In sieben Tagen ist Bundestagswahl. Zum ersten Mal zähle ich zu diesem Tag nicht mit Spannung runter, sondern mit Angst, Traurigkeit und Resignation. In sieben Tagen wählen die Deutschen Nazis in ihr Parlament. Ich bin ratlos.
Die Deutschen wählen die Nazis nicht aus Versehen. Nicht aus Ahnungslosigkeit. Nicht, weil sie hinters Licht geführt wurden. Sondern weil sie das wollen, allen Ernstes. Spitzenkandidatin Weidel bestreitet nicht mehr, eine E-Mail verfasst zu haben in der sie die Regierung als „Marionetten der Siegermächte“ bezeichnet, deren Aufgabe es sei, das deutsche „Volk klein zu halten indem molekulare Bürgerkriege in den Ballungszentren durch Überfremdung induziert werden sollen.“ Spitzenkandidat Gauland findet, wir sollten endlich stolz sein auf die Leistungen der deutschen Soldaten in den beiden Weltkriegen. Höcke hält ein Holocaust-Mahnmal für ein Denkmal der Schande. Poggenburg bezeichnet linksextreme Lumpen als Wucherung am deutschen Volkskörper. Petry möchte den Begriff „völkisch“ wieder positiv besetzen. Niemand, der in diesem Land Medien konsumiert, kann diese Meldungen verpasst haben. Wer trotz dieser Meldungen AFD wählt, muss in diesen Punkten mit der Partei übereinstimmen. Oder nicht?
Die AFD leugnet den Klimawandel. Die stellvertretende Bundesvorsitzende Beatrix von Storch stellte dieser Tage in einem wirren Interview infrage, ob sich die Meere wirklich erwärmen würden, weil die Konzentration von Kohlendioxid in unserer Atmosphäre steigt, oder ob die Konzentration von Kohlendioxid nicht vielmehr deshalb steigt, weil die Meere weniger CO2 speichern würden, da sie sich irgendwie – nun ja – erwärmen. Die AFD will die Jobcenter abschaffen – und macht keinen Hehl daraus, keine Ahnung zu haben, wie genau es eigentlich ohne Jobcenter gehen soll. Alice Weidel lebt mit einer in Sri Lanka geborenen Frau und zwei Kindern zusammen, engagiert sich aber gegen Zuwanderung, die Ehe für alle und das Adoptionsrecht für homosexuelle Paare. Mir kommt das verrückt vor. Und zwar nicht im Sinne von krass, sondern im Sinne von psychologisch pathologisch auffällig. Für mich sind das keine Meinungen, für mich ist das wirres Zeug. Ich kapier‘s nicht.
Und niemand erklärt’s mir. Ich kenne niemanden, der AFD wählen will. Sehr offensichtlich lebe ich in einer Filterblase, die mich vor derlei Idioten schützt. Und dann denke ich: Können das wirklich alles Idioten sein?
Laut aktuellem ARD Deutschland-Trend wird die AFD nächsten Sonntag mit einem Stimmenanteil von 12% drittstärkste Kraft im Parlament. Wenn es eine große Koalition gibt, wird die AFD aus dem Stand zur Oppositionsführerin. Sie wird diejenige Partei sein, die Merkel direkt und zuerst auf Regierungserklärungen antwortet. Die „Volkspartei“ SPD wird nur 8% mehr Stimmen holen als die AFD. Grüne, Linke und FDP jeweils 2-3% weniger. Können sich 12% der Wähler dermaßen irren? Oder bin ich vielleicht der Idiot?
Ich kenne die Gründe der AFD-Wähler für ihre Entscheidung. Ich verfolge ihre Gedankengänge im Netz so gut es geht. Die eine Million Flüchtlinge hätte niemals nach Deutschland kommen dürfen, sie liegt uns nun auf der Tasche, vergewaltigt unsere Frauen, sprengt sich in die Luft oder nimmt uns unsere Jobs, unsere Wohnungen oder wenigstens unsere Sitzplätze in der U-Bahn weg. Die Lügenpresse und der Staatsrundfunkt führen das Volk™ an der Nase herum, damit es die USA-Marionetten die sich Regierung nennen weiterhin abschaffen können. Der Holocaust-Schuldkomplex geht ihnen auf die Nerven. Die Verschwulung des Landes geht ihnen auf die Nerven. Das ewige Rücksichtnehmen aufs Klima auch. Und Europa!! Das Establishment braucht einen Denkzettel. Politiker sollen endlich wieder Volksvertreter und nicht Volksverräter sein. Sie sollen endlich wieder Klartext reden. Kurze Hauptsätze. Klare Parolen. Alles schön einfach. Man will nach jedem Satz vorbehaltlos „Ja, genau!“ grölen können.
