wem man am ehesten zutraut, das Land halbwegs passabel durch diese ja nicht ganz einfache Zeit zu navigieren. Es geht nicht darum, wem im TV-Event des Jahres die markigsten Sprüche einfallen und wer überzeugender mit den Armen wedelt sondern darum, die zur Wahlstehenden Inhalte in einer kompakten 90-minütigen Gesprächsrunde – keinem Fußballspiel – direkt gegenüberzustellen.

Das hab ich aber ganz offensichtlich missverstanden, wie ein Blick in die Medien verrät:  Der RBB beispielsweise widmet dem Duell im Vorfeld ein Medienmagazin in dem die Moderatoren der Sendung – und nicht etwa die Kandidaten – ins Blaue drauf los schwadronieren dürfen. Die Zeit hingegen erhofft sich vom Duell die Wahlkampfwende, und gibt obendrauf gleich noch hilfreiche Tipps in Steinmeiers Richtung: “So kann ein schwitzender Kandidat etwaige Zweifel an seiner Eignung bestätigen.”

Da kann man nur hoffen, dass Steinmeiers Antitranspirant heute Abend nicht versagt bzw.. dass Udo Walz nicht gerade heute mit einer akuten Magen-Darm-Infektion darnieder liegt. Glaubt man den Medienmachern, könnte Merkel die Wahl verlieren, wenn ihre Haare heute Abend nicht perfekt sitzen.

Wenn man sich mal auf der Zunge zergehen lässt, für wie bescheuert leicht manipulierbar der Wähler von einigen Medienfuzzis Medienmachern gehalten wird, könnte man tatsächlich Lust auf einen Boxkampf bekommen.

Caster – Die Ausgestellte

Das ist doch spitzenmäßig, dass die subversiven, investigativen Top-Journalisten des australischen Daily Telegraph derartig gut vernetzt sind, dass sie der ins Zentrum der aktuellen Genderdebatte gezerrten  (kopfkompass berichtete) südafrikanischen Sportlerin Caster Semenya die Resultate ihres von der IAAF angeordneten Geschlechtstestes hübsch aufbereitet in der Morgenausgabe des Blattes präsentieren kann. Et voila!

Vielleicht ist es ein klitzekleines bisschen problematisch, dass Semenya den australischen Telegraph höchstwahrscheinlich nicht abonniert hat, da er leider, leider auf einem anderen Kontinent erscheint. Und vielleicht ist es auch ein klein wenig schade, dass die Ergebnisse weder offiziell noch bestätigt sind, da eben noch nicht alle Testergebnisse vorliegen. Und etwas unglücklich ist wohl auch, dass Semenya von diesen Ergebnissen im Vorfeld der nun doch sehr öffentlichen Veröffentlichungen nichts wusste. Bei allem Gutmenschsein, wünscht man dem anonymen, nicht genannten weil nicht genannt werden wollenden Informanten dann doch, dass auch er eines Tages aus der internationalen Farbbild-Presse erfährt, dass sich unter seinem Bierbauch nicht nur ein hoffnungslos überdehnter Magen sondern auch zwei prächtige Eierstöcke befinden.

Die sehr gut funktionierenden Netzwerke haben jedenfalls ans gleißende Tageslicht gebracht, das Semenya tatsächlich weder Mann noch Frau ist. Wer Lust auf biologische, hormonelle und organische Details hat, kann diese hier befriedigen, und sich dann kopfüber in das morastige Und-wie-jetzt-weiter? stürzen, das sich nach der Lektüre auftut.

