Lethargie

Die Häufigkeit meiner Posts macht keinen Hehl daraus: Ich bin im Moment sowas von lethargisch, dass ich es keinen einzigen Tag mit mir aushalten würde, wenn ich nicht müsste.

Jeden Morgen gegen 10 muss ich mir aufs Neue eingestehen, dass ich einfach nicht reinkomme in den Tag. Jeden Morgen aufs Neue habe ich das Gefühl, der Tag und ich fahren auf unterschiedlichen Gleisen. In unterschiedliche Richtungen. Von unterschiedlichen Bahnhöfen ausgehend.

Alles was ich anfasse kommt mir nach einer halben Stunde leer und grau vor und nach spätestens einer Stunde bin ich so gelangweilt vom jeweiligen, dass ich es beiseite lege.

Ich verbringe meine Tage damit mir Liveübertragungen von Pressekonferenzen auf Phoenix anzusehen oder stundenlang die Technikticker im Netz zu lesen.

Und dabei ist es natürlich nicht so, dass ich nichts zu tun hätte. Die Pinnwand über meinem Schreibtisch hält 25 noch nicht begonnende Projekte für mich bereit. Jedes liebevoll auf einem eigenen Klebezettel in Stichworten umrissen. Ich vermeide den Blickkontakt.

Und dabei ist es leider auch nicht so, dass ich mir einfach reinen Herzens frei nehmen könnte um mir die Tage fröhlich mit langen Spaziergängen, Cafèbesuchen, Computerspielen oder der äußerst faszinierenden Musikflatrate vertreiben.

Es ist als hätte ich Tapetenkleister in meinen Adern.

Abends lade ich mir manchmal Freunde zum Essen ein. Denen koche ich dann was um den Tag nicht mit 100% sinnlos verloren zu geben. Ich lasse sie gern erzählen aus ihrem Leben. Von der Arbeit. Von der Freundin. Von der Politik. Beim Zähneputzen dann freue ich mich, dass ich mich so lebendig fühle. Heimlich nehme ich mir dann vor morgen alles besser zu machen. Eines Tages wird das klappen.

Heute kommen Caren und Sascha.
Jetzt.

Leben und Arbeiten

Es ist bizarr: ich werde jeden morgen von Handwerken geweckt, die in der Wohnung unter mir dem Geräusch nach alle Wände einreißen um mit den freigewordenen Steinen Percussion-Performances auf dem übriggebliebenen Boden der Wohnung einzustudieren. Bei mir tanzt dann der Tee in der Tasse und die Gläser im Regal. Das heute schon ab sieben.

Nein, nein ich find das schon in Ordnung zeitig aufzustehen. Ich mag es den ganzen langen Tag vor mir zu haben. Ich mag den Gedanken ihn womit ich will füllen zu können. Normalerweise.

Im Moment aber lasse ich die Tage verstreichen. Ich höre den Männern unter mir beim fleißig sein zu. Ich koche ausgiebig. Ich teste Napster und verliere mich in neuer Musik. Meine Arbeit lasse ich liegen. Meine Ideen lasse ich verstauben. Meine Wohnungstür abgeschlossen. Von innen.

Ich habe überhaupt keinen Grund zu jammern. Jeder der Handwerker unter mir würde sicherlich gern einen Tag mit mir tauschen. Und ich mit einem von ihnen. Sie haben im Gegensatz zu mir: eine klare Aufgabe, ein konkretes Ziel und produzieren ein nachprüfbares Ergebnis.

Ich bin Künstler und muss mich mit Ermunterungen wie: “Du kannst nun mal nicht jeden Tag kreativ sein.” oder: “Dein Kopf arbeitet immer und du wirst sehen, plötzlich küsst dich die Muse und es fließt wieder” zufrieden geben. Was schwer fällt. Denn nur weil Phasen der Passivität normal sind muss ich nicht damit leben können.

Nan Goldin

Sie ist es. Ich bin mir sicher. Ich hatte es schon aus den Augenwinkeln erkannt.
Sie spaziert leichten Schrittes in die Fondation und begrüßt die Damen von der Aufsicht wie alte Freundinnen. Ich verwandele mich in 16-jährigen Groupie und ergreife aufgeschreckt die Flucht in den hinteren Teil der Ausstellungshalle. Virginie hat mich beobachtet und lacht. “Is this Nan Goldin?”, frage ich, obwohl ich die Antwort kenne. “Do you want to meet her?”, fragt Virginie. Ich stottere.

