Konsumiert nicht, gestaltet! Eine Laudatio den Aufständigen.

Ich gestehe unumwunden: Ich mag Joachim Gauck. Das ist weder rational noch objektiv, aber eben nicht zu leugnen. Dementsprechend voreingenommen bin ich. Daher hatte ich beschlossen, eine Nacht über seine Antrittsrede zu schlafen, um mit etwas Distanz und einem kühlen Herzen vielleicht doch noch Kritikwürdiges zu entdecken, Nichtgesagtes, Verschwiegenes, Missgedeutetes oder Missverstandenes. Aber es bleibt dabei: Ich bin begeistert. Ich finde, Gauck hätte es nicht besser machen können. Ich empfehle nachdrücklich, seine Rede selbst durchzulesen oder anzusehen.

Weil meine geneigte Leserschaft von mir aber guten Service gewohnt ist, hier eine Zusammenfassung der Punkte, die mich persönlich am stärksten berührt haben:

Demokratie
Sehr wesentlich für Gaucks öffentliche Wahrnehmung war ja gerade in den letzten Wochen, dass er weder die Occupy- noch die Anonymus- noch die Piratenbewegung so richtig ernst zu nehmen schien. Diesen Eindruck versuchte er nun richtig zu stellen, in dem er sagte:

“Nicht nur bei uns, sondern auch in Europa und darüber hinaus ist die repräsentative Demokratie das einzig geeignete System, Gruppeninteressen und Gemeinwohlinteressen auszugleichen. […] Das Besondere dieses Systems ist nicht seine Vollkommenheit, sondern, dass es sich um ein lernfähiges System handelt. Neben den Parteien und anderen demokratischen Institutionen existiert aber eine zweite Stütze unserer Demokratie, die aktive Bürgergesellschaft. Bürgerinitiativen, Ad-hoc-Bewegungen, auch Teile der digitalen Netzgemeinde ergänzen mit ihrem Engagement, aber auch mit ihrem Protest die parlamentarische Demokratie und gleichen Mängel aus.”

Soziale Gerechtigkeit
Der Weg zu sozialer Gerechtigkeit, Teilhabe und gleichen Aufstiegschancen sei laut Gauck nicht “paternalistische Führungspolitik” sondern ein Sozialstaat der vorsorgt und ermächtigt. Wohlgemerkt vorsorgt – nicht: versorgt. Es geht Gauck um die Ermächtigung des Einzelnen, seine Geschicke in die Hand zu nehmen und an der Verwirklichung seiner Ziele arbeiten zu können. Ideen, wie ein bedingungsloses Grundeinkommen wird dieser Bundespräsident sicherlich nicht befürworten. Neben dem Wort “Freiheit” hat er nämlich ein weiteres Lieblingswort, das er verwendet, als sei es die andere Seite der gleichen Medaille. Es lautet: Verantwortung. Wörtlich sagte er:

“Wir dürfen nicht dulden, dass Kinder ihre Talente nicht entfalten können, weil keine Chancengleichheit existiert. Wir dürfen nicht dulden, dass Menschen den Eindruck haben, Leistung lohne sich für sie nicht mehr und der Aufstieg sei ihnen selbst dann verwehrt, wenn sie sich nach Kräften bemühen. Wir dürfen nicht dulden, dass Menschen den Eindruck haben, sie seien nicht Teil unserer Gesellschaft, weil sie arm oder alt oder behindert sind.”

In Gaucks Augen ist Gerechtigkeit die Voraussetzung um “Freiheit und Selbstverwirklichung erlebbar zu machen.” Was genau aber Gerechtigkeit bedeutet, lässt sich seiner Meinung nach nicht paternalistisch anordnen sondern muss in öffentlichen Debatten gemeinsam erarbeitet werden.