Aber Politik ist nicht so. Politik war nie so. Zumindest wird sie nie wieder so sein. Politik wird immer komplexer und das nervt, ich sehe das ein. Aber zu glauben, dass die mit den kurzen Hauptsätzen daran irgendetwas ändern könnten, ist so ähnlich wie zu glauben, dass man unsichtbar würde, wenn man die Augen zusammenkneift.
Na klar, man kann jetzt die ganzen Gegenargumente aufzählen. Sogar ebenfalls in Hauptsätzen. Asyl ist ein Menschenrecht. Flüchtlinge sind Menschen. Deutschland ist eines der reichsten Länder der Erde. Deutschland hängt vom Export und von der politischen Stabilität seiner Nachbarn ab. Deutschland braucht Europa. Mehr Rechte für Schwule und Lesben nehmen niemandem etwas weg. Der Klimawandel ist menschgemacht. Er wird humanitäre, soziale und wirtschaftliche Katastrophen auslösen. Wir müssen ihm Einhalt gebieten so gut es geht. Aber es geht nicht um Argumente. Es geht um Gefühle.
Zuerst um Angst. Vor Überfremdung, vor steigender Kriminalität, vor dem Verlust von Kontrolle. Und dann um Missgunst. Gegenüber jenen, die auf Steuergelder durchgefüttert werden (ausgenommen AFD-wählender Hartz-IV-Empfänger); gegenüber Politikern, die von Steuergeldern bezahlt werden, und auch sonst gegenüber allen, die vermeintlich mehr haben. Und es geht um das Gefühl, abgehängt zu sein. Nicht mehr zu verstehen, was öffentlich diskutiert wird; das komplexe System von Abhängigkeiten nicht mehr zu durchschauen; sich mit seinem einfachen Gemüt nicht mehr repräsentiert zu fühlen. Und um den Frust, den das auslöst. Um das Bedürfnis all das vom Tisch zu wischen, damit der danach schön sauber und übersichtlich ist.
Unsere Aufmerksamkeitsspanne ist sehr, sehr kurz geworden in den letzten zehn Jahren. Man kann in sieben Sekunden aber nicht erklären, dass Asyl ein international verbürgtes Menschenrecht ist, dass im Zweifel auch für uns gelten würde, und dass wir dieses Recht brechen würden, wenn wir unsere Grenzen schließen, und dass dieses Recht zu brechen die Abkehr von einer über Jahrhunderte hart erkämpften Humanität wäre. Und dass wir deshalb nicht nach effektiven Wegen suchen sollten, diese Menschen ihrem Schicksal zu überlassen in dem wir Grenzen schließen, sondern vielmehr versuchen müssen, Fluchtursachen in den Herkunftsländern zu bekämpfen, die wiederum vielfältig sind und deren Bekämpfung, Zeit, Geld und Überzeugungsarbeit kosten wird und ein eng abgestimmtes Vorgehen unterschiedlichster Akteure bedarf. Und dass wir außerdem versuchen müssen, aufgenommene Flüchtlinge einigermaßen fair in Europa zu verteilen, was deshalb nicht leicht ist, weil jede Regierung jeden Landes ihrem Volk verpflichtet ist und zunächst gesellschaftliche, soziale und logistische Grundlagen für die Aufnahme von Flüchtlingen schaffen muss, wobei vorher noch die entsprechenden Mehrheiten in den jeweiligen Parlamenten zu organisieren sind. Und dass die Integration von Flüchtlingen nicht Wochen und Monate, sondern eher Jahre, vielleicht Jahrzehnte brauchen wird, weil Deutsch eine schwer zu erlernende Sprache ist und der Bildungsstand mit dem Flüchtlinge hier ankommen sehr unterschiedlich, und weil sich die deutsche Gesellschaft mit ihren Regeln und Gepflogenheiten sehr stark von dem unterscheidet, von dem die hier Ankommenden in ihrer Heimat geprägt sind usw. usf.
Man darf das anstrengend finden. Aber man sollte das nicht leugnen. Man darf auch genervt sein von Angela Merkel, ihrem Zuwarten, ihrer Raute, ihren Hosenanzügen. Und es ist legitim, ihren zum Markenzeichen gewordenen politischen Pragmatismus abzulehnen und sich die Zeiten zurückzuwünschen, in denen es politische Utopien gab, denen man sich anzunähern versucht hat. Es ist auch heute noch okay und möglich, politische Utopien zu wählen. Aber nicht durch ein Kreuz bei der AFD. Die Utopie für die sie steht, kommt mir wie eine Dystopie vor: Kalt, unmenschlich, neidisch, dumm, gefährlich und verrückt. Die AFD zu wählen, wäre auch kein gelungener Protest. Es wäre Sabotage an der Demokratie.