Klicken für den Atomausstieg

Bestimmt sind wir uns einig: es war noch nie so einfach wie heute sich politisch zu engagieren. Während man sich früher auf Demos die Beine in den Bauch stehen musste oder an Gleise gekettet eine fiese Blasenentzündung riskierte – und womöglich eine Vorstrafe – genügen heute ein paar Klicks und die Preisgabe einiger persönlicher Daten, um sein Gewissen zu beruhigen und mit dem guten Gefühl ins Bett gehen zu können, Anteil am Design in dieser Gesellschaft genommen zu haben. So ist es mittlerweile fast zu einem Trend geworden, in der Mittagspause um Online-Petitionen zu unterzeichnen oder offene Briefe. Mein letzter war der, mit dem eifrigen Damen und Herren von campact Merkel, Westerwelle und Seehofer dazu ermahnen, unbedingt am vor 10 Jahren von Rot-Grün beschlossenen Atomausstieg festzuhalten.

Zweifellos ist der Atom-Ausstieg das respektabelste Ergebnis der Rot-Grünen-Koalition und ebenso unbestritten hat er entscheidende Weichen für eine Energiepolitik gestellt, die Deutschland zur weltweiten Nummer 1 der Photovoltaik und Windenergiebranche hat reifen lassen. Ein Vorsprung in Know-How und Technologie auf dem unser Land in den nächsten Jahrzehnten surfen könnte. Sofern uns jetzt nicht die Luft ausgeht.

Danach sieht es aber leider aus. Bereits am 29. September – also keine zwei Tage nach der Wahl – forderten alle vier AKW-Betreiber Deutschlands in gespenstischer Geschlossenheit und unmissverständlicher Deutlichkeit den Ausstieg aus dem Ausstieg:

„RWE vertraut darauf, dass die Union und die FDP ihre Wahlversprechen einhalten und die Weichen für Laufzeitverlängerungen von Kernkraftwerken stellen.“

Sollten sie damit auch nur teilweise durchkommen, ginge dem Energiesektorder Innovationsdruck verloren, der das Effizienzproblem der Solarenergie und den Speichernotstand der Windkraft momentan in atemberaubender Geschwindigkeit vor sich hertreibt. Schlagartig nämlich wäre auch in Zukunft preiswerter und stabiler Atomstrom in Hülle und Fülle verfügbar, so dass man sich gut und gerne ein paar Jahre Ruhe vom nervigen Energieeffizienz-Geschrei gönnen könnte. Und bei gewohnter Bequemlichkeit wohl auch würde.

Vorausgesetzt man besitzt die tollkühne Ignoranz zu verdrängen, dass ins sogenannte “Forschungsbergwerk Asse II”  an jedem einzelnen Tag rund 12.000 Liter Grundwasser sickern um sich irgendwo zwischen den einhundertsechsundzwanzigtausend Fässern schwach- bis mittelradioaktiven Mülls oder vielleicht auch rings um die 28 Kilo dort lagernden Plutoniums zu einer radioaktiven Lauge anzureichern. Es ist keine Lösung sondern lediglich Ausdruck völliger Ratlosigkeit, dass man diese Lauge kurzerhand von einem Schacht in den anderen pumpt. Das hat zwar den Vorteil, dass der Schacht in dem die Fässer lagern begehbar bleibt, ändert aber nichts daran, dass kein Mensch such nur den Ansatz einer Idee hat, wie man diesen unterirdischen See unschädlich oder wenigstens ungefährlich machen könnte.

Atomlobbyisten sind mächtiger als uns allen lieb sein kann, und tun ihr Bestes um uns davon zu überzeugen, dass die Menge des bei der Stromerzeugung anfallenden radioaktiven Abfalls gemessen am Wirkungsgrad geradezu lächerlich gering sei, und die Suche nach einem geeigneten sicheren Endlager kurz vor dem Abschluss stünde. Besondere Hoffnungen werden hierbei offenbar in das derzeitige Forschungslabor im französischen Bure gelegt. Die tonhaltigen Gesteinsschichten hier könnten den Atommüll für ungefähr 1.000.000 Jahre sicher einschließen, was ja gar nicht nötig sei, weil die Radioaktivität des Mülls schon nach 100.000 Jahren abgeklungen wäre. Das lässt einen erst einmal durchatmen. Wer den Meditationskurs aber geschwänzt hat, und wessen Gehirn frech und fröhlich zum nächsten Gedanken weiter springt, dem stockt der Atem schon nach einigen Sekunden wieder. Selbst wenn das ständige Fließen der irdischen Geologie das lothringische Fleckchen Erde vom Merlot besoffen vergessen sollte, bleibt das Risiko Mensch. Denn auch mit an Verblendung grenzendem Wohlwollen ist das, was wir als Zivilisation bezeichnen alles in allem höchstens 100 000 Jahre alt. Und müsste also mindestens noch einmal genauso lange halten, damit wir vor unserem Verschwinden auch fertig mit unserem Müll wären.

Atomlobbyisten lassen weiterhin nichts unversucht all jene als hysterische Esoteriker da stehen zu lassen, die vor einem schweren Störfall, im sogenannten Super-GAU warnen. Der passiere nämlich nur drei Mal in 100 000 Reaktorjahren und sei damit außerordentlich unwahrscheinlich. Wer den Meditationskurs geschwänzt hat um an der Stochastik-AG teilzunehmen weiß aber, dass immer diese Wahrscheinlichkeit (worauf immer ihre Berechnung auch fußen mag) kein Grund zur Beruhigung ist. Denn drei Störfälle in 100 000 Jahren sind genauso wahrscheinlich wie einer morgen, einer übermorgen und ein am Tag darauf.

Es mag uns in unserer selbstverliebten Technikgläubigkeit nicht gefallen, muss bis auf weiteres aber hingenommen werden: wir beherrschen die Atomenergie eben nicht. Ihre Risiken können wir vielleicht kalkulieren, aber wir können sie nicht zügeln. Und weil wir ihre Folgen – sogar die, die ganz ohne Katastrophe eintreten – nicht verantworten können, müssen wir die Finger von ihr lassen.

Diese sind auf Maus und Tastatur ohnehin viel besser aufgehoben – um den Erinnerungsbrief an die neue Regierung zu unterzeichnen.