Mit jeder weiteren Person, die ich in der Schlange vor dem Bäcker entdecke als ich um die Ecke biege, blase ich die Backen ein bisschen weiter auf; dann fällt die Genervtheit zu einem Lächeln zusammen. Ganz am Ende der um zwei Meter pro Person zu langen Schlange sitzt ein Hund. Es ist dieser rotschwarzweiße mit den spitzen Ohren und den eleganten, schmalen Pfötchen. Ich bin ihm gestern schon begegnet auf meiner Morgenrunde, aber er durfte nicht zu mir. Jetzt ist er dort am Fahrradständer angebunden, wo ich stehen muss; wo ich selbst dann stehen müsste, wenn ich mich über die Nähe nicht freuen würde. Er freut sich auch. Er wedelt mit seinem buschigen Schwanz als ich ihn anlache; steckt mir den Kopf zwischen die Knie, als ich mich zu ihm hocke; streckt sich, als ich ihm den Hals kratze; legt sich auf den Rücken, damit ich ihr die Brust graulen kann.
Der Frau vor mir ist das egal, die Frau vor ihr hat sich umgedreht und starrt mich an, dreht sich wieder nach vorn und starrt jemanden anderen an, dreht sich wieder zu mir, starrt. Dem Mann vor ihr ist das egal, aber dem Mann vor dem Mann vor ihr nicht. „Man streichelt keine fremden Hunde.“, sagt er. „Aber sie hat angefangen.“, antworte ich und kraule weiter. „Das ist mein Hund.“, sagt er. „Hündin.“, sage ich. „Was?“, sagt er. „Na gut.“, sage ich und höre auf. Die Hündin erhebt sich, schüttelt sich und sieht mich an. Ich stehe auf, drehe mich zum Geschäft und tue so, als wäre ich ein normaler in einer Schlange Wartender. Letzte Woche hat eine Kollegin in einer Videokonferenz den Terminus „Soziale Erwünschtheit“ benutzt. Der Besitzer kauft seine Brötchen.
Ich staune, wie ruhig ich bleibe. Ich bin normalerweise empfindlich, wenn mich Menschen anfahren. Ich bekomme Puls oder Wut im Bauch oder eröffne ein Wortgefecht; meine Schlagfertigkeit ist gefährlich; sie funktioniert unabhängig davon, ob ich im Recht bin. Aber heute ist es, als wäre der Besitzer die schlecht erzogene Töle, die mich anbellt, während die Hündin die freundliche Person ist, mit der ich mich angenehm unterhalten habe; das alberne Gebell der Töle ignorierend.
Der Besitzer kommt aus dem Laden. Ich versuche ihn anzulächeln, aber er ignoriert mich, als hätte ich unerzogen gebellt. Sobald er an mir vorbei ist, drehe ich mich zu seiner Hündin. Die hatte sich hingelegt und steht nun auf. Ihr Schwanz bleibt still, ihr Kopf ungekrault, seine Hand ungeleckt. „Los jetzt.“, sagt er, als er sie ableint und sie gehorcht. Als er ihr ein Leckerchen zuwirft, freut sie sich. Sie schlendern in den sonnigen Morgen und sehen dabei so gedankenlos aus, dass ich sie beneide, beide.
Vor acht Wochen hat meine Hündin noch vor diesem Bäckerladen auf mich gewartet. Aber niemals hätte sie sich in diese schmutzige Ecke beim Fahrradständer gesetzt, lieber in die Nähe der Tür, wo sie mich sieht und auch besser gesehen wird. Sie hätte sich ihren Platz selbst gewählt; sie konnte sich ihren Platz immer selbst wählen, ich habe sie nie angeleint. Von einem Fremden hätte sie sich nicht streicheln lassen, zumindest nicht ohne mir vorher durch ein Bellen Bescheid zugeben. Meiner Hündin hätte ich mich nicht nähern können, ohne dass ihr Schwänzchen wedelt, ohne dass sie von einem Vorderpfötchen aufs andere tanzt, ohne dass sie aufgeregt springt. Meine Hündin hatte die Farbe einer Semmel; helle Stellen, dunkle Stellen, die Beine bemehlt, die Augen zwei dunkle große stücken geschmolzene Schokolade. Meine Hündin ist vor 6 Wochen gestorben.
Ich habe meine Hündin sehr geliebt. Sie hat mir beigebracht, wie man ohne etwas glücklich ist; wie die Jahreszeiten stetig laufen und was das mit uns macht; wie man die Dinge ohne Diskussion sein lässt, wie sie sind und warum ein kurzes Nickerchen immer drin ist. Doch auch, wenn ich jetzt noch zwei Absätze darüber schwurbeln würde, wie toll alles war, müsste ich irgendwann zugeben, dass ich mir des Preises dieser Lektionen immer sehr bewusst war.