Sie ist eine Ikone für mich. Eine Göttin, fast. Eine Pionierin. Ein Bulldozer, der auch mir den Weg geebnet hat. Ich weiß nicht, wie oft ich mir ihre Bildbände angesehen habe. Wie oft ich über sie gesprochen habe, wenn mich jemand nach meinen Vorbildern gefragt hat. Wie oft ich an sie gedacht habe, wenn ich selbst fotografierte. Vor zwei Wochen hat jemand an der Hochschule einen Vortrag über sie gehalten und damit geschlossen, dass er nicht wisse, was Nan Goldin heute macht. Ich könnte sie fragen. Hier. Sofort.

“Well. Yes. But. Later. Later. I’m too nervous now.”, stammele ich. Virginie erzählt mir, dass “Nan” eigentlich zu jeder Ausstellungseröffnung vorbeischaue. Sie lebe ja schließlich seit einigen Jahren in Paris und sei eine Freundin der Fondation. Sie wäre eine sehr angenehme Person, “quite relaxed” und sehr menschlich. Ich sollte sie nicht verpassen.

Natürlich war mir klar, dass Nan Goldin ein Mensch ist. Dass sie irgendwo lebt und wie ich einkaufen gehen muss. Dass sie ihre Wäsche selbst wäscht und selbst kocht.

Dass sie sich dann und wann eine Ausstellung ansieht. Natürlich wusste ich, dass sie sich ohne Limousine und ohne Bodyguards in der Öffentlichkeit bewegen würde. Aber dass ihr Weg meinen kreuzt, so nah, so früh, so plötzlich, das wusste ich nicht. Dass ich die Gelegenheit haben würde mit ihr zu sprechen über Kunst, das Wetter und das Leben im Allgemeinen, hatte ich nicht erwartet. Das hatte ich nicht zu träumen gewagt. Ich bin überhaupt nicht vorbereitet.

Ich habe mir das Gesicht gewaschen und will jetzt nach oben zum “Presselunch”. Die Fahrstuhltür öffnet sich. Keine 50 Zentimeter Abstand zwischen unseren Nasenspitzen. “Are you the German artist, that is dying to meet me? Virginie told me. I saw your pictures.”

Ich stieg zu. Sie fragte mich, woher genau ich komme. Sie habe Ende der Achtziger auch mal in Leipzig gearbeitet. Sie mochte die Schule dort. Sie habe dort sogar einige Seminare gegeben. Sie habe keine guten Erinnerungen an Leipzig. Das sei keine gute Zeit gewesen für sie. Der Fahrstuhl öffnet sich wieder. 8. Etage. Dachterrasse. Sie sagt, sie müsse kurz zur Toilette und das wir uns dann beim Essen sehen würden.

Sie sieht fertig aus. Ich weiß nicht, warum mich das überrascht. Ihre Zähne sind gelb, ihre Haare spröde und ihr Wangenrouge kann mich nicht über die geplatzten Äderchen dahinter hinwegtäuschen. Natürlich hat Nan Goldins Leben Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen. Ich kann erzählen warum, ich war quasi dabei, nachts über ihren Bildbänden. Warum irritiert mich das jetzt? Ihre Wimperntusche ist weggeschwitzt, ihr Lippenstift abgeleckt, ihre Tönung raus gewachsen. Je länger ich darüber nachdenke umso klarer wird mir, dass es gar nicht anders hätte sein können.

Es gibt keine perfekt geschminkte Nan Goldin mit perfektem Lächeln und perfekt sitzenden Haaren. Nan Goldin beschäftigt sich mit bröckelnden Fassaden und Verfall. Immer.

Wir treffen uns vor den Hors d’oeuvre. Ich überlege, ob ich sie noch mal ansprechen soll. Ich bin verliebter Teenager. Ich will nicht nerven. Es ist heiß. Sie fragt ob ich ihre Dia-Shows jemals live gesehen hätte. Ich verneine und zähle zur Entschuldigung alle Fakten auf, die ich über Ihre Dia-Shows weiß. Sie fragt mich, welcher namhafte Professor an meiner Schule lehre. Ich weiß nicht, wer für Nan Goldin namhaft ist, versuche ein paar Namen und ernte Kopfschütteln. Sie fragt mich, ob mir klar wäre, dass jedes Foto ein Selbstporträt ist und jedes Selbstporträt ein Foto der ganzen Welt sei. Sie hat meine Arbeit gesehen. Darüber sprechen wir ein paar Minuten. Meine Bewunderung für ihr ungeheures Wissen wird dadurch gemildert, dass es ihr bewusst ist. Meine Hochachtung für ihre Arbeit verliert an Glanz, als sie ihre Verdienste erwähnt. Meine Zuneigung endet in der Sekunde in der ich sie als Lehrerin wahrnehme. Keine Frage: Ich bin Schüler.