Es wird beispielsweise allen ernstes darüber nachgedacht Semenya ihre Goldmedaille abzuerkennen, weil sie über dreimal soviel Testosteron wie normale Frauen verfügt. Allein schon bei diesem einzelnen Gedanken wird mir ganz schummrig zumute, ob all der umherschwirrenden Fragezeichen. Lassen wir den spannenden Exkurs darüber, was normale Frauen sind der Einfachheit halber mal beiseite. Wer kann aber ernsthaft davon ausgehen, dass es sich bei irgendeiner der beim 800m-Lauf der Berliner Leichtathletik-WM gestarteten Läuferinnen um eine “normale Frau” handelte? Ich verwette mutig mein Y-Chromosom (hoppla, hab ich überhaupt eines?) darauf, dass ausnahmslos jede von denen einen erhöhten Testosteron-Spiegel hatte, weil das im Leistungssport unserer Tage wohl einfach zum guten Ton, zumindest aber zu den Voraussetzungen für eine minimale Siegchance gehört. Und dann wüsste ich noch gern, seit wann genau eben dieser Testosteron-Spiegel bei Leistungssportlerinnen gemessen wird. Ach, das wird gar nicht generell gemacht sondern nur in Ausnahmefällen? Konkret wurde das eigentlich nur bei Semenya gemacht? Oha. Soso. Ob das wohl zu den obskuren Rassismus- und Sexismus-Vorwürfen geführt hat? Hm.

Vom wahrscheinlich sehr schmerzhaften öffentlichen Planieren der intimsten Privatsphäre mal abgesehen, scheinen mir solche generellen Tests allerdings als durchaus sinnvoll. Jedenfalls solange, bis im Leistungssport begriffen wurde, dass es natürlich die verlässlichen und heimeligen Pole männlich und weiblich gibt, in deren vertrauten Schein wir uns gern wärmen, dass sich dazwischen aber ein weites und spannendes Feld auftut, in dem echte Menschen mit echten Gefühlen, Familien Biographien und so weiter leben. Und mit dem echten und eigentlich selbstverständlichen Recht auf persönliche Würde.

Semenya selbst sagt laut Spiegel:

“Ich halte das für einen Witz, das regt mich nicht auf. Gott hat mich so erschaffen, wie ich bin, und ich akzeptiere mich.”

und ich hoffe sehr, dass es sich für sie auch wirklich so anfühlt. Glauben kann ich es nicht. Erst recht nicht, wenn ich mir die ziemlich angestrengten Modefotos des südafrikanischen You Magazine ansehe.

Herbst

toter schmetterling-pola

Heute Nachmittag am Wannsee fiel ein Schmetterling tot vom Himmel und landete mit einem leisen Klick  auf meiner Schulter, von der aus er so langsam meine Brust hinunter trudelte, dass ich seinen Fall sachte mit meiner Hand aufhalten – nein: unterbrechen – konnte.

Offenbar war er schon länger tot, denn unter seinen Flügeln hatte bereits eine Ameisengesandtschaft mit der sorgfältigen Demontage begonnen. Es war es der Wind, der den schillernden Leichnam noch einmal hatte schweben lassen. Und ich war es, der ihn nun in eine kleine Kuhle im Waldboden legte damit die Ameisen aus ihm einen neuen Frühling bauen können.

Aber dalli: Wählen gehen!

Raus aus den Federn und ab zur Urne, aber zack zack! Auf dem Rückweg kann ja wer will ja frische Brötchen von der Tanke mitbringen. Gefrühstückt wird nämlich nach der Wahl.

Wählen ist erste Bürgerpflicht. Und nach dem erhobenen Zeigefinger von Herrn Ramelow wird ja wohl keiner mehr Widerworte wagen, oder? Würde ich auch nicht empfehlen. Sonst gibt’s ne gepfefferte Backpfeife! Und Herrn Ramelows Handgelenk scheint mir heute besonders locker.

Und wie es nach der Wahl weitergeht, wenn jeder sein Kreuz an der Stelle gemacht hat, an der es Herr Ramelow befielt wurde beim gestrigen Wahlkampfabschluss in Erfurt sehr plastisch aber nicht minder poetisch symbolisiert:

1 2

3 4

Herr Ramelow, wer auch immer Sie in PR-Fragen zum Wahlkampf beraten hat, kann sie überhaupt nicht leiden. Wer immer es ist, möchte mit allen Mitteln verhindern, dass Sie in den nächsten Jahren politisch irgend etwas mitzuentscheiden haben.

Erhobene Zeigefinger gehören in wilhelminische Kinderheime, Backpfeifenhände auf Wahlplakaten ins Kuriositätenkabinett und Politiker, die auf Nagelbrettern stehen unter denen Menschen liegen schlichtweg verboten.

Jeden Tag eine gute Tat…

Technorati-Tags: ,,

Manchmal ist es ganz einfach, sein Karma-Konto um einige Punkte aufzubessern.