Wer seine Hündin sehr liebt, gewährt ihr die einzige Bedingung die sie für das freimütige Verschenken ihrer Seele erfüllt sehen will: Man lässt sie bei sich sein. Man steckt sie nicht in eine Tierpension sondern macht eben keine Flugreisen, solange sie da ist und bei einem sein will. Man geht nicht ins Konzert, sondern sieht Konzerte im Fernsehen, während sie einem die Füße mit ihrem Körper wärmt. Man geht nicht in Museen, sondern lässt sich Hörbücher vorlesen, während man mit ihr ohne Ziel durch die Wälder streift. Ich hab all das gern gemacht und gelassen, aber auch mit Elan mit meinem Mann gestritten, wenn es darum ging, wie unser Leben aussehen würde, wenn unsere Hündin einmal nicht mehr ist.
Morgen beginnt Woche sieben dieses einmals. Ich interessiere mich weder für Flugreisen noch für Konzerte oder Ausstellungen, aber mir bricht das Herz, die Hausschuhe meines Mannes an dem Ort stehen zu sehen, an dem bis neulich ihr Kissen lag. Es versetzt mir einen Stich, wenn der Impuls aufzustehen, zu ihr zu gehen und sie zu streicheln ins Leere läuft; fuffzich mal am Tag. Pünktlich zu ihren Fressenszeiten sehe ich auf die Uhr. Pünktlich zu ihren Gassizeiten sehe ich auf die Uhr. Bevor ich aufstehe sehe ich mich um, damit ich sie nicht versehentlich trete. Manchmal kann ich schlecht einschlafen, weil ich sie nicht atmen höre. Wenn ich morgens Brötchen hole, dauert das eine Dreiviertelstunde, weil ich in Wirklichkeit nicht zum Bäcker gehe, sondern nach wie vor unsere Morgenrunde laufe. Ihre. Meine.
Ich habe meine Hündin sehr geliebt, aber ich habe jedem, der nicht schnell genug das Thema gewechselt hat erklärt, dass ich keinen neuen Hund möchte, wenn sie einmal nicht mehr ist. Dann lieber die Freiheit genießen. Ausstellungen, Konzerte, Flugreisen. An so ein Tier ist man ja fünfzehn Jahre gebunden.
Als der Hund einer Freundin vor Jahren plötzlich verstarb und sie sich nach sechs, acht Wochen ein neues Tier zugelegt hat, musste ich mich ein bisschen anstrengen, sie nicht zu verurteilen. Ging es ihr in ihrer Liebe gar nicht um ihren Hund sondern nur um einen? War es ihr nicht um die Person ihres Tiers gegangen, sondern nur ums flauschige Fell auf der einen und die klare Tagesstruktur auf der anderen Seite? War es ihr wichtiger, nicht allein zu sein, als mit wem? Ich habe nichts von dem je ausgesprochen, möchte aber heute aufrichtig um Verzeihung dafür bitten, es jemals gedacht zu haben.
Ich habe so viel Liebe übrig. Ich laufe über. Meiner toten Hündin könnte es nicht egaler sein, wen ich nun damit überschütte, oder ob ich mir ein Magengeschwür davon wachsen lasse: Sie ist tot. Performative Einsamkeit von Hinterbliebenen hat noch niemanden wieder lebendig gemacht, wohl aber einigen Hinterbliebenen das Leben gekostet. Ich merke, ich muss einen Text darüber schreiben. Das Leben meiner verstorbenen Hündin wird jedenfalls nicht dadurch wertvoller oder bedeutsamer, dass ich monatelang Trauer trage. Außerdem hast Du doch gesehen, wie mich die Hündin beim Bäcker heute morgen begrüßt hat. Sowas passiert andauernd. Ich bin gut mit Hunden.
Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so viele fremde Hunde fremder Menschen gestreichelt, wie in den letzten sechs, acht Wochen. Und mein Mann hat noch nie so oft stumm den Kopf über mich geschüttelt. Warte noch, warte noch ein bisschen. Vielleicht kommt die Freiheit zurück, vielleicht genießt du sie. Wir hatten das so ausgemacht.
Meine innere Hündin wendet sich ab. In dieser gelangweilten, resignierten Verständnislosigkeit in der sich Hunde von Menschen abwenden, wenn Menschen Menschendinge tun. Wenn sie Bäckerschlangen warten. Wenn sie in Videos konferieren. Wenn sie am Bildschirm Texte lesen. Was macht es heute besser, sich morgen vorzustellen?
Zeit für ein Nickerchen ist immer.