Das Weihnachtskind

Dieses Mal war es besonders. Zwar gab es Kartoffelsalat wie immer, und wie immer viel zu viel davon. Auch gab es die selben Lieder wie jedes Jahr, die gleichen Bastelstunden und leider auch die gewohnten Flüche beim Transport des Baumes.

Neu war meine Sentimentalität im Vorfeld. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich mich nach einer Familie gesehnt. Und zwar nach einer, deren Vater ich bin. Nicht nach dieser Eltern-Großeltern- und Tanten-Ersatzfamilie, der man widerwillig aber dennoch jährlich für drei Tage beitritt. Noch genauer hingesehen habe ich mich nach einem Kind gesehnt. Nach einem eigenen. Wenig exklusiv, ich weiß. Wann sehnt man sich nach einem Kind, wenn nicht an Weihnachten? Weihnachten feiert die Ankunft eines Kindes. Der bittere Nachgeschmack an meiner Sehnsucht ist ihr purer Eigennutz: Ich glaube, man kann Weihnachten in den und durch die Augen eines Kindes am intensivsten erleben. Die Vorfreude, die Begeisterung, die Euphorie. Den Zauber.

Aller Voraussicht nach werde ich aber keine Kinder haben. Was mir in den restlichen zwölf Monaten des Jahres auch keine Schwierigkeiten bereitet. Davon abgesehen ist es wohl richtiger zu versuchen, selbst wieder Kind werden in dieser besonderen Zeit. Sich zu freuen, sich auf Kleinigkeiten einzulassen und zu glauben.

Und nach meinem Empfinden ist es auch richtiger – ehrlicher vielleicht – statt der Eltern-, Großeltern-und-Tantenbagage die Leute um sich zu versammeln, die man mag und schätzt und liebt, obwohl sie weder den eigenen Nachnamen tragen, noch den eigenen Stammbaum teilen.

Hinter mir liegt ein wunderschöner Abend mit Freunden. Einer, an dem es mir kindliche Freude bereitet hat zu schenken und beschenkt zu werden und an dem ich mich gefühlt habe, als wär’ ich zu haus.

Ich übertreibe. Natürlich. Noch vor drei Monaten lag ich mit eben diesen Freunden im Streit, und keiner weiß ob es in drei Monaten womöglich wieder so sein wird. Aber Streit kommt in den besten Familien vor. Haha. Sie wird immer ein Phänomen bleiben für mich: die Familie. Die gegebene wie die gesuchte.

Verbrannter Zucker

Gestern war mein letzter Arbeitstag. Für dieses Jahr. Im Lift auf dem Weg in die Tiefgarage schrieb ich Listen im Kopf: Noch zu versendende Weihnachtskarten, noch zu besorgende Geschenke, noch zu erledigende Einkäufe und auch, wie ich im nächsten Jahr dem Weihnachtskaufrausch entkommen könnte.

Vom Lift bis zum Fahrradraum sind es vielleicht 50 Meter, zwei Brandschutztüren, ein Sicherheitsschloss. Schon als sich die Fahrstühltüren öffneten hatte ich diesen Geruch in der Nase und im nächsten Augenblick die passende Erinnerung im Kopf: Meine Mutter steht in der überheizten Küche am Herd und brät Karamellbonbons. Der schmelzende Zucker in der Pfanne füllt die Luft. Noch einen Augenblick später lief mir das Wasser im Mund zusammen. Ich fing an in meiner Erinnerung nach dem Rezept zu kramen.

Schlagartig wurde mir allerdings klar, dass niemand Karamellbonbons in einem Tiefgaragentreppenhaus brät. Dieser Geruch wahr falsch hier.

Ich erschrak. Gleich hinter der ersten Brandschutztür hockten drei Jugendliche. Zwei Jungs im Skater-Klamotten und ein Mädchen im gewollten Punker-Outfit. Die drei erschraken ebenso. Plötzlich war ich falsch hier. Mein Blick blieb an dem schmalen Streifen nackten Fleisches hängen, der sich zwischen dem Minirock und der Netzstrumpfhose des Mädchens auftat. Mit offenem Mund starrte mich das Mädchen an, während sie sich routiniert die Nadel aus dem Fleisch zog. Es blutete. Erst als ich den Esslöffel in der Hand des einen Jungens bemerkte, begriff ich, was hier gerade passierte. Das Mädchen hatte sich gerade einen Schuss gesetzt. Das war kein geschmolzener Zucker. Das war Heroin.

