Vor genau einem Monat begann ich, jeden Tag einen Gegenstand wegzugeben. Hier ist die Anmoderation dazu, und hier der Beweis, dass ich das wirklich tue. Ich fand und finde, dass ich zu viel besitze. Und zwar nicht nur mehr als ich brauche, sondern auch mehr als mir gut tut. Ich fand und finde, dass Besitz nicht nur meine Räume verstopft, sondern auch meine Seele. Es ist komisch, das Wort Seele in diesen Blog zu schreiben.
Nüchtern betrachtet machen 30 Dinge mehr oder weniger keinen Unterschied. Ich habe etwas mehr Platz in meinem Küchenschrank. Die anderen Dinge hatten keinen festen Platz. In den Schubladen, in den sie herumkullerten hinterlassen sie daher keine sichtbare Lücke. Nach wie vor verzichte ich auf gar nichts und mein Leben hat sich nicht verändert. Wohl aber mein Blick auf und mein Gefühl zu den Dingen.
Bei allem was mir in die Hände fällt überlege ich: Brauchst du das? Willst du das noch? Gefällt dir das? Also: Hat dir das mal gefallen? Ernsthaft? In meinem Arbeitszimmer ist ein kleines Häufchen mit Dingen entstanden, die weg können. Wann immer ich etwas entdecke, dass ich leichten Herzens rausschmeißen kann, bin ich froh. Ich denke: Ein Tag geschafft. Wenn ich ein Set Espressotassen weggeben will, streite ich mit mir, ob das nicht eigentlich zwei Gegenstände sind: Rechte Tasse, linke Tasse. Ich habe das nirgends geschrieben, aber es ist mein Plan: Ich will das Weggeben wenigstens ein Jahr durchalten. 365 Tage, 365 Dinge. Mein Blick schweift durch meine Wohnung und findet das sehr viel.
Es gibt einen Teil in mir, den das Schrumpfen ängstigt. Mit dem hatte ich nicht gerechnet. Der Teil, der Platz will, der lüften will und den die Dinge nerven, den kenne ich gut. Er ist großfressig und drängt sich andauernd in den Vordergrund. Das ganze Spiel war seine Idee. Aber den anderen Teil, der an den Sachen hängt und dem es Sicherheit gibt, dass Dinge da sind, auch wenn ich sie nie benutze, weil sie einfach immer da waren, den hatte ich nicht auf der Rechnung. Ihm kommt es so vor, als würde ich Errungenschaften verschenken, Dinge die ich mir mühsam erarbeitet habe; die ich vielleicht eines Tages noch brauchen kann; die vielleicht eines Tages viel wert sind. Er jammert, weil ich mein Zuhause auflöse, meine Notfallausrüstung, mein Lager. Dabei hat er Unrecht.
Mal angenommen, ich verlöre mein Smartphone. Ich würde nicht mein altes nehmen. Ich würde mir ein neues kaufen, und zwar bald. Ich brauche keine 30 Tassen in einer Wohnung, in der maximal zwei Menschen leben. Wenn ich nur 10 hätte, hätte ich immer noch 8 Reserve. Dieser Teil von mir wird lernen, dass ein bisschen Zuviel immer noch mehr als genug ist und es wird ihm gut tun.
Was ich gerade von diesem Teil lerne, finde ich aber viel interessanter. Er führt mir vor Augen, dass Dinge nicht nur einen immateriellen Wert haben – das wusste ich schon – sondern auch immateriellen Raum einnehmen. Raum in mir. Platz, in meinem Gehirn und in meinem Herzen. Mir war überhaupt nicht klar, wie viele Dinge in meinem Besitz mir geschenkt wurden. Tassen, Schalen, Badeschwämme, Kehrschaufel & Besen. Und ich war mir in keinster Weise bewusst, wie viel das bedeutet. Dass Dinge, die mir jemand geschenkt hat – und seien sie noch so profan – immer mit dieser Person verbunden bleiben, wusste ich. Wie viele Menschen aber Dinge in meinem Leben hinterlassen haben, obwohl sie selbst längst daraus verschwunden sind, das sehe ich erst jetzt. Und wie viele Menschen verschwunden sind, schmerzt. Es sind zwar auch neue Menschen dazu gekommen, aber warum eigentlich? Die alten waren ja gute Menschen, ich mochte sie.
Wann immer ich den Badeschwamm benutze, denke ich an Anja. Ich habe zu Anja seit drei Jahren keinen Kontakt mehr; keine Katastrophe, eher ein langsames Voneinander-weg-Treiben. Neulich habe ich sie im Supermarkt getroffen und über ihren kleinen Sohn gestaunt, das war nett. Aber weil dieser Schwamm nicht kaputt geht, sondern robust und waschbar ist, und schön obendrein, sind wir immer noch verbunden – zumindest ich mit ihr.
