Der Gnom in der Abendsonne – eine Medienfolklore.

Gestern wurde mir ein Kalender geschenkt. Aus Papier. Ein halbes Kilo schwer. Groß wie ein Buch. Ein Werbegeschenk eines Geschäftspartners. Mir war das peinlich. Ich finde es immer peinlich, Werbegeschenke überreicht zu bekommen. Besonders, wenn sie mir – nun ja – gefallen.

Ein nicht zu großes aber nicht zu dünnes Buch, für jeden Tag ein Blatt. Die Deckel weich gepolstert, kaschiert mit einem Papier, das wie gebürstetes Aluminium schimmert. Aber ich mag Werbegeschenke nicht. Ich halte Werbegeschenke für Ressourcenverschwendung. Von Kugelschreibern abgesehen sind sie überaus sinnlos: Mit Sand gefüllte Gummisäckchen zum Kneten für den kleinen Frust zwischendurch, gezuckerter Schweineknorpel in Firmenfarben (im Volksmund Gummibärchen genannt) und – als unangefochtenes Oberhaupt der Sinnlosigkeit – Schlüsselbänder. Niemand benutzt Schlüsselbänder.

Und wer benutzt Papierkalender? Ich habe Ende 2006 damit aufgehört. Seitdem verwalte ich meine Termine mit meinem E-Mail-Programm und meinem Handy. Ich weiß das deshalb so genau, weil dieser 2006er Kalender immer noch in meinem Regal steht. Wenn die Abendsonne günstig fällt, schafft es die in sattem gold geprägte Jahreszahl auf dem Buchrücken manchmal, meine Aufmerksamkeit zu erregen. Das glitzert schön. Und altmodisch. Also im Sinne von: Unpraktisch.

Wie großartig ist es, seinen Kalender immer dabei zu haben? Seine Termine mit anderen teilen zu können und so zähe Wer-kann-wann-Verhandlungen überflüssig zu machen? Welcher Kalender kann toller sein, als einer, den man nie verlieren kann? Was bitte soll ich mit einem Papierkalender?

Ich bedankte mich brav und warf das Buch nach dem Termin achtlos auf meinen Schreibtisch, wo es – wegen schöner Haptik aber überholter Funktionalität gleichermaßen bewundert wie bemitleidet – allmählich unter den Papieren des Tages verschwand.

Fast. Heute morgen, als die Sonne noch flach durch die Fenster in den Raum fiel, blendete mich ein Fetzen des silbernen Kartonpapiers. Ich habe den Kalender nur in die Hand genommen, um ihn beiseite zu legen. Aber als die Telefonkonferenz, an der ich gerade teilnahm lang und langweilig wurde, blätterte ich ein bisschen darin herum. Schließlich nahm ich mir einen Kuli und fing an, in dem Kalender herumzukritzeln. Ich kann nur eine Figur zeichnen. Einen glubschäugigen, hageren Gnom mit sechs Fingern und Ballonfüßen, ein fröhlicher Gesell trotz allem. Ich freute mich über das Wiedersehen. Er hatte mir gefehlt. Er winkte.

Als ich vorhin nach Hause kam, griff ich meinen 2006er Papierkalender aus dem Regal. Jetzt ist es 10 vor 11. Ich bin glücklich. 2006 war ein gutes Jahr, das kann ich nachlesen. Ich habe Gedichte geschrieben, wie ich sehe. Und ich habe versucht, dem Gnom eine Freundin zu entwerfen, eine Raupe würde ich sagen. Ich fand eine handschriftliche Liste meiner damaligen Lieblingsmusik, die ich einem Freund brennen wollte. Ich fand Notizen für Texte, die ich bis heute nicht geschrieben habe (aber immer noch schreiben sollte). Ich fand Termine für Vorstellungsgespräche und freute mich darüber, dass sie alle schief gegangen sind, bis auf dieses eine. Mir fielen Reisen wieder ein und Partys, ich rekapitulierte Konflikte und Versöhnungen. Ich habe mich erinnert. Weil ich ein Zeugnis hatte.

Was aber passierte 2007? Und was in den Jahren danach? Ich könnte zurückblättern in meinem Onlinekalender. Aber darauf komme ich gar nicht, weil er nicht schimmert in der Abendsonne. Ich könnte ihn nach Stichworten durchsuchen. Aber weder der glubschäugige Gnom noch die unfertige Raupe haben Namen.

Was ist 2013 passiert?
2013 wurde die größte Überwachungsmaschine der Menschheit enthüllt, die größte Überwachungsmaschine, die man sich denken kann, die allergrößte.

Und – Oh, richtig! – mir wurde ein Papierkalender geschenkt.
Merci.