Der andere Junge stürzte auf mich zu. Er holte Luft als wollte er einen Satz beginnen, der höchstwahrscheinlich mit “Ey Alter!” angefangen hätte. Weil ich aber wie angewurzelt stehen blieb und ihm gerade so tief ins Auge sah, wie es meine plötzlich aufgekommene Angst zuließ, blieb er stumm und berührte mich nicht.

Dieser Blick bekam eine Qualität die mich überwältigte: er war intim. Ich konnte mich nicht abwenden. Obwohl ich fürchtete, dass er jeden Moment ein Messer ziehen könnte, um es mir in den Bauch zu rammen oder mich wenigstens auszurauben. Vielleicht ist es überheblich, aber es fühlt sich auch mit etwas Abstand so an: Ich habe diesen Jungen gesehen. Hinter seiner Skater-Coolness. Und er hat mich getroffen. Ohne Messer.

Diese Traurigkeit in seinen Augen, diese Wut, diese Aggression, dieser Hunger.
“Warum?” wollte ich wissen. “Wohin soll das führen?”, wollte ich fragen. Aber ich traute mich nicht. Soviel Naivität hätte wahrscheinlich alle drei in schallendes Gelächter ausbrechen lassen. Soviel Unbedarftheit hätte mich als das ahnungslose, reiche, satte und vor allem geliebte Weichei geoutet dass ich bin. Es war mir peinlich da zu sein.

Ich lief schneller als sonst zu meinem Fahrrad. Ich rannte fast. Und ich war die Ausfahrt schneller hochgefahren, als sich das Rolltor öffnen konnte. Ich wusste ja wohin. Zuhause dampfte das Essen auf dem Tisch.

Wahr ist aber auch

Ich habe den Job angenommen. Freitag Mittag, 12 Uhr. Weil es sich richtig angefühlt hat nach dem Aufstehen, nach der altbewährten drübergeschlafenen Nacht.

Mittlerweile haben sich natürlich Zweifel eingestellt. Ich habe den Job für 30 Stunden zugesagt und nicht für 39 wie ursprünglich ausgemacht. Aber auch 30 Stunden sind viel. Zu viel wie ich fürchte. Meine Angst ist, dass man „die Kunst“ tatsächlich nicht nebenbei macht. Schließlich soll sie eben nicht nur ein Hobby sein sondern viel viel mehr als dass. Und schließlich ist auch fraglich wie viel Inspiration und Muse denn übrig bleibt, wenn man jeden Tag sechs Stunden Kreditkartenhai spielt. Am Wochenende Fernbeziehung und dann und wann der Hund.

Hinzu kommt außerdem, dass sich Kreativität und künstlerisches Arbeiten ja nicht planen lässt. Man muss darauf warten. Ich jedenfalls. Ich muss warten, bis es mich überkommt. Ich muss hinhören, lauschen. Ich fürchte, ich werde viel zu abgelenkt sein um mich konzentrieren zu können.

Wahr ist aber auch, dass ich das Geld brauche, um über die Runden zu kommen. Mein Auto ist zehn Jahre alt, seit drei Jahren war nicht im Urlaub und über Themen wie Vermögensaufbau oder Altersvorsorge habe ich mir bisher nur beruflich, nicht aber privat Gedanken gemacht.

So sehr ich die Kunst liebe, seit ich sie kennen gelernt habe steht sie auf der Ausgabenseite der Bilanz. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich das ändert, aber ih persönlich kenne ich bisher niemanden, der sich darüber freuen konnte. Und meine künstlerischen Arbeiten sind schon wegen des Mediums Video nicht gerade zum Verkaufsschlager prädestiniert.

Wahr ist aber auch, dass man an seinen Träumen dran bleiben muss, dass man kämpfen muss und sich verbeißen. Kann man dass, wenn man 30 Stunden seiner Woche verkauft hat? Kann ich das?

Ich will es.
Künstler sein bedeutet ganz ausdrücklich, seinen Weg finden zu müssen. Und nur, weil der durch ein Bankbüro führt, werfe ich doch nicht das Handtuch.

Aus meiner Erfahrung weiß ich, dass es sehr albern ist, zu fürchten, man könne die Kunst wegen widriger äußerer Umstände verlieren. Wenn ich sie brauche und liebe wird sie auch bleiben. Meine Zweifel können sie betäuben. Meine angelernten Filter und inneren Kritiker können ihr schaden. Eine Bank kann es nicht.

