Genau 20 Jahre nach der entscheidenden, größten Montagsdemonstration, die dem DDR-Regime lehrte, dass es nicht länger gegen sein Volk regieren könne, gingen die Leipziger wieder auf die Straße. 100.000 von Ihnen. Nur weiß man diesmal leider nicht genau warum.
Unbestritten ist der Mut, den die Leipziger vor 20 Jahren aufbrachten bewundernswert. Denn entgegen der historischen Verklärung, die sich wie über alle bedeutsamen geschichtlichen Ereignisse freilich auch über dieses legt, war Demonstrieren gefährlich. Keiner der Demonstranten wusste nämlich, was wir heute wissen: Dass die enorme Zahl der Demonstranten ein Eingreifen der in Stellung gebrachten Hundertschaften, der in Seitenstraßen wartenden Panzer und der mit Stahlmessern bestückten Schneepflüge zu einer Kriegserklärung gegen das eigene Volk erhoben hätte. Dass keiner der Demonstranten einen Stein werfen würde, der leicht eine unbeherrschbare Lawine hätte auslösen können sondern das Gebot der Friedlichkeit der bedrohlichen Stimmung tatsächlich standhält. Und auch, dass die Forderungen der Demonstranten nicht etwa niedergeschlagen sondern bereits in wenigen Wochen überfüllt sein würden.
Schließlich hatte der sozialistische Bruder China nur einige Monate vorher ständig wachsende Demonstrationen von Studenten für Demokratie auf Platz des himmlischen Friedens in Bejing blutig und rigoros niedergeschlagen. Die damalige Regierung der DDR hatte sich öffentlich hinter diese brachiale Präsentation staatlicher Macht gestellt.
Die Leipziger konnten nicht wissen, dass sie gerade den Begriff “friedliche Revolution” prägten und dass man in 20 Jahren ernsthaft darüber nachdenken würde, ihrer Stadt den Untertitel Heldenstadt zu verpassen.
Aus dieser perspektive sind die Feierlichkeiten zur Erinnerung an die Revolution wichtig und gut. Auch weil sie uns daran erinnern können, dass unsere alltägliche Freiheit alles andere als selbstverständlich ist. Tatsächlich ist es inmitten Demonstration am Freitag gelungen, ein Gefühl dafür zu bekommen, welche Macht Menschen ausstrahlen können, wenn Sie sich zusammenschließen und welches Potential frei wird, wenn sie sich erheben. Das schlichte Mitlaufen in diesem Strom am Freitag reichte schon für tiefe Ergriffenheit und Gänsehaut.
Je weiter das Lichtfest jedoch in die Vergangenheit rückt, desto deutlicher legt sich ein dichter Schleier des Zweifels über diese Kraft: Wofür demonstrieren wir eigentlich? Was machen wir eigentlich mit der gewonnen Freiheit? Sind wir jetzt glücklicher? Geht es uns besser?
Die künstlerischen Arbeiten, die die Strecke des schon historisch gewordenen Demonstrationszuges am Freitag säumten, erregten viel Aufmerksamkeit. Erschließen konnte man sich nur die wenigsten von Ihnen ohne vorherige Lektüre. Ein dröhnende Basswellen verströmender, blau angeleuchteter Hauptbahnhof sagt nicht viel, außer, dass er viel sagen könnte. Ein Werbedisplay mit hektisch wechselnden Zahlenkolonnen wirft Fragen auf, beantwortet aber keine. Und farbige Lichsäulen die sich Hochhausfassaden hinunterstürzen sehen toll aus – schweigen aber.
Natürlich gab es auch zahlreiche Arbeiten, die sich sehr direkt mit den Protesten 1989 auseinandersetzten, die teils originale Bild- und Tonquellen verwendeten oder die Zeitzeugen zu Wort kommen ließen. Jene Arbeiten, die das aber eben nicht taten, die also nicht ausschließlich erinnern wollten, offenbarten vor allem eines: Niemand weiß genau wofür wir eigentlich heute kämpfen. Oder ob.
Die LVZ hatte an mehreren Stellen Videowände aufgestellt, auf die Demonstranten mit ihren Mobiltelefonen Nachrichten schicken konnten. Eine andere Videoarbeit gab einfach nur ein Livebild der gerade stattfindenden Demonstration wieder. Überall schossen Digitalkameras blitzend Bilder. Überall filmten winzige Handykameras das Geschehen. Die Demonstration dokumentierte sich selbst. Warum? Die Demonstranten versicherten sich gegenseitig ihrer Ergriffenheit. Wovon? Und feierten Ihre Freiheit. Ihre Freiheit wozu?
Gelegentlich lief man durch eine Wolke Glühweindampf oder Bratwurstrauch. Und spätestens dann war es mit Händen zu greifen: Wir sind satt und träge geworden. Und an diesem Abend waren wir besoffen von der eigenen Courage. Noch immer mögen wir den starken Auftritt und das große Gefühl. Im Kino zum Beispiel. Aber weil demonstrieren heute nicht mehr gefährlich ist haben wir uns Kletterhallen gebaut. Wenn wir uns nach Dingen sehnen kaufen wir sie uns einfach. Und wenn wir frei sein wollen fahren wir in den Urlaub.