Heute zum Beispiel brauchte ich nur meinen Fingernagel dazu. Um ein kleines “b” von einem Wahlplakat zu kratzen:

Kostet das eigentlich Punkte, wenn man sich anschließend öffentlich für seine Heldentaten rühmt?

Bestimmt…..

Mist.

Und ich dachte, ihr Farbigen seit wenigstens ein bisschen naturverbunden!

Es ist heiß in der S-Bahn. Was doppelt nervt, weil ich mal wieder in meinem Karnevalskostüm aus feinstem italienischem Tuch unterwegs bin, dass mir dabei hilft, für den Konsumentenkreditspezialisten gehalten zu werden, den ich heute verkörpere. Die Schuhe reiben mir die Fersen blutig, das Sakko erhöht meine Körpertemperatur in fiebrige Bereiche und meine Krawatte kommt mir wie das Geschenkband vor, das meiner Masochistenrolle den letzten Schliff gibt. Ich fühle mich unsicher und ein bisschen wie ein Clown.

Weil ich gern möchte, dass die Binsenweisheit “Gleich und gleich gesellt sich gern” stimmt, suche ich mir einen Platz aus, der verlangt, dass ich in meinem Aufzug durch den ganzen Wagon wanken muss. Mir gegenüber sitzt nun nämlich ein etwa gleich großer etwa gleich alter Mann, dessen Schädel genauso rasiert ist wie meiner, und dessen Brille ebenso transparent wie meine ist. Im Gegensatz zu mir ist der Mann schwarz. Und im Gegensatz zu meinem Deutsche-Bank-blauen Anzug ist sein Kostüm orange, aus Seide und über und über mit Blütenmotiven bestickt. Er sieht darin aber genauso verkleidet aus wie ich. Meine Meinung.

Ich frage mich, wo er hinfährt und warum er so angezogen ist. Während ich darauf herum denke, fällt mir auf, dass meine Rolle im Gegensatz zu seiner definiert und legitimiert ist. Ich mach heute den Konsumentenkreditspezialisten. Keiner wundert sich. Außer mir, als ich feststelle, dass ich mich in seinem prächtigen Overall nicht verkleideter fühlen würde, als in meinem muffligen Bänkerzwirn. Obwohl er doch den Exoten macht hier. So weit ich das an seiner Mimik ablesen konnte fühlt er sich aber im Gegensatz zu mir gut. Zumindest okay.

Auf den Platz neben ihn setzt sich eine junge Frau. Die finde ich sehr schön in ihrem schwarzen halblangen Baumwollkleid mit den breiten Trägern. Ihre Haut ist nicht braun, sondern eher golden und ihre Formen rund und propper aber eben nicht dick. Im Gegensatz zu mir, findet sie keinen Grund mich zu bemerken oder gar anzustarren. Was mich nicht überrascht. Ich unterstelle ihr, dass sie mich verachtet, weil ich sie eher dem linken, wenigstens aber dem Öko-Spektrum zuschreibe und sie mich wegen meiner Verkleidung sicher dem konservativen wenn nicht gar wirtschaftsliberalen.

Auf meinem linken Knie landet eine dicke Fliege. Sie krabbelt eine S-Form meinen Oberschenkel hoch, hält kurz inne und krabbelt ein Fragezeichen zurück. Nicht, dass ich Fliegen besonders mögen würde, besonders nachts nicht, besonders nicht in meinem Schlafzimmer. Aber ich bin doch sehr fasziniert von dem Gedanken, dass in diesen winzigen Beinchen Muskeln untergebracht sein sollen, und auch von der Frage, wie es wohl so ist, die Welt durch Facettenaugen wahrzunehmen.

