Das achte Gebot lautet: “Du sollst kein falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten” (2. Buch Moses, Kapitel 20 Vers 16 nach Lutherbibel 1912). Und so einfach dieser Satz auch klingen mag, so schwierig ist doch dessen Umsetzung. Denn letztendlich bedeutet dies eine Verpflichtung zur Wahrhaftigkeit. Nun mag dies im ersten Moment kein wirkliches Problem darstellen und gern werden Kinder an dieses Gebot erinnert. Und wesentliche Bereiche unsere Gesellschaft sind scheinbar durchdrungen mit diesem normativen Ansatz: Das Rechtssystem befindet sich auf Wahrheitssuche genauso wie die Wissenschaft. Politiker fürchten die Journalisten im Wesentlichen deshalb, weil diese mit der Veröffentlichung unangenehmen Wahrheiten drohen können. Die Wahrheit ist ein mächtiges Schwert in unserer Gesellschaft! Aber was bedeutet Wahrheit eigentlich? Ich möchte meine Verwirrung gern an einem Beispiel zum Ausdruck bringen:
Am 5. August 2010 trat Naomi Campell vor dem Sondergericht für Sierra Leone in Den Haag als Zeugin im Verfahren gegen Charles Taylor auf. Es war mir leider nicht vergönnt die Vernehmung live zu sehen, allerdings weckte es mein Interesse und ich schaute mir am Monatg den 9. Und 10. August 2010 die Vernehmungen von Mia Farrow und Carole White an. Das interessante an diesem Fall ist das Szenario: Charles Taylor wird unter anderem der Entführung und Sklavenarbeit angeklagt (Count 12, SCSL-03-01-PT Taylor Indictment, p.15). Im Rahmen dieses Anklagepunktes ist die Herstellung einer Verbindung von Charles Taylor mit den sogenannten Blutdiamenten von großer Bedeutung.
Zeugin Naomi Campell: … traf Charles Taylor im September 1997 bei einem Abendessen ausgerichtet von Nelson Mandela in Südafrika. In der anschliessenden Nacht hat Naomi Campell, nach eigener Aussage, einen kleinen Beutel voller kleiner dreckiger Steine von zwei Schwarzafrikanern bekommen, welche weder sich selbst noch den Absender des Geschenks identifizierten. Soweit ist alles noch einigermassen klar. Probleme tauchen erst auf als Mia Farrow und Carole White den Angaben von Naomi Campell widersprechen. Die verkürzte Darstellung hier und in den Nachrichten kann das Dilemma der Situation gar nicht verdeutlichen. Naomi Campell hatte sich bspw. zu Beginn geweigert mit den Anklägern zusammenzuarbeiten – aus Angst um die Sicherheit Ihrer Familie, wie sie später zu Protokoll gab.
Zeugin Mia Farrow: … gab sehr bereitwillig Auskunft und ist gleichzeitig sehr engagiert im Bereich benachteiligter Kinder in Afrika. Sie machte keinen Hehl daraus, dass sie starke Vorurteile gegenüber Charles Taylor besitzt. Gleichzeitig wirkte sie sehr chaotisch, ja sogar leicht verwirrt. Sie widersprach Naomi Campell dahingehend, dass diese ihr gegenüber in freudiger Erregung am nächsten Morgen von einem großen Diamenten als Geschenk von Charles Taylor sprach. Dementsprechend hätte Naomi Campell bezüglich Quantität, Qualität und Herkunft des Geschenks falsch ausgesagt.
Zeugin Carole White: … war 1997 die Modelagentin von Naomi Campell und als Begleitung mit auf der Reise um Nelson Mandela kennenzulernen – ein persönlicher Gefallen von Naomi Campell an ihre Modelagentin. Im Augenblick befindet sich Carole White aber zusätzlich in einem Rechtstreit mit Naomi Campell um einen millionenschweren Vertrag. Carole White widersprach Naomi Campell in einigen Details bezüglich der Übergabe der Diamanten und bezüglich der Herkunft.