Ich werde es beweisen.

Es funktioniert: Weihnachtsvorfreude durch Konsum!

Ich weiß, dass es (Achtung: Reizwort:) normal ist, dass die Vorfreude auf Weihnachten umgekehrt proportionale zum Lebensalter ist. Außer man sorgt für Nachwuchs. Weihnachtsvorfreude ist kindlich. An Stelle dieser kindliche Vorfreude tritt mit den Jahren neben der schwer auszuhaltenden Enttäuschung, dass der Weihnachtsmann nicht durch den Schornstein sondern aus dem Kostümverleih kommt, der nervtötende Druck, jedem seiner Lieben ein möglichst persönliches und möglichst originelles Geschenk überreichen zu können, dass auf gar keinen Fall nach industrieller Massenproduktion , geistloser Ressourcenverschwendung oder 20% Rabatt riechen darf.

Man selbst wünscht sich entweder gar nichts sondern lässt sich von der Kreativität seiner Mitmenschen überraschen, was meistens in der feierlichen Übergabe von Rasiersets, Romanen oder aber tatsächlich Socken mündet, oder aber man wünscht sich nützliche Dinge wie Bücher für’s Studium, eine 50er Spindel DVD-Rohlinge oder eine vernünftige Backform. Und das alles nur, weil man den ganzen Werbefuzzis, die einen den ganzen Tag über einreden wollen, dass sinnfreier Konsum glücklich machen würde, den Stinkefinger zeigen will.

Wie albern! Also ob die Werbefuzzis eine Flasche Sekt -äh Champagner köpfen würden, nur weil ich meinen Stolz verliere.

Dieses Jahr habe ich es so gemacht, wie ich es als Kind gemacht habe: Ich habe mir ein Spielzeug gewünscht. Ein Ding also, dass weder nützlich, noch sinnvoll, noch idealistisch wertvoll ist. Ein Ding, dessen einzige Bestimmung es ist mich zu unterhalten, mir Spaß zu machen, und meine Zeit zu vergeuden.


(Foto: davemee bei flickr.)

Dieses Ding heißt Nabaztag. Das ist armenisch und bedeutet: (Trommelwirbel, Tusch, Feuerwerk:) Hase. Es handelt sich hierbei um eine 20cm hohen Plastikhasen, den die freundlichen Kollegen vom Ice-Blog völlig zurecht als Tamagotchi 2.0 bezeichnen. Das Häschen wählt sich über WLAN ins Internet ein, surft dort fröhlich vor sich hin und liest dann und wann vor, was ihm so vors Näschen kommt. Es kann E-Mails checken, den Wetterbericht ansagen und auf Kommando eines anderen Anwenders auf der anderen Seite des Erdballes suuuperputzig mit den Ohren wackeln.

Mein Schatz wird es mir zu Weihnachten schenken.

Ich freu mich wie ein kleiner Junge und zähle die Tage.

"Vom Idealismus alleine wirste nich satt!"

Stellen Sie sich vor, Sie hätten als 18-jähriger eine Bankausbildung begonnen und schon bald erkannt, dass Sie das erstens nicht interessiert und Ihnen zweitens deshalb keinen Spaß macht.
Sie hätten diese Ausbildung aber trotzdem zu Ende gebracht, weil Sie danach erzogen wurden alles zu Ende zu bringen, was sie angefangen haben. Stellen Sie sich vor, Sie hätten nach der Ausbildung als Finanzberater angeheuert, und es schlussendlich trotz der Bombenbezahlung nicht mehr mit Ihrem Gewissen vereinbaren können, Rentnern Investments in Technologiefonds aufzuschwatzen, obwohl diese sich diese Rentner vor Computern fürchten und nicht wissen, was das Internet eigentlich ist. Daraufhin hätten Sie schließlich gekündigt und ihren kopfschüttelnden Familienmitgliedern zum Hohn ein Kunststudium begonnen.

