10 Sätze: Warum wir nicht alle Christian Wulff sind

Ein Mann finanziert sein Häuschen so günstig wie möglich, er freut sich, wenn er business class fliegen darf, obwohl er nur economy gebucht hat und wenn ihn Freunde zu Urlauben nach Florida, Italien oder Griechenland einladen, nimmt er händeklatschend an.

Würden wir das nicht alle? Wahrscheinlich würden wir, es sei denn, wir wären eine politische Person.

Wegen schlechter Erfahrungen mögen wir es nicht, wenn Politiker Geschenke von Unternehmern, Aufsichtsräten oder Konzernchefs annehmen. Wir wollen, dass der Wille des Volkes und der gesunde Menschenverstand die Basis für politische Entscheidungen bilden und etwa nicht persönliche Sympathien, denen durch geldwerte Vorteile womöglich nachgeholfen wurde.

Wir sind ein bisschen naiv was das angeht und auch ein bisschen empfindlich, aber Korruption, Bestechung und alles was danach riecht, wollen wir nicht haben. Im Gegenteil mögen wir politischen Idealismus und moralische Integrität, weshalb wir dem politischen Betrieb in unserem Land ein Amt vorangestellt haben, dessen Aufgabe es ist, genau diese beiden Tugenden zu repräsentieren.

Ein Amt selbst kann freilich keine Würde haben, der der es ausfüllt, muss sie ihm verleihen.

Gelten für einen Bundespräsidenten also höhere moralische Maßstäbe als für Privatpersonen?

Selbstverständlich und zwar aus guten Gründen.

Kässmann endlich glaubwürdig

Margot Käßman, Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, wird mit 1,5 Promille Alkohol im Blut nach dem unbeeindruckten Überfahren einer roten Ampel von der Polizei gestoppt. Diese Verfehlung könnte ihr das Amt kosten. Dabei bietet sie die seltene Gelegenheit, die Glaubwürdigkeit moralischer Instanzen neu zu definieren.

Seitdem Käßmann im Oktober letzten Jahres Wolfgang Huber an der Spitze der evangelischen Kirche in Deutschland  ablöste, kommt die Organisation nicht mehr zur Ruhe. Die Tatsache, dass Käßmann a.) eine Frau und b.) obendrein geschieden ist, genügte der russisch-orthodoxen Kirche die Zusammenarbeit mit der evangelischen Kirche Deutschlands unter reichlich moralisch-pikiertem Tschingtarassa abzubrechen. Käßmanns rigorose Ablehnung des Einsatzes deutscher Soldaten in Afghanistan sorgte für politischen Zwist und verschaffte ihr das Image der gnadenlosen Hardlinerin in Sachen Ethik und Moral, die sich einen Dreck um das diplomatisch Notwendige oder politisch Machbare schert. Was mir stets imponierte.

Natürlich kann man ihr leicht vorwerfen, dass ihre stets an ganz grundsätzlichen Idealen entlang argumentierte Auffassung von Recht und Unrecht nur wenig dazu beitragen kann, konkrete Probleme wie beispielsweise die verfahrene und aussichtlose Situation der Bundeswehr in Afghanistan in den Griff zu bekommen. Andererseits ist das auch nicht ihre Aufgabe. Als Vorsitzende der evangelischen Kirche in Deutschland ist sie vielmehr dazu berufen, lautstark für christliche Gebote und Vorstellungen einzutreten und deren Einhaltung auch in politischen Konflikten, auch in gesellschaftlichen Debatten anzumahnen. Und diesen Job macht sie gut. Denn der christlichen Lehre folgend steht das Gebot des absoluten Pazifismus – trotz “Auge um Auge und Zahn um Zahn” – nun mal nicht im Geringsten zur Debatte. Dementsprechend lies auch sie keinen Platz für ein diplomatisch-realpolitisch aufgeweichtes “Ja-aber.”

Die angetrunkene Spritztour am letzten Samstag stellt die von der Welt als “Wächterin strengster moralischer Maßstäbe” titulierte Bischöfin in ein ganz neues Licht – und zwar kein gutes. Man kann es nicht schönreden: 1,5 Promille sind ziemlich viel. Traut man sich Käßmanns Größe und Gewicht großzügig zu schätzen und einen Alkoholrechner mit diesen Werten zu füttern, erfährt man, dass sie mindestens drei große Bier oder etwas mehr als eine Flasche Wein getrunken haben muss. Dass sie danach nicht mehr fahrtüchtig war, kann ihr nicht entgangen sein. Sie ist trotzdem gefahren und hat damit sich und andere in ernsthafte Gefahr gebracht. Ohne Zweifel ist das eine ernsthafte moralische Verfehlung, die geahndet werden soll. Nur wie?

Käßmann ist erwischt worden. Wahrscheinlich ist sie ihren Führerschein los, hat für den Blutalkohol und die rote Ampel empfindliche Bußgelder zu berappen und muss sich in einem Ermittlungsverfahren wegen Trunkenheit am Steuer verantworten, so wie ich es an ihrer Stelle auch müsste. Im Gegensatz zu ihrer wäre meine Trunkenheit jedoch für den Maulwurf innerhalb der Polizei oder den Bildzeitungsjournalisten, der illegal den Polizeifunk abgehört hat, bei Weitem kein so einträgliches Geschäft gewesen.

Und im Gegensatz zu meiner (wohlgemerkt rein hypothetischen) Trunkenheit ist ihre ein öffentliches moralisches Problem. Sie beweist uns, dass auch Margot Käßmann ein Mensch ist. Keine roboterhaft Psalmen zitierende weiße Weste, keine makellose Heilige, kein unfehlbares Orakel. Margot Käßmann macht Fehler, obwohl sie weiß, was richtig ist. Sie tut das Falsche, obwohl sie gebetsmühlenartig dafür eintritt, das Richtige zu tun. Sie erliegt der Verführung, obwohl sie Tugendhaftigkeit predigt. Darf sie trotzdem weiterhin Vorsitzende einer großen Deutschen Kirche sein?

Ich finde jetzt erst recht. Käßmann jetzt ihres Amtes zu entheben würde der Kirche schaden, weil sie damit überführt wäre, noch immer der sehr naiven Illusion verfallen zu sein, irgendjemand sei ohne Sünde und würde ihr Amt daher besser ausfüllen.

Dabei ist es eine Chance: Das Oberhaupt der evangelischen Kirche bereut. Käßmann sei erschrocken darüber, dass sie so einen schlimmen Fehler gemacht habe. In den nächsten Tagen werden sicherlich noch weitere Reuebekundungen folgen. Soll man diesen Glauben schenken? Unbedingt. Glauben muss immer geschenkt werden.

Wie glaubwürdig aber ist eine moralische Instanz aus Fleisch und Blut die allen Ernstes behauptet, stets das Richtige zu tun? Wie kann jemand als lebendiges Vorbild taugen, der sich im Lichte für mich unerreichbarer Unverdorbenheit sonnt? Wem soll ich glauben, er sei frei von Sünde?

Rechtschaffend zu sein ist ein Kampf. Und diesen Kampf gewinnt man nicht jeden Tag. Auch als Kirchenvorsitzende nicht. Umso beeindruckender wäre es, wenn Käßmann sich nach dieser Niederlage erheben würde, um weiterhin mit gewohnter Vehemenz aber hinzugewonnener Menschlichkeit für das Gute und Richtige einzutreten.