Das Interessante an dieser Konstellation ist die Einbettung der Widersprüche der drei Frauen in diesen Prozess. Es wird wohl niemand daran zweifeln, dass alle drei von humanitären Gesichtspunkten aus, bereits eine Vorverurteilung von Charles Taylor vorgenommen haben. Es gibt also keine wirkliche Sympathie mit dem Angeklagten. Vielmehr sind die Aussagen stark durch die sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten der Zeuginnen geprägt. Und schaut man sich nun die Darstellungen im Fernsehen oder per Livestream an (derzeit sind die Aussagen leider nur per Transkript abrufbar), dann kommen mit jeder Minute mehr Zweifel daran auf, was wirklich passiert ist. Ohne Zweifel waren alle drei in dem Zeitraum gleichzeitig zu Gast bei Nelson Mandela. Aber die Aussagen sind stark von den individuellen Hintergründen geprägt. Und ich möchte nochmals verdeutlichen, dass ich keinesfalls unterstelle, dass eine der Frauen gelogen hat. Es handelt sich dabei um Geschehnisse von vor 13 Jahren! Am Ende war nur klar, dass es in der Nacht eine Übergabe eines oder weniger Diamanten an Naomi Campell gab. Unklar blieb die Herkunft, Quantität und Qualität des Geschenkes.
Der spannende Punkt an diesem Beispiel ist, dass es eine Situation vor 13 Jahren gab, welche eine faktische Wahrheit ist. Die Rekonstruktion dieser Wahrheit durch die Zeugenaussagen macht deutlich, wie anfällig unser Wissen für Manipulation und Reduktion ist. Meiner Meinung nach haben wir uns in vielen Bereichen unserer Gesellschaft von einer tieferen Wahrheit verabschiedet. Nicht einmal unser Rechtssystem ist fähig Wahrheitsfindung wirklich zu forcieren. Spätestens wenn die drei Frauen auf die Bibel schwören und sich auf ihr bestes Wissen und Gewissen berufen, ist das Ende erreicht. Alle drei haben keine Konsequenzen zu fürchten, falls sie einer Falschaussage überführt werden, weil das Gericht keine nationalen Autoritäten anrufen kann. In der Politik und Presse ist es noch viel vager. Hier wird mit Gegendarstellungen nur so um sich geschmissen. Aber gibt es denn wirklich eine Wahrheit oder einen wahrhafte Erkenntnis?
Die Wissenschaft beschäftigt sich mit diesem Problem spätestens seit Platons Höhlengleichnisses in der Politeia. Und diverse Debatten haben die Probleme sehr detailiert erörtert – eine wirklich letzte Antwort gibt es nicht. Irgendwann muss man sich einfach entscheiden, welcher erkenntnistheoretischen Schule man angehört. Und auch wenn man sich für gewisse Annahmen entschieden hat, stösst man schnell an seine Erkenntnisgrenzen und stellt fest, dass die letzte Antwort einfach nicht auffindbar ist.
Zwei Prinzipien zur Wahrung einer möglichst hohen Qualität sind aber zweifelsohne Konsens in der Wissenschaft: Methode und Diskussion. Ohne logisch nachvollziehbare Methode ist keine Objektivierung einer Erkenntnis möglich. Außerdem müssen neue Erkenntnisse in bereits Bekanntes eingebettet werden und zur Diskussion gestellt werden. Wenn man beiden Prinzipien folgen will, dann muss man sich ein wenig Zeit nehmen, die Anliegen anderer Menschen zu verstehen und die eigenen Erkenntnisse zu kommunizieren. Ein wahrlich schwieriges Unterfangen in unserer schnelllebigen und diversifizierten Gesellschaft – selbst für Wissenschaftler. Aber wer weiss, vielleicht lohnt sich die Mühe ja?!