Heute habe ich gelernt, dass mir nur einer Kunst beibringen kann.
Ich. Es soll doch meine Kunst sein.

Everybody will know you name

Ich brauche mehr als zwei Stunden vom Flughafen bis zur Fondation Cartier. Paris gibt sich größte Mühe jeden Hauch ihres Charmes vor mir zu verbergen. Paris ist heiß, dreckig, laut und langsam. Vor der Fondation wartet Heiko. Er ist mit dem Zug gekommen. Er wartet mit einem Ausdruck mit dem er auch am Rheinbacher Bahnhof auf mich warten würde.Noch während wir uns begrüßen nähert sich uns eine ausgesprochen schöne Frau. “You must be Ronald Gerber, right?”

Es ist Danielle. Wir hatten Emailkontakt. Sie umarmt mich. Ich habe Angst, dass ihre Hand mitten in dem großen Schweißfleck landen könnte, der sich zweifellos auf meinem Rücken gebildet haben muss.

Sie führt uns in die Fondation und spricht. Ich höre nicht zu, weil mich dieses Gebäude verschluckt hat. Selbst an den Fahrstühlen, zu denen Danielle uns führt kann ich noch nicht genau sagen, ob wir uns innerhalb oder außerhalb des Gebäudes befinden. Alles um uns ist Glas, Stahl oder Beton und trotzdem wachsen überall Bäume und Gras.

Mit dem Fahrstuhl fahren wir in die Verwaltungsetagen. “Everybody is in love with you.”, sagt Danielle. Ich nehme den Satz als übertriebene Höflichkeit. Ich grinse nur. Heiko auch. Danielle merkt, dass wir sie ihr nicht glauben. “Really! Everybody here will know your name.”

In den nächsten 20 Minuten werde ich müde wie ich bin und hungrig ungefähr einem Dutzend Menschen vorgestellt. Und in der Tat: Alle kennen meinen Namen, während ich den Namen der mir Vorgestellten wieder vergessen habe, noch bevor ich “Enchante!” und “It’s a pleasure to meet you.”, sagen kann. Ich bin zu aufgeregt. Die Leute versichern mir, wie sehr sie meine Bilder berührt haben und wie großartig mein Video ist. Ich freue mich, ehrlich, aber ich weiß keine andere Reaktion außer rot zu werden und immer wieder “Thanks.”, “Thank you.”, und “Thank you very very much.”, zu sagen. Die Buchhalterin erzählt mir in einer Runde, dass sie von mir geträumt habe, nach meinem Video. Ich hätte mitten in der Ausstellung in einer Duschkabine gestanden und geduscht. Ich will die Situation entkrampfen. Also sage ich, dass laut Freud Wasser in Träumen immer für Gefühle steht. Das entkrampft überhaupt nichts. Und ich hätte es wissen können, wenn ich vorher eine Sekunde darüber nachgedacht hätte. Danielle ist professioneller. Sie erklärt mir alle Formalitäten, gibt mir Restaurant-Schecks, U-Bahn-Tickets für die ganze Woche, einen genauen Plan mit allen Presseterminen und einen für die Stadt.

Wir fahren wieder nach unten. Danielle will mir den Ort zeigen, an dem meine Bilder hängen werden. Ich freue mich, als sie 0 im Lift drückt und nicht -1. In den Keller hätte ich ungern gewollt. Ich mag kein künstliches Licht auf meinen Bildern. Aber ich weiß, dass ich mich klaglos damit abgefunden hätte, wenn man meine Kabine im Keller geplant hätte. Ich wäre zu feige gewesen und zu höflich. Wer bin ich denn?

Heiko und ich fahren zum Quartier.
Ich bin überwältigt.
Heiko will wissen, was gesagt wurde, während er daneben stand und freundlich lächelte. Ich kann mich nur schwer erinnern. Heiko sagt, dass er alle Menschen, die wir getroffen haben wirklich sympathisch fand. Ich nicke nur.

