Warum “Hätte ich bei dir gar nicht gedacht!” kein Kompliment ist

Coming Outs habe ich mir abgewöhnt. Ich erspare mir so viele Peinlichkeiten und Albernheiten und bin ein zufriedenerer Mensch. Im Gegenzug nehme ich billigend in Kauf, für hetero gehalten zu werden, bis mein Gegenüber realisiert, dass ich es nicht bin.

Meist passiert das sehr beiläufig. Zum Beispiel, wenn Kollegen vom Wochenende mit ihrer Frau erzählen und ich vom Wochenende mit meinem Mann. Oder wenn Kolleginnen über den Sex-Appeal von Bradley Cooper verhandeln und ich mich dazu adäquat äußern kann. Oder wenn jemand das 2-Männer-mit-Hund-Foto auf meinem Handy-Sperrbildschirm bemerkt. Das Schöne an dieser Meta-Kommunikation ist: Es muss nicht darüber gesprochen werden. Wozu auch? Mein Begehren ist erstens nicht zu diskutieren, weil es zweitens meine Sache ist und drittens keine große. Zudem verlangen verbalisierte Reaktionen oft ein Höchstmaß an Selbstbeherrschung von mir.

Die beliebteste Reaktion nämlich ist: „Echt? Das hätte ich jetzt bei dir gar nicht gedacht.“ Gern garniert mit staunend hochgezogenen Augenbrauen und den leicht geöffneten Lippen jovialer Überraschung.

Als eine junge Frau, die ich neulich kennenlernte, dieses Schauspiel aufführte, kam mir das altbewährt-deeskalierende: „Tja! Ist aber so.“ nicht über die Lippen. Übermütig fragte ich sie stattdessen, wie ich denn sein müsste, damit sie mich als schwul einsortieren würde. Zur Strafe wurden mir die dunkelsten Homo-Klischees der 1990er Jahre mitten ins Gesicht gesprochen: Exaltiertes Benehmen (sie hat “mädchenhaft” gesagt), abgespreizter Finger beim Kaffeetrinken, Singsangstimme. Aus dem zungengepiercten Mund einer Person, die zehn Jahre jünger ist als ich. Und der auf Nachfrage bekannte, dass das mit ihm verbundene Gehirn sich Schwule so vorstellt, „wie man sie eben aus dem Fernsehen kennt“.

Um die Gesprächspause, die entstand, als ich innerlich bis zehn zählte, zu überbrücken, schob sie nach, dass sie das ja gut fände. Also, dass man es nicht so merkt bei mir. Und dass sie natürlich kein Problem mit Schwulen habe. Im Gegenteil. Natürlich.

Die Sache ist die: Ich gebe mir große Mühe, ich selbst zu sein. Wie jeder wäre ich in manchen Bereichen gern anders. Ich bin nicht “tuckiger” als ich bin, aber wenn ich es wäre, wäre ich es mit Leidenschaft. Außerdem hätte ich gern dieses top-gepflegte Äußere, mit dem die Schwulen in den Soaps morgens aus dem Bett steigen. Leider muss ich immer weinen, wenn ich versuche, meine zusammengewachsenen Augenbrauen zu zupfen. Weil ich es nicht richtig finden kann, mir Schmerzen zuzufügen, lasse ich es. Zu gern hätte ich dieses unfassbare Händchen für Stil und Mode, wie die Schwulen in den Shows. Aber weil ich in Kaufhäusern unter akutem Fratzenalarm leide, trage ich seit ungelogen zehn Jahren das immer gleiche Hosenmodell, das ich bequem im Internet bestellen kann, weil ich genau weiß, welche Größe ich brauche. Ich hätte auch gegen diesen gestählten Body nichts einzuwenden, ohne den kein TV-Schwuler auskommt, ohne den ich aber wohl mein Lebtag werde auskommen müssen, weil mir der Elan und die Disziplin für das hierfür nötige Training so unvorstellbar fremd sind, wie der Geruchssinn meiner Hündin.

Kann ich aber bitte trotzdem als Schwuler wahrgenommen werden? Ich bin nämlich ein Schwuler. Und ich möchte mich bitte nicht permanent verstellen müssen, um das auch überzeugend zu verkörpern.

Okay, Kompromissvorschlag: Ich sehe ein, dass wir Vorurteile Grundannahmen brauchen, um unseren Alltag zu sortieren. Es ist empirisch belegbar, dass sich die Mehrzahl der Männer in Frauen verliebt. Ich kann verstehen, dass unaufmerksame Menschen zunächst davon ausgehen, dass auch ich das tue. Aber ich DULDE NICHT, dass jemand glaubt, Schwule würde man an rosa Oberhemden erkennen. Und ich lasse mir die Borniertheit eines unreflektierten Schwulenbilds nicht als Sympathiebekundung verkaufen.

„Hätte ich bei dir gar nicht gedacht!“ ist kein Kompliment. Es ist eine Beleidigung. Und aussichtsreicher Kandidat für die Ehrenschleife herteronormativer Gedankenlosigkeit. In dunkeblraun.

7 Gedanken zu „Warum “Hätte ich bei dir gar nicht gedacht!” kein Kompliment ist“

  1. Wenn man sich für die sexuellen Präferenzen genau eines einzigen Menschen interessiert, nämlich des Menschen, den man begehrt, und wenn einem die entsprechenden Neigungen der restlichen paar Milliarden Leute völlig egal sind, macht man dann etwas falsch?

  2. Absolut perfekt!
    Es ist kein Kompliment.
    Schön beschrieben.

    Die andere Variante ist auch nett: Ah, das hatte ich mir schon gedacht aufgrund deiner kurzen Haare etc. plötzlich zu einer Lesbe stilisiert zu werden.

    Ich find beides merkwürdig:
    das – du siehst ja gar nicht so aus und das – ach ja richtig, eigentlich trägst du ja alle Homomerkmale, um dich korrekt einordnen zu können.

    Hm.

  3. Dann, glaube ich, macht man alles richtig, ist aber ein seltenes, besonders wertvolles Exemplar.

  4. Merci! Mir ist das Erkanntwerden inzwischen lieber, weil es ja Hoffnung macht, dass ich in etwa so wahrgenommen werde, wie ich bin. Auch ich muss zwanzig mal am Tag damit klarkommen, dass jemand oder etwas nicht so ist, wie ich dachte. Das revidieren eigener Vorstellungen ist ja ein wesentlicher Teil unserer Interaktion mit der Welt. Und gar kein Problem, so lange man die Klappe hält, kurz mit den Schultern zuckt und weiterlebt. Was mich ärgert ist dieses verbalisierte und im Grunde selbstgerechte Staunen.

  5. Ich verstehe den Ärger über solche Äußerungen. Ich erkenne mich trotzdem in der Kollegin. Klappe halten, Schultern zucken, weiterleben will auch geübt sein. Gerade wenn ich bemüht bin ganz deutlich zu machen, dass irgendwas eben kein Thema ist sage ich vor lauter Verkrampfung die absonderlichsten Sachen und es wird dadurch sowas von zum Thema… Ich glaube, dass das besser werden kann, solange es Texte/Rückmeldungen/Lernsituationen wie diese gibt – auch wenns nervt.

  6. Ich kenne diese spezielle Art von Kein-Thema-Sein ja selbst. Aber ich bin immer bemüht, meine Vorurteile als das zu begreifen, was sie sind: wacklige Krücken. Meine Idee war, mit diesem Post eine indirekte Konfrontation zu schaffen, die peinlichen Situationen oder Frust vorbeugen kann.

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