Andenken aus Stein

Ich habe heute mit meiner Schwester telefoniert. Es ging um den Totensonntag gestern. Nicht, dass wir nur ein einziges Wort davon gesprochen hätten. Aber mir war klar, dass sie am Grab unserer Mutter gewesen sein musste. Und ihr war klar, dass ich das Grab ein weiteres Mal nicht besucht hatte.

Wir hatten schon oft über diesen Ort gesprochen. So oft vielleicht, dass kein Wort übrig geblieben war, dass ich heute dazu hätte sagen können. Und wären da noch welche, hätte ich mir verboten, sie zu sagen. Ich will mich nicht mehr rechtfertigen. Meine Schwester mag mich sehr und will keinen Streit vom Zaun brechen. Aber sie hasst es, dass es überhaupt einen Zaun gibt zwischen uns. Wir kommen nicht zueinander.

Meine Schwester findet es wichtig, dass Andenken an unsere Mutter zu bewahren. Ich auch. Unsere Mutter war eine stolze, starke Frau. Meine Schwester glaubt, ein gepflegtes, geschmücktes Grab sei Ausdruck dieses Andenkens. Ich nicht. Ich glaube, ein gepflegtes, geschmücktes Grab ist Ausdruck von Verzweiflung. Besonders das meiner Mutter. Meine Mutter ist nicht an dort. Sie war noch nie da. Sie kannte diesen Ort nicht.

Wir haben den Ort ausgesucht, nahe am Wasser unter dem riesigen Rhododendron. Wir haben auch den Stein ausgesucht, sogar die Gravur, sogar die Worte der Gravur. Jetzt steht dieser Stein da – bald 10 Jahre – und bezeugt: Was eigentlich?

Dass es meine Mutter gegeben hat? Dass es mich gibt, der heute noch an sie denkt? Dass sie ein Denkmal wert war? Ich verstehe diesen Stein nicht. Ich bin für seine Existenz verantwortlich aber ich habe mich geirrt. Ich kann ihn nicht leiden. Weil er so tut, als könne er die Zeit anhalten. Weil er sich so ewigkeitsschwanger aufbläst und weil er behauptet, er – kalt und zentnerschwer – bewahre das Andenken meiner Mutter.

Meine Schwester sagt, dass sei ein wichtiger Ort für sie und ich respektiere das. Mehr noch: Ich freue mich darüber, dass sie ihn pflegt. Ich bin ihr dankbar.

Aber ich fühle mich schuldig, weil es diesen Ort gibt. Wenn ich nicht da bin, weil ich weiß, dass es Menschen gibt, die finden, dass ich da sein sollte. Weil man das macht, weil man da hingeht, wenigstens ab und an. Und wenn ich dort bin dafür, dass ich dann so nichts, so gar nichts empfinden kann.

Ich kann nicht einsehen, was Koniferen und Efeu jemals mit meiner Mutter zu tun haben sollen.