Das Küchenradio meines Lieblingsmenschen ist auf eine fürchterliche Schlagerwelle eingestellt, auf die ich normalerweise so ähnlich reagiere, wie auf das Geräusch eines Presslufthammers in Stahlbeton – Ohrenzuhalten und schreiend weglaufen. Letzten Sonntag aber, ich war gerade beim Zwiebelnschneiden, trällerte plötzlich Wencke Myhre hinter den Membranen und nach sechs Tagen bin ich soweit offen zugeben zu können: Mir gefiel das.
Ich kannte den Song und erinnerte mich dunkel an einen Auftritt von Myhre in irgendeiner Musikshow, der mich als Kind sehr beeindruckt haben muss. Diesen hier. Ich finde ihn auch heute noch sehenswert. Wie locker diese Frau auf dieser kleinen Bühne abgeht, berührt mich irgendwie. Dabei ist alles was wir sehen im Vergleich zum heutigen Show-Standard geradezu lächerlich.
Es gibt
- keine fiese Lasershow,
- keinen wabernden Nebel,
- keine Pyrotechnik,
- keine halbnackten Tänzer,
- keine Hebebühnen oder –figuren und
- keine fetzige Choreo.
Dafür erleben wir:
- Disko-Beleuchtung wie im heimischen Partykeller
- eine echte Frau, die in echt singt
- eine Sängerin, die über die Publikumstribünen klettert wie es ihr passt und sich überhaupt nicht darum kümmert, wie die Kameraleute das finden könnten
- zwei Dutzend echte Menschen, die mitten im Auftritt auf die Bühne stürmen um Nelken zu überreichen
- einen herzzerreißend lebensfrohen Schlager und als Bonus
- Schulterpolster, Glitzergürtel und Pailletten
Nimm dies, Helene Fischer!
Sehr gut erkannt! 🙂 Sehr lieb geschrieben und reflektiert. Die Frau ist aber auch ein Ausnahmetalent. In der Hitparade (hier mit Viktor Worms, früher mit Dieter Thomas Heck) gab es auch ganz grauenvolle Gurken am Mikro. Das Schöne an der Sendung war tatsächlich der Live-Gesang, die unbefangenen, eigenen Bewegungen der Künstler (sagt dir “Maggie Mae” etwas?). Die Klamotten waren hipp. Außerdem durfte man auch auf die Bühne, wenn man Ähnlichkeit mit einem misslungenen Experiment hatte. 😉 Die Übergabe der Blumen wurde irgendwann verboten, weil es störende Ausmaße annahm.
Es war alles ECHT. Die Musiker verpassten ihre Einsätze, sangen schlecht und wurden ausgebuht (z. B. Nena). Man stolperte über Kabel, verhedderte sich mit den Klamotten und ertrug die extrem schleimige Moderation von Herrn Heck, die aber dazugehörte.
Seit der “Digitalen Revolution” wird alles Echte auf ein kontrollierbares Minimum reduziert und der Rest ausgefeilter Technik überlassen. Du kannst aus einem HUHN einen Weltstar machen, wenn du nur genug Kohle investierst.
Es geht nicht mehr um Kunst und Kultur dabei – es geht um Kohle. Das entscheidenste “K-Wort” der Welt. Leider.