Ich versuche mich an die Furcht zu erinnern, die ich heute Morgen beim Aufstehen empfunden habe. Von hier aus wirkt sie seltsam blutleer und künstlich.
“Die hofieren dich wie einen Superstar.”, grinst Heiko.
Ich finde das auch. Und ich weiß, dass sich die blutleere Furcht an dem Gedanken nähren könnte, dass mit dieser Hochachtung Erwartungen verbunden sein könnten, den ich nicht gewachsen bin.
Ich beschließe, die Furcht verhungern zu lassen und diesen Gedanken nicht zu denken.
Die Furcht langweilt mich.
Bis jetzt hat sie noch nie recht gehabt.

Hingabe

Ich bin vor dem Wecker wach.
Mein Gefühl sagt, ich bin wach geblieben, seit dem ich den Wecker gestellt habe vor ungefähr vier Stunden.
Mein Gefühl lügt. Ein bisschen muss ich geschlafen haben.
Das ist vor jeder Prüfung so: Ein Idiot mischt mir ein Dutzend Koffeintabletten in die Gute-Nacht-Milch und flüstert von Katastrophen bis zum Morgengrauen.

Letzteres verpasse ich heute.
Es ist 3 Uhr 45. Außer mir graut es niemandem.
Ich beginne meine Morgenroutine und ärgere mich, dass ich keine Gedanken dafür brauche. So bleiben alle Gedanken in diesem Knäuel aus vager Furcht.
Manu rettet mich mit einem Anruf. Sie will sicher gehen, dass ich nicht verschlafen habe. Ihr Klingeln hat meine Vernunft geweckt. Das ist keine Prüfung, das ist ein Geschenk, sagt sie müde. Ich halte mich an ihr fest.

Manu klingelt wieder. Jetzt an der Tür.
Die Hektik siegt, ich pinkle im Stehen. Bevor ich den Reißverschluss meines Koffers schließe und dann von außen meine Wohnungstür.
Manu verbündet sich mit meiner Vernunft und rettet mich: sie redet.
Darüber, dass sie auch nicht geschlafen sondern stattdessen lieber aufgeräumt habe, weil man in Räumen mit einem derartig schlechten Feng Shui wie ihrem Schlafzimmer ohnehin nicht mehr hätte schlafen können. Sie habe viele Reliquien aus ihrer Vergangenheit gefunden, die sie an Momente erinnert haben, an die sie sich sonst wohl nie mehr erinnert hätte.
Sie fragt nach meiner Flugangst. Ich habe keine. Manu spricht darüber, wie viel einfacher das Leben wird, wenn es gelingt sich diesem ganz und gar hinzugeben.
Ich küsse sie und danke ihr und steige aus. Ich bin viel zu früh am Flughafen. Und beinahe allein.
Die Sonne färbt Metall und Glas pink und bringt mich dazu, über Hingabe nachzudenken.
Ich bin ein kleiner Junge. Und die Frau am Check-In merkt das. Sie bucht einen Fensterplatz für mich und erinnert mich daran, mein Taschenmesser ins Frachtgepäck zu geben, weil man es mir sonst wegnehmen wird. Mit ihrem Kugelschreiber macht sie einen roten Kringel um die Stelle auf meinem Ticket, an der das Gate steht, auf das ich muss.

Mit 16 bin ich mal in die Türkei geflogen.
Ich kann mich noch an die gelbe Gürteltasche erinnern, die mir ein Steward damals schenkte.
Ich habe sie noch irgendwo.
Eine Reliquie meiner Vergangenheit. Sonst weiß ich nichts mehr von dem Flug.
Jetzt bin ich 24 und seither – von einem Rundflug in einer Cessna über Eilenburg mal abgesehen – nie mehr irgendwo hin geflogen.

Ich befolge die Anweisungen des Sicherheitspersonals, was mir nichts ausmacht, weil ich ein kleiner Junge bin. Ich freue mich darüber, wie toll mein geröntgter Koffer auf dem Monitor aussieht und welche Geräusche meine Gürtelschnalle verursacht wenn ihr diese Elektrolupe zu nahe kommt.

Alle Leute im Wartebereich geben sich betont gelangweilt. Das bleibt auch im Flugzeug so. Alle Leute lesen im Flugzeug oder Schlafen oder hören Musik.
Ich bin der Einzige in meinem Umfeld, der schon beim Ausparken mit seiner Nasenspitze Fettflecken an der Fensterscheibe hinterlässt.

Als das Flugzeug zum Start ansetzt begreife ich, warum man manchmal auch Maschine dazu sagt.
Die Vibration der Triebwerke und Reifen macht mir Gänsehaut.
Plötzlich kippt der Horizont.
Das Holpern der Reifen hört auf.
Wir fliegen.