Ich war noch mitten im Studium, als sich die Fliege erhob eine kleine Spirale durch die Luft drehte um sich dann auf dem Sitz neben mir niederzulassen. Zum letzten Mal in ihrem Leben. Denn schon während die Fliege mein Knie erkundet, nimmt sie der Mann, der mir gegenübersitzt ins Visier. Das merke ich aber erst als er anfängt, merkwürdig den Kopf zu bewegen während die Fliege ihre letzten Kreise zieht um ihrem Flug zu folgen. Jetzt, da sie still und nichtsahnend auf dem Platz neben mir sitzt zieht er die Augenbrauen zusammen und hebt ganz langsam die Hand, um sie in einem Moment höchster Konzentration blitzschnell und mit einem lauten Knall auf das Insekt niederfahren zu lassen. Die schöne Frau neben ihm erschrickt und macht ein empörtes Gesicht. Dann erstarrt die Situation für einige Sekunden. Jetzt lüftet der Mann seine Hand und gibt den Blick auf das tote Tier frei. Mit Daumen und Zeigefinger packt er es an einem Flügel und befördert es geräuschvoll in den kleinen metallenen Abfallbehälter unter dem Fenster.  Jetzt bewegt sich auch die Frau wieder.

“Warum haben Sie das gemacht?”, ruft sie und reißt die Augen dabei so weit auf, dass ich daran erinnert werde, dass menschliche Augäpfel tatsächlich Kugeln sind.

“Das Vieh hat genervt!”, antwortet der Mann in so einem ausgeprägten Hamburger Dialekt, dass mir die Mundwinkel entgleisen.

“Ja aber doch nicht sie, sondern ihn!” Sie hat mich also doch bemerkt!

“Mich hat sie nicht genervt.”, sage ich kleinlaut.

“Aber mich.”, sagt er.

“Und ich dachte, ihr Farbigen seit wenigstens ein bisschen naturverbunden!”, zischt sie.

“Ihr Farbigen!”, äfft er sie nach. “Welche Farbigen denn? Die aus dem Fernsehen, denen die Fliegen in Nase und Ohren krabbeln?”

“Keine Ahnung. Ihr Afrikaner eben!”

“Ich bin Deutscher.”, singt er lächelnd. Dann aber ernster: “Und deshalb weiß ich auch, dass ihr Weißen nicht im Stande dazu seit Insektensprays zu erfinden, die wirklich funktionieren.”

“Ich würde eh’ kein Insektenspray benutzen!”, sagt sie. Und begründet: “Jedes Lebewesen ist Teil der Schöpfung!”

Er rollt die Augen: “Ich bin auch Teil der Schöpfung. Und ich erschlage Fliegen, wenn sie nerven.”

“Ja, super.”, zickt sie.

“Super, echt!”, legt sie nochmal nach.

Dann bleibt die Zeit für drei Stationen stehen.

Dann steht er auf.

Er beugt sich zu hier herunter, verwandelt sich mimisch in Indiana Jones und sagt: “Das Leben ist ein Dschungel, Baby.”

Dann steigt er aus.

Sie schnalzt mit der Zunge und wendet sich entnervt ab.

Mir entgleisen die Mundwinkel.

 

Caster – Der Ausgezeichnete?

 

Der Vorname Caster ist eine Spielart des aus dem griechischen Stammenden Kastor, was soviel bedeutet wie: Der Ausgezeichnete. Der mythologische Kastor war Sohn des Zeus, und Zwillingsbruder des Pollux. Und er war nicht: Weiblich.

Wer das nun aber als klares Indiz dafür wertet, dass die im Moment wegen ihres Geschlechts und nicht etwa wegen ihrer außerordentlichen sportlichen Leistungen ins Rampenlicht gezerrte Südafrikanerin Caster Semenya cleverer Kopf einer fiesen Gender-Sportbetrüger-Bande ist, der ja zumindest noch ihre Mutter und ihr Trainer angehören müssten, sollte sich vorsehen. Niemand würde Herrn Herbst oder Herrn Brandauer unterstellen, sie hätten permanent die Brüste hochgebunden, nur weil einer Ihrer Vornamen Maria ist.

Aber von vorn: Die gerade einmal 18 Jahre alte Sportlerin aus dem Südafrikanischen Dorf Fairlie lief das 800 Meter Finale der Frauen bei der diesjährigen Leichtathletik WM in nur 1:55,45 Minuten und stellte damit eine neue Weltjahresbestzeit auf. Dies verblüffte einerseits, weil der Name Semyana vor drei Wochen in der Leichtathletik-Szene noch ein völlig unbekannter war, und anderseits weil ihr Sieg alles andere als knapp war:

 

 

Naürlich sorgte das für Skepsis. Wer ist dieses Ausnahmetalent? Woher kommt sie plötzlich? Und: Kann da alles mit rechten Dingen zugehen? Auf Veranlassung des Leichtathletik-Weltverbandes IAAF wird nun das Geschlecht der Sportlerin geprüft. Und auch wenn sich einige Journaillen die bräsige Geschmacklosigkeit nicht verkneifen können: So ein Test ist eben nicht damit erledigt, dass die betreffende Person mal eben die Hosen runter lässt.

