Hingabe

Ich bin vor dem Wecker wach.
Mein Gefühl sagt, ich bin wach geblieben, seit dem ich den Wecker gestellt habe vor ungefähr vier Stunden.
Mein Gefühl lügt. Ein bisschen muss ich geschlafen haben.
Das ist vor jeder Prüfung so: Ein Idiot mischt mir ein Dutzend Koffeintabletten in die Gute-Nacht-Milch und flüstert von Katastrophen bis zum Morgengrauen.

Letzteres verpasse ich heute.
Es ist 3 Uhr 45. Außer mir graut es niemandem.
Ich beginne meine Morgenroutine und ärgere mich, dass ich keine Gedanken dafür brauche. So bleiben alle Gedanken in diesem Knäuel aus vager Furcht.
Manu rettet mich mit einem Anruf. Sie will sicher gehen, dass ich nicht verschlafen habe. Ihr Klingeln hat meine Vernunft geweckt. Das ist keine Prüfung, das ist ein Geschenk, sagt sie müde. Ich halte mich an ihr fest.

Manu klingelt wieder. Jetzt an der Tür.
Die Hektik siegt, ich pinkle im Stehen. Bevor ich den Reißverschluss meines Koffers schließe und dann von außen meine Wohnungstür.
Manu verbündet sich mit meiner Vernunft und rettet mich: sie redet.
Darüber, dass sie auch nicht geschlafen sondern stattdessen lieber aufgeräumt habe, weil man in Räumen mit einem derartig schlechten Feng Shui wie ihrem Schlafzimmer ohnehin nicht mehr hätte schlafen können. Sie habe viele Reliquien aus ihrer Vergangenheit gefunden, die sie an Momente erinnert haben, an die sie sich sonst wohl nie mehr erinnert hätte.
Sie fragt nach meiner Flugangst. Ich habe keine. Manu spricht darüber, wie viel einfacher das Leben wird, wenn es gelingt sich diesem ganz und gar hinzugeben.
Ich küsse sie und danke ihr und steige aus. Ich bin viel zu früh am Flughafen. Und beinahe allein.
Die Sonne färbt Metall und Glas pink und bringt mich dazu, über Hingabe nachzudenken.
Ich bin ein kleiner Junge. Und die Frau am Check-In merkt das. Sie bucht einen Fensterplatz für mich und erinnert mich daran, mein Taschenmesser ins Frachtgepäck zu geben, weil man es mir sonst wegnehmen wird. Mit ihrem Kugelschreiber macht sie einen roten Kringel um die Stelle auf meinem Ticket, an der das Gate steht, auf das ich muss.

Mit 16 bin ich mal in die Türkei geflogen.
Ich kann mich noch an die gelbe Gürteltasche erinnern, die mir ein Steward damals schenkte.
Ich habe sie noch irgendwo.
Eine Reliquie meiner Vergangenheit. Sonst weiß ich nichts mehr von dem Flug.
Jetzt bin ich 24 und seither – von einem Rundflug in einer Cessna über Eilenburg mal abgesehen – nie mehr irgendwo hin geflogen.

Ich befolge die Anweisungen des Sicherheitspersonals, was mir nichts ausmacht, weil ich ein kleiner Junge bin. Ich freue mich darüber, wie toll mein geröntgter Koffer auf dem Monitor aussieht und welche Geräusche meine Gürtelschnalle verursacht wenn ihr diese Elektrolupe zu nahe kommt.

Alle Leute im Wartebereich geben sich betont gelangweilt. Das bleibt auch im Flugzeug so. Alle Leute lesen im Flugzeug oder Schlafen oder hören Musik.
Ich bin der Einzige in meinem Umfeld, der schon beim Ausparken mit seiner Nasenspitze Fettflecken an der Fensterscheibe hinterlässt.

Als das Flugzeug zum Start ansetzt begreife ich, warum man manchmal auch Maschine dazu sagt.
Die Vibration der Triebwerke und Reifen macht mir Gänsehaut.
Plötzlich kippt der Horizont.
Das Holpern der Reifen hört auf.
Wir fliegen.