Ich verstehe nicht, wie der Sportteil der Leipziger Volkszeitung für meinen Nachbarn interessanter sein kann, als das Wunder, dass sich gerade abspielt.
Ich empfinde große Verehrung für die Ingenieure und Arbeiter, die dieses Flugzeug gebaut haben.
Ich empfinde tiefe Dankbarkeit für die Macht, die mich hier her gebracht hat. Von hier oben erkenne ich das ungeheure Glück das mir widerfährt.
Nicht nur jetzt.
Nicht nur heute.
Wir durchbrechen die Wolkenschicht.
Die Sonne blendet mich.
Die scheint immer hier oben.
Ich weine.

Als mir die Stewardess Kaffee serviert, habe ich mich wieder gefangen. Wir sind irgendwo über Frankfurt und schneller als meine Furcht.
Zum ersten Mal kann ich mich freuen, auf das was vor mir liegt.
Zum ersten Mal fühle ich mich groß und schwer genug, um von möglicher Kritik nicht zertrampelt und von faulen Kompromissen nicht davon geweht zu werden.
Das ist meine erste große Ausstellung. Ich habe mein Flugticket nicht bezahlt, ich werde mein Hotel nicht bezahlen und jemand wird meine Bilder für mich aufhängen.
Jemand oder etwas empfindet die Art von Liebe für mich, die eine Mutter für ihr Kind empfindet.
Ich bin sicher.
Das begreife ich jetzt.

Das Foto eines Künstlers

Ein Foto von mir wollten Sie.
Für Presse und Werbung und Öffentlichkeit.
Ein Porträtfoto von mir für den Katalog.
Für einen Kunstkatalog.

Kein Geheimnis: Das schmeichelt.
Das streichelt meine Eitelkeit.
Das füttert mein Ego.
Und das verschafft große Bewunderung,
wenn es gelingt, die Anfrage mit der überzeugenden Mischung
aus Verlegenheit und Bescheidenheit
im flüchtigen Nebensatz jeglichen Gespräches zu erwähnen.

Aber das fordert auch.

Nicht, dass meine Festplatten nicht eine ganze Bibliothek von Selbstporträts beherbergen würden, deren Meisterwerke der Welt sogar im Internet zum Abruf bereit stehen.
Nicht, dass ich im Umgang mit der Kamera nicht vertraut wäre und mich nicht gut darauf verstünde, ungeliebte Züge meiner Person zu kaschieren und geliebte zu modellieren, selbst dann, wenn ich sie gar nicht habe.
Nicht, dass meine Inszenierung jemals zitterte oder ich jemals um den passenden Gesichtsausdruck gerungen hätte.
Hier aber doch.
Hier strauchelte ich.
Hier haderte ich.

Sie wollten das Foto eines Künstlers.
Das eines jungen Mannes mit Visionen.
Oder eines sympathischen Trottels.
Mit dem geheimnisvollen Sex-Appeal eines Verrückten.

Sie wollten kein Foto von mir.
Keines von jemandem, der seine frühen Nachmittage mit Talk-Shows tötet.
Der Computerspiele mag.
Und Milch-Shakes von Mc Donald’s.

Sie wollten kein Foto von jemandem, der gar kein Künstler ist und nur deshalb so bezeichnet wird, weil niemandem ein passenderes Wort einfällt für das, was er tut.
Ich baute mein Stativ auf und versuchte wie ein Künstler auszusehen.
Orientierungslos aber intelligent.
Verzweifelt aber kämpferisch.
Traurig aber weise.
Sexy.

Das funktionierte nicht.
Das funktionierte ganz und gar nicht.
Das war überhaupt nicht auszuhalten.
Natürlich nicht.
Ich begriff das nach 3 Stunden und 2 randvollen Speicherkarten.

Ich hörte mich über die zwingende Notwendigkeit von Authentizität reden.
Ich rekapitulierte energische Plädoyers über die ungeheuerliche Stärke die der Fähigkeit zur Konfrontation mit der eigenen Schwäche innewohnt.

Ich erinnerte mich an Diskussionen über das zwangsläufige Scheitern jeglichen Versuches, vermeintliche Wahrheiten aus hölzernen Rollenklischees zu zitieren.
Vor allem aber staunte ich über die prächtigen Blüten die die meine Vorstellungen eines Künstlers trieben.

Ich zog meine Hose von baggy auf die Höhe, in der ich sie normalerweise trage, nahm meine Intellektuellenbrille ab und tauschte mein Paradiesvogelhemd gegen eines, das mich wieder zu dem machte, was ich eigentlich bin: ein Sperling, wenn auch ein aparter.