In fast jedem Artikel über die Angelegenheit ist zu lesen, dass sie offenbar häufiger für einen Mann gehalten wird. Gern wird dann das Beispiel von der südafrikanischen Autobahnraststätte angeführt, auf der man Semenya den Zugang zur Damentoilette verwehren wollte. Sie habe hier mit der Bemerkung gekontert, dass sie gern ihre Hosen runter lassen könnte um zu beweisen, dass sei eine Frau sei.

Fakt ist aber ganz offensichtlich: Caster Semenya definiert sich als Frau und hat keinerlei Zweifel an ihrer Weiblichkeit. Sie wurde als Mädchen erzogen und von ihrem persönlichen Umfeld als Frau behandelt. Was höchstwahrscheinlich im Vorhandensein weiblicher Genitalien begründet liegt. Und Sogar IAAF Verbandsprecher Nick Davie sieht ein:  "Wenn die Athletin ihr Leben lang davon ausgegangen ist, dass sie eine Frau ist, kann man nicht behaupten, dass sie betrügen wollte."

Aus meiner Sicht haben wir es hier mit allen Möglichen Problemen zu tun, nur nicht mit dem einer Betrügerin aufgesessen zu sein.

1. Sport als Massenevent funktioniert über Rekorde. Und selbstverständlich über Geld. Die Leichtathletik-WM würde dem ZDF nicht sogar noch gegen Ende Marktanteile um die 25% bescheren, wenn nicht Abend für Abend mit neuen Rekorden zu rechnen wäre.

Dass diese Rekorde aber 2. auch mit dem härtesten Training und dem stärksten Talent längst nicht mehr aufzustellen sind dämmert uns zwar allmählich wird aber nach wie vor mit großem Aufwand verdrängt. Ich will die Sportler nicht unter Doping-Generalverdacht stellen, bin aber überzeugt davon, dass die Wahl des richtigen Aufbaupräperats und des erfahrensten Arztes mittlerweile mindestens genauso ausschlaggebend ist wie Disziplin, Ausdauer und Training. Die Frage ist heute vielfach nicht mehr, ob man etwas einnimmt sondern lediglich was. Die Liste der verbotenen Dopingsubstanzen wird ständig erweitert und wann immer ein bis dato legale Substanz auf den Index gerät weichen die Sportler auf andere Substanzen aus.

Wenn dem so ist, dürfen wir alle uns aber 3. dann nicht wundern, wenn wir es plötzlich mit Athletinnen zu tun haben, deren Bizeps selbst Bulli aus dem Fitnessstudio um die Ecke wie einen Schuljungen aussehen lässt.

4. Ist es keine Neuigkeit, dass Aufbaupräperate und Wachstumshormone, die Leistungssportler wohlgemerkt vor allem beim heimischen Training und nicht unmittelbar vor Wettkämpfen zu sich nehmen teils schwerwiegende Auswirkungen auf den Hormonhaushalt der Athleten haben. Mit allen phänotypischen Konsequenzen. Prominentestes Beispiel ist wohl die ehemalige DDR-Kugelstoßerin Heidi Krieger, die 1986 erstmals mit männlichen Geschlechtshormonen gedopt wurde und sich als letzte Konsequenz 1997 einer Geschlechtsumwandlung unterzog um fortan als Andreas Krieger zu leben.  Selbstverständlich ist diese Entscheidung nicht direkt auf die verabreichten Hormone zurückzuführen. Krieger sagt aber selbst, dass die Vermännlichung ihres Äußeren sehr stark dazu beigetragen habe.

5. Leben wir nach wie vor in einer Gesellschaft, in der es zwischen männlich (Bulli aus dem Fitnessstudio) und weiblich (Gabi aus dem Nagelstudio) nichts geben darf. 

