In diesen Zeiten ist es heikel, Begriffe wie “Heimat” oder “Nationalfeiertag” ohne kritische Distanzierung zu gebrauchen. Dafür gibt es gute Gründe. Politische Kräfte, die das Wort “völkisch” wieder positiv besetzen wollen zum Beispiel. Solche die wollen, dass “Deutschland den Deutschen” wieder ohne Scham gesagt werden darf. Oder die mit der Erinnerung an den Holocaust abschließen wollen.
Ich traue mich daher kaum, über das Gefühl zu schreiben, dass mich heute den ganzen Tag beherrscht hat: Dankbarkeit. Ich bin sehr froh über diese deutsche Einheit, auch nach 27 Jahren noch. Für mich ist der 3. Oktober einer der wenigen Feiertage, die mir tatsächlich etwas bedeuten. Mehr als: Heute muss ich nicht ins Büro.
Ich lebe in West-Berlin, einem Stadteil, den ich in meiner Kindheit zwar aus “Liebling Kreuzberg” kannte und der mir wie ein freies, sicheres, luxuriöses Paradies vorkam, der aber so weit von mir entfernt war, wie der Mond. Ich arbeite in München, einer Stadt, die mir aus der “Lindenstraße” vertraut war und die auf mich gemütlich, familär und lebenswert wirkte, die zu betreten ich mir jedoch niemals zu träumen gewagt hätte. Meine Träume reichten nur bis in die Hohe Tatra. Oder bis zum Balaton. Die kühnsten vielleicht bis nach Moskau. Dass mir West-Berlin und München heute so vertraut sein können; dass ich Stockholm, Paris, und den Lago maggiore gesehen habe; dass ich New York und Mumbai und Tokio sehen könnte wann immer ich will, habe ich der deutschen Einheit zu verdanken.
Ich habe Kunst studiert. Sieben Jahre. Ohne jede Frage danach, wie ich davon eines Tages leben will und ob das, was ich da lerne, jemals von irgendeinem produktiven Nutzen für diese Gesellschaft sein würde. Ich habe mich ausprobiert, ich habe experimentiert, Grenzen gesucht, Grenzen überschritten. Ich durfte mich finden. Ja, ich musste bisschen jobben dafür und das Geld war knapp. Aber es ging. Es war möglich. Im vereinten Deutschland. In der DDR: undenkbar.
Ich lebe offen schwul. Es gibt keinen Bereich meines Lebens, in dem ich mich dafür verstecken muss. Ich muss mich nichtmal erklären. Weder im Job noch beim Arzt oder im Bürgeramt. Wenn ich wie vorhin Unter den Linden zum Brandenburger Tor flaniere, kann ich die Hand meines Mannes in meiner wärmen, ohne vorher verstohlen prüfen zu müssen, ob die Luft rein ist. Denn die Luft ist rein. Niemand echauffiert sich. Niemand glotzt. Kaum jemand stutzt überhaupt. Das ist nicht überall so, ich weiß. Aber vielerorts auf diesem Planeten ist es ganz, ganz anders.
Ich bin Leipziger und habe 36 Jahre in dieser Stadt gelebt. Als ich sie vor zwei Wochen als Besucher durchstreift habe, musste ich an meiner Mutter denken. Die starb im Jahr 2000 und als ich mir vorstellte, wie es wäre, mit ihr gemeinsam durch Leipzig zu laufen ertappte ich mich dabei, wie ich ungläubig den Kopf schüttelte. Meine Mutter würde ihre Stadt nicht wieder erkennen. Leipzig hat eine U-Bahn inzwischen! Ein riesiges Bildermuseum mit einer hervorragenden Sammlung! Eine Baumwollspinnerei voller Kunst! Einen Fluß, die Pleiße, der wieder freigelegt ist! Einen Stadthafen! Einen See vor den Toren der Stadt, der mit dem Schiff zu erreichen ist! Es stimmt, es gibt viel zu viele Hotels. Und übertrieben viele Shopping-Center. Und alles wird teurer. Im Gegenzug dafür ist aber das schmutzige, kaputte, graubraune Leipzig verschwunden, in dem ich aufgewachsen bin – glücklicherweise.
Ich habe Asthma. Ich erinnere mich noch gut, wie lange ein Asthma-Anfall in meiner Kindheit gedauert hat. Mehr als einmal habe ich halluziniert, weil der Mangel an Sauerstoff und der Überschuss an Adrenalin zu lange dauerte. Ich erinnere mich an meine Verzweiflung, wenn ich einen weiteren Anfall kommen spürte und ich erinnere mich an die Hilflosigkeit meiner Mutter. Nach der Wende verschrieb mir die Ärztin ein Spray: Zweimal tief einatmen, zweimal kurz Luft anhalten und das war’s mit dem Asthma. Ich habe seitdem nie wieder befürchtet zu ersticken. Sicher wäre auch die medizinische Versorgung der DDR heute weiter als damals. Aber dieser Quantensprung von einem Tag auf den anderen nahm eine solche Bedrohung von mir, dass ich an jedem 3. Oktober daran zurückdenke.
Ich schreibe das alles in meinen privaten Blog. Ich habe einen Computer. Es gibt Internet. Es gibt das Handy, auf dem Du meinen Beitrag jetzt liest. Und: Ich darf veröffentlichen. Direkt von meinem Sofa in die Welt. Niemand liest Korrektur (manchmal wäre das besser, ich weiß). Niemand selektiert. Niemand zensiert. Ich darf denken, ich darf kritisch sein. Oder albern.
Natürlich sehe ich, dass nicht jeder gewonnen hat, wie ich. Ich sehe alte Menschen Flaschen sammeln. Ich gebe Bettlern Geld, die in Fußgängerzonen sitzen. Ich lese, dass die rechte AFD in Sachsen stärkste Kraft geworden ist und mir ist klar, dass es Gründe dafür gibt. Ich lese über die Arbeitslosigkeit in Gelsenkirchen. Über die abgerissenen Viertel in Eisenhüttenstadt. Die Überalterung in Chemnitz. Ich erlebe die Kommerzialisierung von jeglichem. Die Leistungsgesellschaft, den Kapitalismus. Aber ich erlebe auch und vor allem: meine Freiheit. Zu Reisen. Zu Sprechen. Mich auszuprobieren. Für oder gegen Dinge zu kämpfen. Ich erlebe, wie ich mich entwickle und entfalte. Weil ich kann und darf.
Ich bin dankbar dafür. Mir ist das viel wert.
Danke für Deine Gedanken zu diesem auch für mich besonderen Tag. Ohne ihn gäbe es auch für mich kein München und keine Weberbuam.. gut, dass alles anders kam 🙂
Diesem wunderbaren Artikel ist nichts hinzuzufügen. Wer sich über den 3. Oktober nicht sicher ist, der darf sich gern bei nostalgischen DDR-Filmen informieren, in denen trotz größter Mühe der Zensurbehörden, Tristes und Verfall in der untergehenden DDR unaufhaltsam sichtbar wurde. Der 3. Oktober ist ein Glücksfall für Deutschland, auch wenn viele Landschaften noch nicht so blühen wie wir uns es wünschen.