Die Kamera am ausgestreckten Arm schoss ich ein Foto von mir.
Direkter Blick.
Ernstes Gesicht.
Ich.

Mit Hautschuppen auf der Nase,
einem Mitesser auf der Stirn
und einer leichten Rötung rechts über meiner Oberlippe aus der sich zwei Tage später eine beachtliche Herpesblase entwickeln sollte.

Das ist nicht uneitel.
Das ist das Gegenteil davon:
Einen Moment lang zog ich in Erwägung meine Augen ein wenig blauer und meine Lippen ein wenig röter zu färben am Computer.

Intuition der Fische

Ich im Baumarkt.
Die Zierfische.
Die Schmuckschildkröten.
Die Mooskugeln für einen Euro.

Ich im silikonverklebten Aquarium.
Mein klingelndes Telefon irgendwo da draußen.
Dumpf und anderswo und trotzdem laut genug.
Ich stelle auf lautlos und treibe weiter.

Heiko angelt nach mir.
Du kannst doch nicht immer.
Du musst doch auch mal.
Was wenn?
Stell dir vor:
Paris!

Hello?
This is Caroline Calchera of the
Fondation Cartier pour l’art contemporain.
Am I talking to?
Ja? Yes? English?
Sure. You have been selected for our summer exhibition.
It is you we have selected.
Congratulations!

Ernsthaft? Ich? English?
Sure.

Heiko!
I have been selected!
Siehste?
Herz!
Ich wusste das.
Ich wusste.

Die Intuition der Fische.
Und ich als Mooskugel
im silikonverklebten Aquarium.

MEIN Leben?

Ich weiß nicht, ob dieses hier mein Leben ist.
Vielleicht bin ich wer anders.
Bestimmt zu etwas anderem als diesem hier.
Fehlgeleitet. Abgedriftet. Widrig.
Ich bin in all das hier nur so reingeschlittert.
Habe mich verlaufen, quasi.
Bin verirrt.
Falsch abgebogen.
Falsch.

Habe getrieft.
Den entscheidenden Moment verschlafen.
Zu lange gewartet.
Zu lange gehofft.
Zu lange untätig.

Kein heller Stern mehr,
keine Gunst der Stunde,
nicht zur rechten Zeit am rechten Ort
sondern zur falschen Zeit nirgendwo.
Kein glücklicher Zufall,
keine guten Beziehungen,
nicht von irgend wem in jungen Jahren entdeckt zu irgend etwas.

Hab mir die Zeit mit Büchern vertrieben.
Mit hoffen und träumen und denken und reden.

Und in der Tat:
Mit den Jahren sickert
Tropfen für Tropfen
wie Regenwasser durch Samttapeten
die Erkenntnis in mein Jetzt,
dass ich ebenso

normal

bin, wie die, denen ich es zeigen wollte.

Nicht ohne Talent zwar, aber kein Genie.
Nicht ohne Liebe, aber kein Heiliger.
Nicht ohne Mut und doch kein Krieger.

Fein gemacht.
Was erkannt.
Was gelernt.
Was begriffen.

Und nun?
Bürojob, 8 Stunden, 1.200 Euro?
Sozialarbeiter, 12 Stunden, 800 Euro?
Künstler, 24 Stunden, 0 Euro?
Religiös werden?
Depressiv werden?
Oder Verrückt?

Nein, nein.
Wie gesagt: Ich habe mir die Zeit mit Büchern vertrieben.
Und jedes, jedes einzelne antwortet:

Akzeptieren.
Annehmen.
Sich fügen.
Erkennen, dass genau dieses hier:
jetzt:
dieser Augenblick unter dem Licht meines hellen Sternes stattfindet.

Begreifen, das genau in diesem Moment:
jetzt:
in diesem Atemzug
die Gunst der Stunde liegt,
und dass es jetzt exakt die richtige Zeit
und hier genau der richtige Ort für mich ist.

Gott macht keine Fehler.
Ach,
doch religiös geworden unterwegs?
Na bitte.

Symbicort

Eigentlich werde ich ja nicht müde zu versichern, wie sehr ich vom tadellosen funktionieren meines Körpers beeindruckt bin. Oft stelle ich mir vor, wie es wäre wenn ich Zucker hätte oder einen Herzfehler oder eine miserable Verdauung. Das gibt dann immer so ein gutes Gefühl. So eine Dankbarkeit. Kraft. Man kann seinen Körper dann wenigstens für ein paar Minuten mit liebevollem Blick betrachten. Zur Zeit aber habe ich ganz schön Angst.