Nehmen wir nun an, sie würden gegen Ende dieses Kunststudiums erkennen, dass der ganze ästhetische Philosophiezauber Ihrem Geist und Ihrer Seele zwar sehr gut tut, Ihrer Brieftasche und Ihrem Bankkonto aber außerordentlich missfällt. Nehmen wir an, sie wären mittlerweile von zahlreichen treuen Freunden umgeben, die die 30 allesamt längst überschritten hätten und ähnlich wie Tarzan von Liane zu Liane, von Monat zu Monat und von unwürdigem Job zu Ausbeute hangeln würden, ohne ihren Dispo dabei jemals zu verlassen, und auch ohne zu gefeierten Kunst-Superstars aufzusteigen. Konkretisieren wir mit der Annahme, dass Sie selbst in den zurückliegenden fünf Jahren insgesamt 7.500 € mit Ihren Kunstwerken eingenommen haben. Also angenommene 1.500 € pro Jahr.

Gehen wir obendrein davon aus, dass Sie vor einem Jahr einen Nebenjob begonnen hätten. Sagen wir mal in einem Call-Center einer Bank. Ihnen lag nichts an diesem Job, an der monatlichen Gutschrift war Ihnen hingegen sehr gelegen. Gehen wir davon aus, Sie hätten sich in diesem Call-Center nun doch sehr engagiert und eingebracht, weil sie den Laden andernfalls  eines Tages aus purer Langeweile hätten anzünden müssen. In unserem Gedankenexperiement hat ihr Engament früchte getragen und Sie schließlich zu folgender finalen Situation geführt:

Ihnen wird ein Job angeboten. Ein richtiger. Ein spannender. Nicht in einem Call-Center, sondern wieder in einer Bank. 39 Stunden pro Woche, 30 Tage Urlaub pro Jahr und 32.000 € Jahreseinkommen. Als Einstiegsgehalt.

Wie würden Sie reagieren?

Ich werde mich bis morgen 12:00 Uhr entschieden haben.

Familenhilfe mit Herz!

Da braucht es schon die dicke Susan von “Familienhilfe mit Herz”, damit ich an Tagen wie diesem mal kurz aus dem Unterschichtenfernsehen-Vollrausch aufhorche und betrübt feststelle, dass sich mein Leben gar nicht so sehr von dem der hier am Nachmittag freiwillig öffentlich Bloßgestellten unterscheidet, auf deren Leben ich für gewöhnlich angewidert amüsiert herabschaue: Ein junger Mann sucht verzweifelt den Kontakt zu seiner leiblichen Mutter, die ihn im dritten Lebensjahr wegen akuter Überforderung im Rosenkrieg mit seinem Vater bei eben diesem zurückließ. Wenn ich die Mutter durch einen Vater ersetze bin ich schneller als mir lieb ist mitten in meinem Leben.

Der Sprecher aus dem Off weist nicht umsonst wenigstens dreimal pro Sendung darauf hin, dass Susan eine ausgebildete Diplom-Psychologin (sic! – Soweit ich weiß, sind alle Diplom-Psychologinnen ausgebildet, da man diesen Titel weder erben noch kaufen kann. Aber das ist Haarspalterei.) ist, die hier Handwerk versteht und deshalb alle Protagonisten völlig mühelos durch ein mit gelben Moderationskarten gepflastertes tiefes Tal der Tränen zum Happy-End – der Familienzusammenführung nämlich – führt.

Ich habe es ohne Susann probiert und bin irgendwo im Tal der Tränen offenbar falsch abgebogen. In Richtung Resignation und Zynismus nämlich. Ich finde es zwar merkwürdig aber erträglich wo ich jetzt bin. Meine Freunde behaupten jedoch, ich hätte mein Zelt in einer kalten, unwirtlichen Mondlandschaft aufgeschlagen und müsse dringend umsiedeln. Aber wohin?

Nicht nur, dass mein Vater lebt. Er tut es sogar in der gleichen Stadt wie ich. Ich habe seine Adresse und ich habe sie schon benutzt. Unglaublich: Wir haben uns getroffen. Entgegen dem jungen Mann im Fernsehen war ich bei diesem Treffen aber nicht von beinahe romantischer
Sehnsucht und kindlichem Hoffen erfüllt sondern von distanzierter Neugierde und tollpatschiger Verlegenheit. Und mein Vater – wenn ich mir eine weitere anmaßende Äußerung erlauben darf – war von Nichts und Niemandem erfüllt, und zwar – soweit ich das überblicke – noch nie in
seinem Leben.

