Seit 1. Januar trenne ich mich jeden Tag von (mindestens) einem Gegenstand. (Hier & deshalb.) Dies ist mein zweiter Zwischenbericht (Das ist der erste).
Letzte Woche habe ich beim Zähneputzen von meinem Badfenster aus beobachtet, wie die Bäume im Innenhof zurückgeschnitten wurden. Ich fand es sehr brutal zu sehen, wie sich die motorgetriebenen Ketten durch die Rinde der Äste bis ins Mark vorfressen und auf der anderen Seite wieder heraus. Es machte mich traurig zu sehen, wie die Äste knarzend zu Boden stürzen und die Zweige auf dem Pflaster brachen. Die zum Vorschein kommenden kreisrunden Flächen hellen Holzes sehen immer noch wie Wunden aus. Ich weiß, dass Bäume hin und wieder zurückgeschnitten werden müssen, wenn man ein halbherziges Wuchern in alle möglichen Richtungen verhindern will. Ich weiß sogar, dass Anfang März reichlich spät für den Baumschnitt ist. Und trotzdem konnte ich das nicht richtig finden. Wer hat den bitte zu entscheiden, welcher Ast wohin wuchern darf? Doch bitte der Baum, oder?
Für die Bäume entscheidet das ein Baumpfleger, für mich entscheide ich. Ich musste an mein Projekt denken, während ich das Stutzen der Bäume verfolgte. Die Reduktion meines Besitzes kommt mir manchmal auch brutal vor. Zumindest aggressiv. 70 Dinge sind zwar immer noch nicht viel; niemand, der mich nach langer Zeit besucht, hätte den Eindruck, meine Wohnung sei leerer oder wenigstens aufgeräumter als früher. Oder um beim Baumgleichnis zu bleiben: Meiner Wohnung fehlen bisher höchstens ein paar verkrüppelte Zweige. Die aber habe ich mutwillig abgebrochen und zerhäckselt. Und das hat Spaß gemacht und gleichzeitig ein bisschen wehgetan, manchmal. Es hat die Art von Schmerz verursacht, die man hinnimmt, weil man überzeugt ist, dass das was vor einem liegt dadurch besser wird oder überhaupt erst stattfinden kann. Man nimmt den Baum seine Seitentriebe, damit er seine Energie gefälligst auf das Höhenwachstum konzentriert. Das ist vernünftig (mit allen Vor- und Nachteilen, die Vernünftigsein mit sich bringt).
Ich staune immer noch, dass Dinge so viel mehr als Dinge sind. Ich finde es ein bisschen albern, dass ich sentimental werde, wenn ich mich von Weihnachtskugeln trenne, die ich seit Jahren nicht aufgehängt habe, aber ich kann nicht leugnen, dass es so ist. Ich werde traurig, wenn ich einen Teelichthalter wegwerfe, den ich zu WG-Zeiten täglich benutzt habe, aber mir ist klar, dass ihn zu behalten mich auch nicht froh macht. Allmählich begreife ich, dass ich viele Dinge aufgehoben habe, um zu leugnen, dass bestimmte Lebensphasen unumkehrbar zu Ende gegangen sind. Andere Dinge besitze ich noch um zu beweisen, dass bestimmte Lebensphasen überhaupt stattgefunden haben und ja noch gar nicht so lange her sein können, wenn die Gegenstände, die sie ausmachten noch da sind.
Dabei sind es in Wirklichkeit gar nicht die Gegenstände, die diese Lebensphase ausmachen. Es sind immer Menschen oder Gefühle für Menschen oder anderweitige Gemütszustände. Gegenstände laden wir mit unseren Eindrücken aus einer bestimmten Zeit auf und sie geben diese Energie dann ganz allmählich an die Zukunft ab; wie eine Mauer, an der man sich nach einem heißen Sommertag bis Mitternacht noch wärmen kann.
Um bei diesem Gleichnis zu bleiben: Ich breche Steine aus der Mauer meiner Erinnerung und gebe sie weg. Und schon hinkt der Vergleich: Ich vergesse ja nichts, nur weil ich eine Sache weggebe, die dafür steht. Sowohl an die Sache als auch an ihre Bedeutung kann ich mich weiterhin erinnern. Wenn ich will. Denn das ist der Hauptunterschied zwischen behalten und weggeben: Weil mir die Anker nicht mehr täglich ins Auge fallen, muss ich seltener zurückdenken, und das gefällt mir.
Mit Löchern in der Mauer wird mein Land offener und heller. Ich kann weiter kucken und habe mehr Platz. Ob ich vor Herbststürmen nun schlechter geschützt bin, wird sich zeigen.
Gerade heute habe ich eine liebe “alte” Schulfreundin besucht, die gerade (mal wieder)umgezogen ist. Sich von Dingen zu verabschieden war auch Thema unseres Kaffeegesprächs. Dass sie sich gestern von Kassetten getrennt hätte – wie auch ich Wochen zuvor. Diese habe ich seit Jahren nicht mehr gehört und dennoch, jetzt da sie endgültig weg sind, denke ich öfters an selbige. Roxette, meine erste Kassette. Oder die “Aufmunterungsliedersammlung” meiner besten Freundinnen als ich eine Woche im Krankenhaus lag… Wie du schon sagtest – ich bin froh und wehmütig zugleich. Übrigens tolles Projekt + toller Text!
Eine komische Sache, diese Wehmut. Wenn man sie empfindet, hat man oft auch ein bisschen das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben. Ich glaube inzwischen, dass man etwas falsch macht, wenn man wehmütig ist. Was könnte sinnloser sein, als der Vergangenheit nachzutrauern? In der gleichen Zeit könnte man versuchen, seine Gegenwart zu gestalten.(Der man dann in Zukunft wieder hinterher trauern kann. Ein Teufelskreis.)