Ich verstehe nicht, wie der Sportteil der Leipziger Volkszeitung für meinen Nachbarn interessanter sein kann, als das Wunder, dass sich gerade abspielt.
Ich empfinde große Verehrung für die Ingenieure und Arbeiter, die dieses Flugzeug gebaut haben.
Ich empfinde tiefe Dankbarkeit für die Macht, die mich hier her gebracht hat. Von hier oben erkenne ich das ungeheure Glück das mir widerfährt.
Nicht nur jetzt.
Nicht nur heute.
Wir durchbrechen die Wolkenschicht.
Die Sonne blendet mich.
Die scheint immer hier oben.
Ich weine.

Als mir die Stewardess Kaffee serviert, habe ich mich wieder gefangen. Wir sind irgendwo über Frankfurt und schneller als meine Furcht.
Zum ersten Mal kann ich mich freuen, auf das was vor mir liegt.
Zum ersten Mal fühle ich mich groß und schwer genug, um von möglicher Kritik nicht zertrampelt und von faulen Kompromissen nicht davon geweht zu werden.
Das ist meine erste große Ausstellung. Ich habe mein Flugticket nicht bezahlt, ich werde mein Hotel nicht bezahlen und jemand wird meine Bilder für mich aufhängen.
Jemand oder etwas empfindet die Art von Liebe für mich, die eine Mutter für ihr Kind empfindet.
Ich bin sicher.
Das begreife ich jetzt.

MEIN Leben?

Ich weiß nicht, ob dieses hier mein Leben ist.
Vielleicht bin ich wer anders.
Bestimmt zu etwas anderem als diesem hier.
Fehlgeleitet. Abgedriftet. Widrig.
Ich bin in all das hier nur so reingeschlittert.
Habe mich verlaufen, quasi.
Bin verirrt.
Falsch abgebogen.
Falsch.

Habe getrieft.
Den entscheidenden Moment verschlafen.
Zu lange gewartet.
Zu lange gehofft.
Zu lange untätig.

Kein heller Stern mehr,
keine Gunst der Stunde,
nicht zur rechten Zeit am rechten Ort
sondern zur falschen Zeit nirgendwo.
Kein glücklicher Zufall,
keine guten Beziehungen,
nicht von irgend wem in jungen Jahren entdeckt zu irgend etwas.

Hab mir die Zeit mit Büchern vertrieben.
Mit hoffen und träumen und denken und reden.

Und in der Tat:
Mit den Jahren sickert
Tropfen für Tropfen
wie Regenwasser durch Samttapeten
die Erkenntnis in mein Jetzt,
dass ich ebenso

normal

bin, wie die, denen ich es zeigen wollte.

Nicht ohne Talent zwar, aber kein Genie.
Nicht ohne Liebe, aber kein Heiliger.
Nicht ohne Mut und doch kein Krieger.

Fein gemacht.
Was erkannt.
Was gelernt.
Was begriffen.

Und nun?
Bürojob, 8 Stunden, 1.200 Euro?
Sozialarbeiter, 12 Stunden, 800 Euro?
Künstler, 24 Stunden, 0 Euro?
Religiös werden?
Depressiv werden?
Oder Verrückt?

Nein, nein.
Wie gesagt: Ich habe mir die Zeit mit Büchern vertrieben.
Und jedes, jedes einzelne antwortet:

Akzeptieren.
Annehmen.
Sich fügen.
Erkennen, dass genau dieses hier:
jetzt:
dieser Augenblick unter dem Licht meines hellen Sternes stattfindet.

Begreifen, das genau in diesem Moment:
jetzt:
in diesem Atemzug
die Gunst der Stunde liegt,
und dass es jetzt exakt die richtige Zeit
und hier genau der richtige Ort für mich ist.

Gott macht keine Fehler.
Ach,
doch religiös geworden unterwegs?
Na bitte.