Ist damit eigentlich irgend wer zufrieden?

Die flinken Kenianer entlarvt von den cleveren Deutschen

Wer sich die erschreckend-amüsante und dringend empfehlenswerte Lektüre von Noah Sows Buch “Deutschland Schwarz Weiß” gegönnt hat, weiß, dass bei der On- wie der Offline-Publikation des Spiegel mit der einen oder anderen rassistischen Entgleisung zu rechnen ist.  Wie schnell passiert es doch, dass aus 1,3 Milliarden Chinesen gelbe Spione werden. Wie schnell übersieht man die unerträgliche Lächerlichkeit des Versuches wissenschaftlich zu belegen, dass Schwarze stärker zur Nikotinsucht tendieren. Und dass aus schwarzen Deutschen bei Redaktionsschluss Afrikaner, Schwarzafrikaner, Ausländer oder wenigstens Farbige werden, kann man offenbar auch nicht verhindern.

Was ich vorgestern aber bei der von mir hochgeschätzten Zeit Online entdeckt habe hat mich so aufgeregt, dass ich erst heute darüber schreiben kann. (Zugegebenermaßen hatte ich gehofft, es handele sich hierbei um einen niederträchtigen Angriff hohler rassistischer Hackerwitzbolde, aber der Umstand, dass der Artikel heute immer noch Online steht, spricht deutlich dagegen.)

Die Schlagzeile lautet allen Ernstes: “Kenianer benötigen weniger Sauerstoff zum Rennen”. Deswegen sind es nämlich gerade die Kenianer, die allen anderen Nationen bei der Leichtathletik-WM davon laufen. Und diese wissenschaftlich belegte Erkenntnis lassen wir uns auch nicht dadurch kaputt machen, dass Ausnahmeläufer Usain Bolt seinen Weg zur Legende nicht in Kenia sondern im nur 12.500 km entfernten Jamaica begonnen hat. Herr Bolt ist ja schließlich auch Schwarz, also farbig, und damit ist er irgendwie ja auch Afrikaner, wie die Kenianer eben auch. Das passt schon.

Wie auch immer. Bei den Kenianern ist es nämlich so, dass die Muskelgruppen, die beim Laufen nicht benötigt werden, auch überhaupt keinen Sauerstoff verbrauchen. Und das ist doch prima.

Drei kleine Fragen vielleicht hierzu:

1. Wie nur gelingt  es der Natur,  in ihren evolutionären Entwicklungen die Landesgrenzen von Kenia zu beachten?

2. Wie ist es wissenschaftlich vertretbar, nach der Untersuchung von 10 (!) kenianischen Läufern (!) ernsthaft auf den Genotyp eines ganzen Volkes zu schließen? Und last but not least

3. Wer entdeckt hier eine Muskelgruppe, die nicht benötigt wird?

Naja, vielleicht bin ich auch zu pingelig. Es weißt doch nun wirklich jedes Kind, dass alle Afrikaner wahnsinnig schnell  flitzen, ein urstes Gefühl für Rhythmus, ganz, ganz tolle Stimmen und riesige Genitalien haben. Entschuldigung.

Der Steinmeier-Effekt

Eines vorweg: Bisher habe ich in meinem Leben genau zwei Mal SPD gewählt. Einmal, weil ich den örtlichen Oberbürgermeister, der sich erneut zur Wahl stellte kannte und mochte. Und einmal, weil ich zwischen der charmanten wenn auch eitlen Dynamik eines Gerhard Schröder und der behäbigen wenn auch soliden Dümpelei eines Helmut Kohl zu entscheiden hatte. Vielleicht sind wir hier schon am Kern des Problems: Ich habe in beiden Fällen Personen gewählt, keine Parteien.

Ganz offensichtlich ist das keine meiner persönlichen Unarten sondern durchaus ein allgemein-gesellschaftliches, zumindest aber deutsches Phänomen. Ich kenne keine Prognose, die irgend einen Zweifel daran ließe, das Angela Merkel die kommende Bundestagswahl haushoch gewinnen werde. Nicht die CDU. Sondern ihre Vorsitzende. Die Kanzlerin. Angie. Die Deutschen mögen sie. Und wollen, dass sie bleibt.