Ich weiß, dass ich Asthma habe. Immer schon. Seit ich denken kann. Allerdings merke ich davon nicht viel. Ich konnte mich mit der Krankheit arrangieren. Habe gelernt Anfälle zu veratmen und keine Angst mehr davor zu haben. Habe gelernt, mich gerade so stark zu strapazieren, dass die eigene Grenze berührt aber eben nicht überschritten wird. Zur Zeit ist das alles leeres Geschwätz.

Seit gut einer Woche bekomme ich jeden Tag Anfälle. Aller paar Stunden. Nix mit veratmen. Atmen wie durch einen Strohalm. Und Medizin nehmen. Aller drei Stunden. Keine Treppen. Keine schnellen Schritte. Wie ein alter Mann. Und dann feststellen, dass du die Dosis immer mehr erhöhen musst um halbwegs atmen zu können. Und dann nachts aufwachen mit Atemnot und sich wünschen, dass seit dem letzten Aufwachen möglichst viel Zeit vergangen ist. Dass es bald morgen ist. Aufrecht geht’s immer etwas besser.

Seit gestern nun habe ich ein neues Spray. Ein sehr sehr starkes, sehr, sehr teures. Dagegen ist ja auch überhaupt nichts einzuwenden. Das hilft wie Sau. Nur fünf Minuten nachdem ich das genommen habe, kann ich mir kaum noch vorstellen, jemals Asthma gehabt zu haben. Das Problem ist nur, das Kortison im Spray ist. Kortison ist der beste bekannte Entzündungshemmer. Kortison beeinträchtigt aber auch die Funktion der Nebenniere, treibt die Blutzuckerwerte in die Höhe und entkalkt und verweichlicht die Knochen.

Dieser neue Freund ist also ein sehr guter Geschäftsmann. Und mir gefallen seine Preise nicht.

Guten Morgen, Vordiplom!

War eine lange Nacht, würde ich sagen. Von Ende März bis Mitte Juli. Ich weiß nicht, ich bin nicht ausgeschlafen. Aber ich bin in diesen Minuten so voll, so prall, so geil aufs Leben, dass ich es nicht länger ausgehalten habe in meinem Bett.

Dieser Drang vibriert in mir, drängelt, kann den Morgen nicht erwarten, zerrt mich mit halb offenen Augen in den neuen Tag. Wie gesagt, eigentlich bin ich total kaputt. Hinter mir liegt eine arbeitsreiche Zeit mit Vordiplom, Ausstellung und allem was dazu gehört. Eigentlich wäre es glaube ich ganz gut für mich, wenn ich ein paar Stunden ins Bett käme. Aber so ist es eben nicht. Ich sehne mich nur so lange nach Ruhe, bis ich sie haben könnte. Dann wird sie uninteressant. Langweilig. Fad.

Mein Vordiplom war gut. Eigentlich sollte ich es hier verlinken, aber es steht noch nicht online. Wie immer ging einiges schief, wie immer wurde die Zeit gegen Ende ganz schön knapp und wie immer ist die Arbeit nicht perfekt und ich nicht zufrieden. Aber dennoch war es gut. Ich hatte schon das Gefühl besser organisiert zu sein diesmal. Klarer strukturiert. Linearer. Effektiver. Das ganze Arbeiten hat sich professioneller angefühlt. Geregelter. Und ich hatte nicht permantent das Gefühl was suuuperverrücktes und suuuperschickes zu machen, dass im Grunde aber nichts mit mir zu tun hat. Dass im Grunde nur eine Maske ist, eine Rolle.

Auch die Verteidigung war gut. Natürlich war ich aufgeregt. Wie man vor einer Prüfung eben aufgeregt ist. Andererseits – und das erschreckte mich fast – war ich vor keiner Prüfung in meinem Leben so gelassen wie dort. Ich meine, das war immerhin mein Vordiplom. Ganz ehrlich: meine mündliche Geo-Prüfung zum Abi hat sich schlimmer angefühlt. Deutlich schlimmer. Aber dieses Vordiplom war so sehr meins! Das war mein Thema. Das habe ich mir gesucht. Daran habe ich ein ganzes Semester lang gearbeitet. Jeden Tag. Es ging hier nicht um die Wiedergabe auswändig gelernter Fakten. Es ging nicht um das korrekte Anwenden einer Formel. Es ging um mich. Wie soll ich das nach vier Monaten Vorbereitungszeit nicht verteidigen können? Beinahe hat es Spaß gemacht. Ich glaube, so soll es sein.