Integration
Gauck definiert nationale Identität als “Zugehörigkeit zu einer politischen und ethischen Wertegemeinschaft” und bezeichnet “Volk” eben nicht als die Summe derer, die in einem Land geboren oder verwurzelt sind sondern als Gemeinschaft aller, die in einem Land leben. Der Staat ist damit in seinen Augen “das Streben der Unterschiedlichen nach dem Gemeinsamen”. Auf die Frage, ob “ethische oder religiöse Minderheiten in gewollter (sic!) oder beklagter Isolation Gegenkulturen” schaffen, antwortete er sich selbst:

“Wir wären allerdings schlecht beraten, wenn wir aus Ignoranz oder falsch verstandener Korrektheit vor realen Problemen die Augen verschließen würden. Aber in Fragen des Zusammenlebens dürfen wir uns eben nicht letztlich von Ängsten, Ressentiments und negativen Projektionen leiten lassen. […] Unsere Verfassung wie unser Menschsein tragen uns auf, im Anderen geschwisterlich uns selbst zu sehen: begabt und berechtigt zur Teilhabe wie wir.”

Das Recht gehört zu werden, sich einzubringen und sein Umfeld mitzugestalten, muss demnach von niemandem erworben, erarbeitet oder verdient werden – es besteht.

Faschismus und Fanatismus
Gauck lobt die Generation der 68er, die einen entscheidenden Beitrag zu Aufarbeitung des nationalsozialistischen Grauens geleistet hat und ruft dazu auf, sich heute ebenso mutig und radikal gegen verbrecherischen – Obacht, er sagt nicht: religiösen – Fanatismus zu engagieren.

“Wir stehen zu diesem Land, nicht weil es so vollkommen ist, sondern weil wir nie zuvor ein besseres gesehen haben. Und speziell zu unseren rechtsextremen Verächtern der Demokratie sagen wir in aller Deutlichkeit: Euer Hass ist unser Ansporn. Wir lassen unser Land nicht im Stich. Wir schenken euch auch nicht unsere Angst. Ihr werdet Vergangenheit sein und unsere Demokratie wird leben.”

Politikverdrossenheit
Gauck ruft dazu auf, Freiheit weder als selbstverständlich zu erleben noch als eine scheinbar unbegrenzte Flut von Möglichkeiten, die zu nichts anderem als tiefer Verunsicherung führt. Vielmehr betrachtet er sie als ein nicht zu unterschätzendes Potential zur Einmischung, dass es zu nutzen gilt. Zur Entfremdung zwischen “dem Volk” und “denen da oben” führt er aus:

“Meine Bitte an beide, an Regierende wie Regierte, ist: Findet euch nicht ab mit dieser zunehmenden Distanz. Für die politisch Handelnden heißt das zuerst: Redet offen und klar, dann kann verloren gegangenes Vertrauen wiedergewonnen werden. Den Regierten, unseren Bürgern muten wir zu: seid nicht nur Konsumenten. Ihr seid Bürger, das heißt Gestalter, Mitgestalter.”

Vertrauen
Am Ende seiner Rede bittet Gauck um Vertrauen. Ja, auch um Vertrauen in seine Person aber vor allem um Vertrauen in die Regierenden und was besonders verblüffen darf: Um Vertrauen in uns selbst. Am Anfang seiner Rede bejubelt er, dass es revanchistischer Ideen und Rachegelüste trotz des schweren Standes der Bundesrepublik nach dem Krieg nie zu einer Mehrheit gebracht haben, sondern dass sich Deutschland im Gegenteil zum Wegbereiter der europäischen Idee gemausert hat. Er erinnert daran, was uns gelungen ist, an Wiedervereinigung und Zusammenwachsen, an Friedfertigkeit und Solidarität und schlägt vor, das Bewusstsein darum als Kraftquelle für künftige Herausforderungen zu nutzen.

Natürlich: Gauck hat nur gesprochen, er hat nichts getan. Nur Taten jedoch werden aufkeimender Fremden- und Europafeindlichkeit Paroli bieten können. Es sind aus guten Gründen nur Worte, die einem Bundespräsidenten zur Ermutigung eines Landes zur Verfügung stehen. Unter Ermutigung versteht Gauck die Selbstermächtigung der Vielen. Also ausdrücklich: Die Übernahme von Verantwortung durch jeden Einzelnen.