Heute früh im Morgenmagazin haben sie Microsofts Hololens von Moderator zu Moderatorin gereicht und öffentlichkeitswirksam gestaunt. Zwar schon schwer das Ding, aber doch: derbe cool. Kurz vorher haben sie ein paar Einspieler gezeigt von dem Spaß, den sie am Wochenende im Studio mit der Brille hatten. Einer hat einen virtuellen Hund neben sich aufs Sofa gesetzt und dann putzig mit ihm gespielt. Die Kollegen von der Sportschau haben einen virtuellen Wal an die Studiodecke gehängt – lustig. Ein Experte erläuterte dann, wie VR-Brillen die Zukunft der Arbeit beeinflussen werden: Mitarbeiter die Maschinen warten sollen, kriegen die Anleitung dazu künftig direkt in ihr Sichtfeld eingeblendet, Chirurgen kann man Vitaldaten des Patienten einblenden und Taxifahrern Navigationshinweise, also zumindest so lange es noch Taxifahrer gibt.
Ich sehe diese Berichte, ich lese diese Berichte und denke: Blödsinn. Ich bestelle mir ein Google Cardboard, also eine VR-Brille aus Pappe in die man sein Smartphone klemmen kann, spiele ein bisschen damit rum und denke: Blödsinn. Ich stolpere über die IFA, sehe Menschen mit VR-Brillen auf der Nase und denke: Brett vorm Kopf (2016 Remix). Ich setze selbst eine Brille nach der anderen auf und – schnell wieder ab.
Ich glaube nicht daran, dass mein Leben besser wird, wenn ich nicht nur den halben Tag auf Bildschirme starre, sondern sie mir so dicht vor die Augen hänge, dass ich außer den Bildschirmen gar nichts anderes mehr sehe; ich bin kurzsichtig genug. Ich möchte mich nicht in virtuellen Welten versenken, ich lebe schon heute viel zu sehr in meiner Blase und ich finde nicht, dass das gut ist. Ich möchte nicht noch abhängiger von Maschinen werden oder noch süchtiger. Ich möchte keine noch realistischere Pornografie, keine Computerspiele, die mich noch stärker absorbieren und auch nicht mitten in Kinofilmen sitzen. Ich mag die Distanz zwischen mir und dem Medium. Sie führt mir vor Augen, dass das Medium nicht mein Leben ist, sondern umgekehrt mein Leben mein Medium. Ich möchte Gefühle von Lust, Abenteuer und Spannung bitte in der Wirklichkeit erleben und meinen zweifellos existenten Hunger nach einer aufregenderen Wirklichkeit nicht dadurch stillen, dass ich mich mit künstlichen Erfahrungen vollstopfe. Ich glaube, davon bekommt man Angst vorm echten Leben und ich glaube außerdem, dass viele schon zu viel Angst vor allem Möglichen haben.
Zum ersten Mal verfolge ich eine technische Entwicklung, an der ich explizit nicht teilnehmen möchte. Das ist ein Schnitt. Ich bin in eine Zeit geboren, in der Festnetzanschlüsse zu Hause unüblich waren und habe von da an alles brav mitgemacht. Walkman, Festnetztelefone, Mobiltelefone, Internet. Ich habe dank Messengern Freundschaften virtualisiert und mit Hilfe von anderer Leute Computern (ugs. Cloud) auch meine Fotoalben und Notizbücher. Immer überwogen die Vorteile für mich die Nachteile oder Gefahren, die ich durchaus sah und sehe.
Dann gab es in jüngster Zeit „Fortschritte“ deren Nutzen mir nicht einleuchtete. Smartwatches zum Beispiel, die alles anzeigen, was mein Smartphone auch anzeigt, nur in kleiner. Oder die Möglichkeit, Rollläden, Heizung und Lichtschalter meiner 65qm-Wohnung über das Internet zu automatisieren. Aber Virtual Reality, die sich nach ungelenken Versuchen in den 90ern nun zum zweiten Mal in meinem Leben als das next big thing ankündigt, finde ich nicht nur persönlich uninteressant, sondern regelrecht kacke. So wie es die Frau im Zug einmal kacke fand, dass ich die ganze Strecke zwischen Leipzig und Berlin fortwährend auf mein Smartphone starrte. Weil sie keine Ahnung hatte, was mit einem Smartphone alles möglich ist. Weil sie auch keine Lust hatte, es herauszufinden. Weil sie keinen Vorteil in weiterer Technisierung ihres Lebens sah. So wie ich jetzt. Ist das eine Frage des Alters?
Ich möchte nicht abgehängt werden. Ich habe immer mal wieder mit Menschen zu tun, die von der technischen Entwicklung abgehängt sind und sie tun mir leid. Als ich meiner 93jährigen Nachbarin neulich mal eben die Hits ihrer Jugend via Spotify auf meinem Smartphone vorspielte und ihr die Tränen in den Augen standen angesichts dieses Wunders, hatte ich dieses Gefühl von paternalisierendem Mitleid. Und ich habe gedacht, dass mir das nie passieren darf. Dieses Den-Anschluss-verlieren, dieses Ausgeschlossen-sein. Gerade im Umgang mit ihr erlebe ich oft genug, dass man sich eben nicht einfach so für oder gegen das Internet entscheiden kann. Der Kauf bestimmter, selten nachgefragter Dinge beispielsweise ist durch das Internet in der Offline-Welt viel schwieriger geworden, teilweise unmöglich. Sich nicht für das Lebens-Upgrade Internet zu entscheiden bedeutet inzwischen tatsächlich ein Lebens-Downgrade.
In Enchanted Objects von David Rose habe ich neulich gelesen, wie kleine, für genau eine Aufgabe designte smarte Objekte, wie die Dash-Buttons von Amazon besonders das Leben alter Menschen erheblich vereinfachen könnten – sofern sich diese Menschen dem Fortschritt nicht verschließen. Da stand weiter hinten dann auch, dass wir uns um in vollem Umfang vom technischen Fortschritt profitieren zu können, besser daran gewöhnen, Zeit unseres Lebens Newbies zu sein. Also immer mindestens eine Technologie in unserem Leben zu haben, die neu für uns ist, die wir erlernen müssen, an die wir uns gerade gewöhnen. Und die sich natürlich längst wieder weiterentwickelt hat, wenn wir endlich das Gefühl haben, sie zu beherrschen.
Ich befürchte, dieser Zustand fühlt sich umso anstrengender an, je älter man wird. Grundlegende Skepsis ist wahrscheinlich trotzdem unangebracht, weil sie die Möglichkeit zur Mitsprache und zur Mitgestaltung raubt. Ich persönlich glaube nicht daran, dass sich Virtual Reality durchsetzt, auch wenn alle nennenswerten Tech-Firmen mit Hochdruck daran arbeiten. Das liegt auch daran, dass ich nicht will, dass sich das durchsetzt. Wenn sich Virtual Reality aber durchsetzt, dann setzt es sich auch ohne mich durch. Und dann in ich doch besser dabei. Oder nicht?