Hat Europa wirklich begriffen, was außer Conchita Wurst den Eurovision Song Contest gewonnen hat? Sind wir wirklich so cool? Oder übertreibe ich mal wieder?
Travestie, das weiß ich auch aber leider nicht nur aus eigener Erfahrung, ist ein heißes Eisen. Viel zu oft kippt sie in die bloße Reproduktion überzogener Geschlechterklischees. Dass Männer aber wie kruden Schönheitsidealen hoffnungslos erlegene Frauen aussehen können, hilft niemandem. Und dass es Frauen gelingt, Manta-Kalle aus den 80ern auferstehen zu lassen, macht auch niemanden freier. Denn mit dem Äußeren wechselt auch der Habitus und übrig bleiben: Diven und Gigolos. Die aber haben mit Frausein und Mannsein ungefähr so viel zu tun, wie ein gängiger ESC mit guter Musik.
Bei Conchita ist das anders. Zwar bedient auch sie sich der gängigen Klischees, besitzt aber die Frei- und Frechheit, aus dem abgegriffenen Bauchladen der Geschlechter-Indikatoren solche zu wählen, deren Kombination strengsten verboten ist. Dadurch gelingt es ihr besser als anderen Travestiekünstlern, diese Indikatoren als das zu entlarven, was sie sind: Karnevalsmasken. Kostüme. Instagram-Filter. Jedenfalls keine Schicksale. Nichts Gottgegebenes. Kein „Frauen sind so, Männer sind so“.
Es ist fabelhaft, dass Conchitas gnadenlose Überhöhung sekundärer Geschlechtsmerkmale, ihr übertriebenes performing gender, nicht dort endet, wo Travestie meistens endet: Im nebligen Bermudadreieck zwischen Kitsch und Trash und den Geschlechtervorstellungen der 50er Jahre. Und es geradezu grandios, dass sie es im Gegenteil schafft, etwas zu kreieren, dass ich mich kaum hinzuschreiben traue: Schönheit. Wenn man sich erstmal an ihren Anblick gewöhnt hat, sieht man: Schönheit, unbestreitbar. Mit all der Bedeutung und Bedeutungslosigkeit, mit all der Extravaganz und Banalität, mit all der Unnatürlichkeit und Zauberhaftigkeit die der Schönheit nun mal innewohnt. Und mit der sie uns seit wir kucken können anzieht und abstößt.
Deshalb finde ich nicht, dass ihr Sieg der Schwulenbewegung dient oder der Akzeptanz von Trans-Menschen oder Crossdressern. Jedenfalls nicht unmittelbar. Ich finde, der Ruhm der Conchita Wurst feiert vor allem die Individualität. Das Ichsein. Wie auch immer das aussehen mag. Und das ist verrückt, denn was kann eine Kunstfigur schon mit Authentizität haben?
Mit der vorbehaltlosen Verehrung der Individualität ist es ja auch so eine Sache. Zumindest dann, wenn Individualität als Synonym für Anderssein gebraucht wird. Anderssein geht nur, wenn etwas zum Vergleichen da ist. Anderssein braucht immer ein „anders als“, und ist dann ja doch nur wieder Spiegelbild und nicht eigentlich individuell sondern eher eigentümlich hohl.
Das ist bei Conchita aber nicht der Fall. Denn es ist nicht nur ihr Style oder nur ihr Statement, das sie auf den ersten Platz katapultierte. Es ist auch ihre Stimme, die zwar nicht eindeutig einem Geschlecht zugeordnet werden kann, aber dennoch oder deshalb wieder eines ist: unbestreitbar schön. Und es ist die Attitüde, auf Tänzer im Hamsterrad, Trapezartisten und Kunstregen zu verzichten und stattdessen nur diese entschieden unentschiedene Person ins Zentrum des Geschehens stellen (und ihr zu ihrem Phönix-aus-der-Asche-Song noch Feuerflügel zu verpassen, damit es auch der letzte kapiert).
Aus Conchitas dreisten Remix des Bewährten aber kann man eine Botschaft lesen: Entspannt euch. Seit Kinder. Spielt. Überkommt eure Hemmungen, wenigstens ein bisschen, und seid was euch gefällt. Wenn euch Haare unter den Armen wachsen oder auf den Wangen, dann ist das cool. Und wenn nicht, dann ist das auch cool. Und wenn ihr Lipgloss mögt dann tragt welchen, auch wenn ihr im Stehen pinkelt.
Das ist alles albern, ich merke das selber, denn es sind wieder nur Äußerlichkeiten. Aber über diese Äußerlichkeiten kommunizieren wir, wer wir sind oder sein wollen. Und die bezaubernde Conchita (ich KANN nicht „die bezaubernde Wurst“ schreiben, ich bin VEGANER!!1!) traut sich, etwas sein zu wollen, das zwar nicht jenseits der Normen ist, aber wenigstens herrlich dazwischen.
Sie ist sich tausendprozentig sicher, dass sie okay ist, wie sie ist. Und ich liebe, dass wir das lieben.
Ich kann Deine Euphorie sehr gut verstehen und sie ist sicher auch nicht unberechtigt. Aber ich finde, es gibt auch ein paar Schattenseiten, wie meistens. Hier sind ein paar ganz gute Gedanken dazu, mich beschäftigt vor allem Punkt 4.
http://jayromeaufdeutsch.wordpress.com/2014/05/22/warum-ich-conchita-wurst-nicht-toleriere/
Mich stört dabei, dass Conchita als “sie” bezeichnet wird. Sie ist keine Frau. ICH bin eine Frau und es ist richtig, dass man mich mit dem weiblichen “sie” beschreibt. Ich bin wirklich keine Emanze, aber das geht wieder mal zu weit – und zwar in eine falsche Richtung.
Wenn er ständig daraüf rumreitet, ein verkleideter Mann zu sein, dann sagt gefälligst “ER” zu ihm und nicht “SIE”. Es gehört mehr dazu, eine Frau zu sein, als sich übertrieben aufzudonnern.
Er ist ein Mann. Ein ER! Punkt.
Was junge Mädchen und kleine Kinder da wieder vorgelebt bekommen an so “unschuldiger und ach so lustiger” Diskriminierung fällt den Schreihälsen nicht mal auf.
Abgesehen davon: So ‘ne geile Stimme hat er nicht. Lass den ohne Bombast ‘ne Ballade trällern und da hapert’s dann schon gewaltig auf mit dem Superstar-Image.
Ich mochte “Mary & Gordy” sehr, aber die hat man auch nicht als Frauen bezeichnet, sondern als Travestie-Künstler. Was hier passiert ist eine ungute Verschiebung der Realität. Wieder mal zu Lasten der weiblichen Selbstachtung.
Die hat auch ohne so einen Scheiß genug zu kämpfen!
Eines ist Conchita Wurst mit Sicherheit nicht: Eine Travestie-Künstlerin. Conchita Wurst ist die Kunstfigur eines Travestie-Künstlers. Die Figur aber – und dabei bleibe ich – ist eine Frau. Nichts an ihr ist männlich, ihre Figur nicht, ihre Frisur nicht, nicht ihr Outfit und nicht ihr Make-Up. Einzig ihr Bart fällt aus der Reihe und gerade das ist ja der Witz. Ich sehe die Figur nicht als Sängerin, nicht einmal als Entertainerin sondern im Grunde als politische Aktivistin. Sie entlarvt, wie arg wir durcheinander kommen, wenn sich jemand erlaubt, festgefahrene Rollenklischees nicht zu bedienen sondern ad absurdum zu führen. Das kann für niemanden mehr Balsam sein, als für die weibliche Selbstachtung. Meine Meinung.