Dementsprechend verlief der Nachmittag dann auch. Ich schwärmteschillernd von meinen Träumen, unter denen ich vorher verbal eintragfähiges Netz aus Vernunft und Realismus gespannt hatte, nur für denFall, dass mein Vater versuchen würde, sie zu stürzen. Er schimpfte
schallend über alle Missstände, die ihm einfielen, und zwar auch überdie, die nur in den Schlagzeilen der Bild-Zeitung, aber ganz und garnicht in seinem Leben existierten. Wer mit zwei Wagen in der Einfahrt im Eigenheim sitzt, sollte nicht die Sozialismuskeule schwingen. Meine
Meinung. Das Einzige, was mir an diesem Mann bewundernswert schien, war die Ausdauer und Wortgewalt, mit der er sich beklagte. Letztere war auch deshalb so beeindruckend, weil sie offenbar nicht die geringste Leidenschaft benötigte, sondern sich lediglich aus der Gewohnheit
speiste. Die Augen dieses Mannes blieben stumpf. Und würde sein Mund meinem nicht so ähnlich sehen, hätte ich gar keinen Grund gefunden, ihm ins Gesicht zu schauen. Wahrscheinlich war das Treffen für uns beide so unangenehm, dass wir uns nicht für ein zweites engagierten.

In den vergangenen zwei Jahren habe ich meinem Vater neun Briefe und eine Postkarte geschrieben. Die Postkarte war ein Reisegruß ausFrankreich, mit Informationen über Wetter, Unterkunft und Verköstigung. Vier Briefe betrafen Behörden, Formulare oder Unterlagen. Fünf Briefe allerdings betrafen – Achtung: Es sträubt sich alles! – uns. Sie hatten alle den gleichen Wortlaut und wurden mal per e-Mail, mal per Fax und einige Male selbstverständlich auch per Briefpost zugestellt. In diesen Briefen fragte ich, wie sich den mein Vater unser weiteres Verhältnis vorstelle, weil ich ratlos sei. Ob ihm dieses Postkarten- und Behördenpost-Beisammensein ausreiche, weil ich es komisch finde. Ich öffnete und entblößte mich, um das, was von meiner Seite aus zwischen uns stand auszuräumen, und bat ihn, es mir gleich zu tun. Ich bekundete unverholen, dass mich der momentane Zustand sehr irritiere, und ich auch
nicht wisse, wo es eigentlich hingehen soll. Mein Vater schwieg und schweigt bis heute.

Mich beruhigt, dass ich es versucht habe. Und dass ich alt genug bin um nicht nur zu ahnen, sondern wirklich zu wissen, dass man a.) verlorene Zeit nicht nachholen kann, und dass man b.) keinen Vater mehr gewinnen wird, wenn man straff auf die 30 zu geht. Was mich allerdings beunruhigt ist der Fakt, dass ich meinem Vater theoretisch morgen im Döner-Laden treffen könnte, ohne zu wissen, wie ich diese Situation nach dem “Hallo” retten könnte. Wir hatten und haben nichts zu teilen, nichts nachzuholen und leider nicht mal etwas zu besprechen.

Jetzt erklärt sich, warum die Bewerberhotline von Susann kostenlos ist und man sogar etwas gewinnen kann: Die meisten Tragödien sind deshalb so tragisch, weil die romantische Sehnsucht und das kindliche Hoffen längst im Netz von Vernunft und Realismus zu Fall gekommen sind. Pathos hin oder her: Gute Nacht!

Allem Anfang wohnt ein Zauber inne.

Okay, das ist Hesse und damit nicht jedermanns Geschmack. Okay, das ist pathetisch, besonders dann, wenn man der Tatsache ins Auge blickt, dass es außer diesem hier noch geschätzte 500 Millionen anderer Blogs gibt und die meisten davon schon mehrere Jahre. Okay, mein Leben ist nicht interessanter als Deines.

Das es dieses Blog gibt, hat mir zu tun. Ich denke so viel nach. Und wenn sich meine Gedanken verknoten, hilft ein Text sie zu entwirren. Und nur weil ich diese ab sofort ins Netz stellen werde, heißt das noch lange nicht, dass du oder irgendwer sie lesen muss. Wenn du sie aber liest, und wenn du sie obendrein magst hat sich der ganze Aufwand doch gelohnt.
Und ich hätte mich überhaupt nicht rechtfertigen müssen.

Ich trau mich. Ich frage.