Oder dieser Kaffeepott, den mir Mathias vor Jahren schenkte, weil er keine bessere Idee hatte. Er steht in meinem Schrank hinter der Glastür, macht ein unschuldiges Gesicht und tut so, als sei er nichts weiter, als ein Kaffeepott. Dabei ist er genau das nicht, denn ich habe seit Jahren keinen Kaffee daraus getrunken. Das Ding ist ein Denkmal. Eine Erinnerung. Wie ein Klebezettel, neongrün, auf dem steht: “Na? Heute schon an Mathias gedacht?” und drunter hat jemand einen Zwinkersmiley gemalt. Ich habe in meinem Leben viel zu oft an Mathias gedacht; inzwischen aber eingesehen, dass nichts vom Drandenken besser wird und manches leider auch nicht vom Darüberreden. Der Pott kann nichts dafür, aber er ist Mathias’ Verkörperung in meinem Küchenschrank. Und jeden Tag springt er mir durchs Auge in den Kopf ins Herz. Wenn ich Mathias aus meinem Alltag haben will, muss das Ding da weg.
Dabei ist der Pott schön. Er ist handbemalt und witzig. Wenn man ausgetrunken hat, kommt auf dem Boden eine kleine Kuh zum Vorschein, die als Kaffeeungeheuer das gesamte Frühstück über am Grunde des Potts gelebt hat. Eigentlich ist er zu schade zum Wegschmeißen. Andererseits: Ich möchte niemandem einen Gegenstand schenken, der Zeugnis einer so traurigen und frustrierenden Geschichte wie der zwischen Mathias und mir ist, jedenfalls niemandem, den ich mag.
Mir gruselt immer, wenn mir Freunde stolz Dinge vorführen, die sie auf Flohmärkten erstanden haben. Ich frage mich dann: Wie könnt ihr euch Gegenstände in eure Wohnung holen, deren Geschichte ihr nicht kennt? Natürlich ist das magisches Denken und vielleicht ist es sehr albern. Aber ich glaube daran, dass Dinge mit der Energie ihrer Besitzer aufgeladen sind und mit ihrer Geschichte. Ich glaube daran, das Besitzer ihre Dinge prägen, wie Hundehalter ihre Hunde. Ich bin nicht verrückt, andere Glauben das auch. Erst gestern stieß mich eine Nachbarin mit einer fetten Teppichrolle fast die Treppe runter. Zwischen ihren neuen, weißen Schlafzimmermöbeln sähe der alte beige Berberteppich aus, als hätte jemand draufgepinkelt, aber weil es ein Erbstück von Urgroßmuttern ist wirft sie es nicht weg, sondern versucht eine Reinigung bei einem Spezialisten. Als würde ihre Urgroßmutter in diesem Perserteppich weiterleben! Auch ohne diesen Perserteppich wäre meine Nachbarin frei, an ihre Urgroßmutter zu denken, wann immer sie will; zack, da wäre sie. Oder?
Vielleicht hätte man Mathias‘ Kaffeepott auch reinigen können, rituell irgendwie, Also nicht vom Dreck wie den Berber, sondern von seiner Geschichte. Ausräuchern mit Salbei, was weiß ich. Anschließend wäre es wieder nichts anderes als ein schöner Kaffeepott gewesen. Ich habe es jetzt aber lieber erstmal mit wegwerfen versucht, und ein bisschen funktioniert es: Ich denke seltener an ihn.
Bestimmt funktioniert das auch anders herum. Eine liebe Freundin hat sich neulich zum Einzug von mir allen Ernstes einen Schrubber gewünscht. Ich habe diesen Wunsch wegen zu wenig Poesie und zu viel Pragmatismus entrüstet von mir gewiesen. Ich hatte keine Ahnung, was für ein geniales Geschenk ein Schrubber ist. Wie lange habt ihr euren Schrubber? Wenn ich ihr einen Schrubber schenke, wird sie noch in zehn Jahren an mich denken. Nicht so oft, dass ich ihr auf die Nerven gehe, aber oft genug, dass sie mich nie ganz vergessen kann. Außer sie liest mit oder kommt selbst dahinter. (Müssen manche Leute 33 für werden.)
Sehr lesenswert. Wer kennt das nicht?
Ich finde Du hast einen echt tollen Schreibstil!
🙂
Die Tassen mit Tieren auf dem Grund sind schwierig zu reinigen. Ich habe u.a. mal ein “Froschexemplar” an die Zeitungsredaktion meines Mannes verschenkt. Süß aber total unpraktisch. Also die Tasse, meine ich.
Ich glaube Büroküchenschränke sind so eine Art Tierheim für ausgesetzte Trinkkeramik.