Und dann die Ausstellung jetzt. Das lief alles so reibungslos. Ich konnte einen wundervollen Galerieraum mit Schaufenster besorgen, ganz umsonst. Und obwohl wir weder in der Zeitung noch in sonst irgendeinem Veranstaltungskalender verzeichnet waren hatten wir mehr als 150 Besucher. Zwei neue Arbeitsweisen haben wir probiert: die Rauminstallation und ein tagebuchähnliches Wandtablot. Einige Besucher waren total ergriffen und sagten Dinge wie: Wundervoll, dass ihr auf der Welt seit. Einige haben sich so verstanden gefühlt. Einige waren so beeindruckt. Natürlich kann ich das alles erst im Nachhinhein so positiv bewerten. Während die Ausstellung lief, habe ich mich sehr schwach gefühlt. So etwas kann man ja eigentlich auch nicht machen.

Zielstrebig über eine lange Zeit auf eine Prüfung hinarbeiten, um direkt nach selbiger eine Ausstellung aufzubauen, in der man dann jeden Tag sitzt und seine Arbeit erklärt, anstatt mal in die Wanne zu gehen und sich dann richtig auszuschlafen. Ich stand sehr unter Druck, habe mich sehr gefangen gefühlt und hatte dementsprechend fast täglich Atemnot. Mal ganz zu schweigen von einer massiven Unlust und einer für meine Verhältnisse starken Sympathie zum Alkohol…

Ich habe viel gelernt durch die Ausstellung. Das ganze Thema von wegen für sich und seine Arbeit einstehen können. Da lernt man ja nie aus. Aber viel wichtiger für mich ist, dass im Zuge der Ausstellung zwei alte Freundschaften wiederbelebt wurden, die mir unterwegs abhanden gekommen waren. Die zu Marco und die zu Andreas nämlich. Beide kenne ich aus Schulzeiten und zu beiden habe ich nach der Schule den Kontakt abgebrochen, weil ich der Meinung war, als Schwuler, als Paradiesvogel, als Sonderling nicht mehr in meinen alten Freundeskreis zu passen. Naja, so ganz falsch lag ich damit wohl gar nicht, denn in der Tat hatten einige meiner früheren Freunde, wie ich kürzlich erfuhr, Probleme mit meinem “neuen Leben”. Und die Entscheidung die sterbenslangweilige, wenn auch solide Deutsche Bank zu verlassen, um ein wenig solides aber dafür umso spannenderes Kunststudium zu beginnen hat bei den meisten wohl auch wenig gepunktet. Aber schon beim Klassentreffen Ende Mai wurde mir klar, dass ich wohl doch ganz schön übertrieben hatte mit meinem Kahlschlag. Denn in Anwesenheit von Marco und Andreas wurde mir bewusst, wie sehr ich die beiden eigentlich vermisst hatte.

Ich weiß nicht. Natürlich ist es nicht so, dass wir zwangsläufig miteinander zu tun haben müssen, damit sich mein Leben vollständig anfühlt. Uns trennen immerhin knappe fünf Jahre unseres Weges, und was uns vorher verband, war Teenagerfreundschaft, die wichtig und prägend ist, aber eben doch allgemeiner, leichter, vielleicht austauschbarer. Und doch hat es etwas mit Verwurzelung zu tun jetzt wieder Zeit mit den beiden zu Verbringen. Marco ist Programmierer geworden. Er hat mit Kunst nichts zu tun, wie er mit vielen Dingen, die in meinem Leben von Belang sind nichts zu tun hat. Aber ich habe bei ihm so sehr das Gefühl einem guten, lieben, liebenswürdigen Menschen gegenüberzustehen, dass ich seine Anwesenheit sehr genieße. Andreas studiert Psychologie und wird nächstes Jahr fertig. Da hat man ja schon ein gemeinsames Thema mit dem man auch auf einer einsamen Insel einige Monate ganz unterhaltsam über die Runden kommen würde. Und tatsächlich ist sehr spannend wenn sein schulpsychologischer Wissenswust auf mein derbe spirituelles Weltbild trifft.

Ich werde in jedem Fall versuchen beide Kontakte aufrecht zu erhalten.

Meine Güte, was bin ich zufrieden in diesen Minuten. Es scheint ein fantastischer Tag werden zu wollen. Vielleicht lege ich mich noch mal ein paar Minuten zu meinem duftenden, warmen Mann und genieße seinen Atem.

Danke für deine Aufmerksamkeit.