Es liegt sicherlich an mir. Du hast ganz Recht. Ich bin selbst Schuld. Wenn ich öfter rausgehen würde, um mich mit Freunden zu treffen oder mit Fremden, oder wenn ich mal tanzen gehen würde, nachts, und wenn ich mal was Trinken gehen würde, vielleicht auch mal zu viel, würde es mir sicher besser gehen.

Aber darin bin ich nicht gut.

Ich sitze zu oft allein zu Haus, eigentlich immer, und ich verschwinde zu oft in meinem Arbeitszimmer, eigentlich immer, hinter meinen Monitoren und werde digital und löse mich auf. Das kann nicht gut gehen. Ich weiß. Aber ich bin wirklich nicht gut im fröhlich sein. Ich grüble zu viel. Ich denke zu viel und zu ernsthaft. Und im Gegenzug lebe ich zu wenig.

Das zu erkennen war gar nicht so schwierig. Mein schwerer Kopf sagt es die ganze Zeit und meine verspannten Schultern und auch die vom Sitzen verkürzten Bänder in meinen Beinen, gelegentlich. Aber damit aufzuhören ist sehr schwer. Das Denken mal weg zu lassen für eine Weile, einen Tag, ein paar Stunden. Sich keine Sorgen zu machen. Nicht zu fragen. Und deshalb nicht zu fragen, weil man eingesehen hat, dass es keine Antworten gibt.

Das Problem ist, dass es nichts Falsches an den Fragen zu entdecken gibt. Obwohl es mir manchmal peinlich ist sie auszusprechen, weil ich fürchte mein Gegenüber könnte denken, dass ich mit 25 wirklich zu alt für solche Fragen bin. Obwohl ich weiß, dass sich diese Fragen schon Millionen andere vor mir gestellt haben und die von ihnen konstruierten Antworten nicht nur Bücher sondern ganze Bibliotheken füllen.

Ich trau mich heute. Ich frage laut, weil mich die Antworten nicht satt machen: Warum das alles? Warum bin ich hier und warum du? Was ist der Plan? Wo soll es hingehen?

Ich lausche schon eine Weile, aber es kommt nichts. Nichts außer Plattitüden wie: Wir sind alle hier um glücklich zu sein. Oder: Wir sind alle hier, weil unsere Seelen etwas lernen wollen. Oder: Gottes Wege sind unergründlich.

Und wenn ich mich umsehe, draußen, komme ich auch nicht zur Ruhe. Ich sehe Menschen, die leben, um Geld zu verdienen und es wieder auszugeben. Ich sehe Menschen, die beschlossen haben, dafür zu leben sich fortzupflanzen und ihre offenen Fragen an ihre Kinder weiterzugeben. Und ich sehe Menschen, die einen Zweck für sich gefunden haben und danach streben ihn zu erfüllen. Religion. Aufopferung für andere. Unterhaltung.

Keines dieser Rezepte funktioniert für mich.
Ich bin aber so hungrig.

Where you end and I begin 2

Ich fühlte mich unwohl. Kurz vor der Eröffnung wurde mir klar, dass mir (und uns) jemand oder etwas das Zepter aus der Hand genommen hatte.

Der Ausstellungsraum war leer und klar. Eine Videoprojektion. Eine Bilderreihe. Ein mit Teichfolie abgedunkeltes Schaufenster. Weiße Wände. Ich lief Runden durch die Galerie und suchte nach einem Fetzen von der Schrulligkeit die Manu und ich so schätzten. Ich suchte nach einem Schnipsel Gemütlichkeit, einem Fleck Wärme. Da war nichts.

Mein Blick wanderte durch die Galerie und ließ mich schaudern vor dem Eindruck, dass wir offenbar nicht so schrullig, gemütlich und warm waren, wie wir zu sein glaubten. Das hier war eine ernste, durch Neonlicht zusätzlich abgekühlte Ausstellung, deren Heftigkeit darin lag, dass ihre Arbeiten ohne ästhetische Umwege, ohne gedankliche Weitläufigkeiten, ohne Rücksicht trafen.

In diesem Moment kurz vor der Eröffnung war die Anwesenheit einer Dritten Person – Gott? Kunst? Dem Universum? – greifbar, und das gruselte mich, weil Manu und ich diejenigen sein würden, die für das Werk auch dieser dritten Kraft stehen würden. Es ging mir nicht um Verantwortung in dieser Sekunde. Nicht in erster Linie. Es ging mir um den Zweifel an meiner eigenen Autorenschaft. Oft schon habe ich Künstler sagen hören, dass sie sich als Kanal fühlten für jemanden oder etwas der sich über sie ausdrücke. Auch ich kenne dieses Gefühl schon. In dieser Intensität aber, in einem solchen Erschaudern, einer solchen Überforderung mündend war es mir völlig neu und eindeutig zu heftig.