Frank-Walter Steinmeier ist furchtbar unsympathisch. Finde ich. Und damit scheine ich nicht allein zu sein. Abgesehen von der Wahl ihres Kanzlerkandidaten hat die SPD nämlich alles richtig gemacht:

In ihrem67-seitigen Deutschland-Plan formuliert sie klare Visionen. Natürlich: Die Hoffnung auf Vollbeschäftigung in Deutschland ist keine hehre Vision, auch kein verführerisches Wahlkampfversprechen sondern schlichtweg albern. Davon abgesehen aber, durchaus respektable Ziele: Staatsinvestitionen wann immer möglich in ökologisch verträgliche, wenn nicht gar regenerative Projekte. Klare Regulierung der Finanzmärkte. Konkrete Zielmarken zur Gleichbehandlung von Frauen. Ein evidentes Konzept zur Breitbandversorgung von ganz Deutschland bis 2010 usw. usf.

Die CDU hingegen bleibt – und das ist auch überall zu lesen – schwammig und ungefähr. Ihr Regierungsprogramm ist dermaßen konsensfähig, dass ich persönlich große Mühe habe, mir ein beherztes Gähnen zu verkneifen. Keine konkreten Zahlen, keine genauen Termine, keine Fakten anhand derer man in vier Jahren prüfen könnte, wie viel die Versprechungen wert waren. Und das zügig zusammengeflickschusterte Konzept von Shooting-Star zu Guttenberg, das als prompte Reaktion auf Steinmeiers Plan gespielt werden sollte, wurde jetzt kurz vor knapp zurückgezogen.

Davon abgesehen spielt die Kanzlerin das alte Spiel, das keine so gut beherrscht wie sie: Aussitzen und Abwarten. Sie lässt sich auf keinerlei unangenehme Konfrontation ein, ignoriert den politischen Gegner anstatt mit ihm zu streiten und tut so, als sei überhaupt gar kein Wahlkampf. Vielleicht nicht die schlechteste Strategie. Spannend ist aber, das man dieses Verhalten einer Angela Merkel als ruhige Hand, Konzentration auf wesentliche tagespolitische Aufgaben oder sicheres Fortschreiten des eingeschlagenen Führungskurses auslegt, während man einem Frank-Walter Steinmeier an ihrer Stelle Feigheit, Konzeptlosigkeit oder Farblosigkeit unterstellen würde.

Hier sind wir schon wieder am Kern des Problems: Frank-Walter Steinmeier ist furchtbar unsympathisch. Und langweilig. So sehr, dass sein Townhall-Meeting nur von halb so vielen Zuschauern verfolgt wird, wie das der Kanzlerin vor einigen Wochen. Und sogar so sehr, dass dem Medienjournalisten Niggemeier, den die ganze Angelegenheit ja nun von Berufswegen interessieren sollte, der Kopf im plötzlich einsetzenden Tiefschlaf auf die Tischplatte zu schlagen droht.

Selbstverständlich hat die SPD Fehler gemacht. Kurt Beck zum Beispiel. Oder Matthias Platzeck. Oder die Reanimierung von Müntefering inklusive der lächerlichen Umzugskisten-Entgleisung und dem Märchen von den egalen Arbeitslosen. Trotz allem ist mir schleierhaft, warum sie vom Wähler dafür so hart bestraft wird. “Mit der Agenda 2010 hat sie ihre Klientel verprellt.”, lautet eine gern gewählte Standard-Antwort. Na schön. Mag sein. Aber ebenso gut hätten die Grünen ihre Klientel mit dem Ja zum Afghanistan-Einsatz vor einigen Jahren oder dem rassistisch-sexistischen Wahlplakat-Totalausfall von neulich  in die Flucht schlagen können, der zwar heute zurückgenommen wurde, aber eben nicht ungeschehen gemacht werden kann. Ist aber nicht passiert.

Der Umgang mit der SPD ist ungerecht. Das liegt an Steinmeier, an der stillen, aber  transmedialen Übereinkunft dass die SPD nunmal dieses Jahr das Opfer ist und daran, dass niemand 67-seitige Programme lesen möchte, wenn er sich aus Erfahrung ohnehin nicht mehr daran zu glauben traut.