Es wurde von einigen Besuchern als zynisch empfunden an diesem Abend Sekt auszuschenken und es schien beinahe albern, dass ich mir im Vorfeld Gedanken darüber gemacht hatte wie ich die Beschallung des fröhlichen Teils des Abends organisieren könnte. In dieser Sekunde war klar, dass heute niemand tanzen würde.

Viermal an diesem Abend musste ich die Galerie verlassen, weil ich mich dem, was darin statt fand nicht gewachsen fühlte. Streckenweise erhielt das Video eine Intimität, der ich nicht standhielt. Streckenweise glaubte ich in der Reaktion der Betrachter so viel über sie lesen zu können, dass meine bloße Anwesenheit voyeuristisch wurde. Sicher, ein ungefähres Dutzend Besucher betraten und verließen die Galerie binnen zwei Minuten. Viele andere jedoch blieben und sahen sich den Film an, nicht wenige sogar mehrmals. Eine Besucherin weinte.

Dennoch: Ich kann mich an keinen Moment in meiner künstlerischen Auseinandersetzung erinnern in dem ich so tief begriff, was Kunst leisten konnte. Für mich war dieser Abend ein Endgegner. Das hier ist ein neues Level.

Where you end and I begin

Morgen ist Ausstellungseröffnung.
Manu und ich haben gemeinsam eine neue Arbeit gemacht.
Die erste nach zwei Jahren. Außer uns hat sie bisher nur Heiko gesehen. Und der war erwartungsgemäß irritiert.

Es ist eine Videoperformance. Das Bild zeigt unsere sich gegenüberstehenden Profile. Nach ungefähr einer Minute beginnen wir einander ins Gesicht zu schlagen.
Die Idee ist nicht von uns. Marina Abramovic und ihr Partner Ulay haben ihre symbiotische Beziehung in ähnlicher Weise thematisiert. Der Unterschied besteht darin, dass wir unsere Performance haben atmen lassen. Es findet kein bloßer Schlagabtausch statt. Das Wichtigste passiert in den Momenten zwischen zwei Ohrfeigen. In alter Manier geht es uns um Emotionen und Ehrlichkeit. Deswegen haben wir die Kamera einen Moment vor Abramovic/Ulay eingeschalten und erst einige Momente nach ihnen wieder aus.

Wir mochten dieses Bild als künstlerische Übersetzung der Kette von Verletzungen die in zwischenmenschlichen Beziehungen stattfinden. Genauer: in unserer. Aber wir wollten in diesem Konzept Platz für den Menschen lassen. Das Konzept öffnen für die Facetten, die neben den Verletzungen auch wahr sind. Das ist uns gelungen glaube ich. Wir sind zufrieden. Aber darüber will ich gar nicht schreiben.

Eigentlich geht es mir um die merkwürdige Dynamik die Manu und mich ratzfatz von hinten aufgabelt, wenn wir eine Sekunde nicht aufpassen um uns dann gerne kilometerweit mitzuschleifen.

Es ist keine Überraschung, dass unsere Verbindung ein neues Level beginnt, wenn a.) Manus Beziehung in die Brüche geht und wir b.) erstmals nach so langer Zeit wieder miteinander arbeiten um c.) genau diese unsere Verbindung zu reflektieren.

Trotzdem:
Ich fürchte, dass das ein Test ist.
Wieviel haben wir gelernt aus der Zeit der Ohrfeigen?

Was machen wir, wenn einer vielleicht sagt und der andere bestimmt versteht?
Was, wenn einer sagt es ist okay und der andere dennoch weiterhin ein schlechtes Gewissen hat?
Und was, wenn der, der behauptete es wäre okay nach einer langen Zeit – so kurz vor dem Vergessen – merkt, dass es eben doch nicht okay war?

Reden?
Reden liegt uns.
Ich wette, wir haben schon heute dreimal länger miteinander geredet als unsere beiden Eltern in ihren ganzen Leben.

Und trotzdem fürchte ich mich vor dem Test.
Hoffentlich zu unrecht.