Verbrannter Zucker

Gestern war mein letzter Arbeitstag. Für dieses Jahr. Im Lift auf dem Weg in die Tiefgarage schrieb ich Listen im Kopf: Noch zu versendende Weihnachtskarten, noch zu besorgende Geschenke, noch zu erledigende Einkäufe und auch, wie ich im nächsten Jahr dem Weihnachtskaufrausch entkommen könnte.

Vom Lift bis zum Fahrradraum sind es vielleicht 50 Meter, zwei Brandschutztüren, ein Sicherheitsschloss. Schon als sich die Fahrstühltüren öffneten hatte ich diesen Geruch in der Nase und im nächsten Augenblick die passende Erinnerung im Kopf: Meine Mutter steht in der überheizten Küche am Herd und brät Karamellbonbons. Der schmelzende Zucker in der Pfanne füllt die Luft. Noch einen Augenblick später lief mir das Wasser im Mund zusammen. Ich fing an in meiner Erinnerung nach dem Rezept zu kramen.

Schlagartig wurde mir allerdings klar, dass niemand Karamellbonbons in einem Tiefgaragentreppenhaus brät. Dieser Geruch wahr falsch hier.

Ich erschrak. Gleich hinter der ersten Brandschutztür hockten drei Jugendliche. Zwei Jungs im Skater-Klamotten und ein Mädchen im gewollten Punker-Outfit. Die drei erschraken ebenso. Plötzlich war ich falsch hier. Mein Blick blieb an dem schmalen Streifen nackten Fleisches hängen, der sich zwischen dem Minirock und der Netzstrumpfhose des Mädchens auftat. Mit offenem Mund starrte mich das Mädchen an, während sie sich routiniert die Nadel aus dem Fleisch zog. Es blutete. Erst als ich den Esslöffel in der Hand des einen Jungens bemerkte, begriff ich, was hier gerade passierte. Das Mädchen hatte sich gerade einen Schuss gesetzt. Das war kein geschmolzener Zucker. Das war Heroin.

Der andere Junge stürzte auf mich zu. Er holte Luft als wollte er einen Satz beginnen, der höchstwahrscheinlich mit “Ey Alter!” angefangen hätte. Weil ich aber wie angewurzelt stehen blieb und ihm gerade so tief ins Auge sah, wie es meine plötzlich aufgekommene Angst zuließ, blieb er stumm und berührte mich nicht.

Dieser Blick bekam eine Qualität die mich überwältigte: er war intim. Ich konnte mich nicht abwenden. Obwohl ich fürchtete, dass er jeden Moment ein Messer ziehen könnte, um es mir in den Bauch zu rammen oder mich wenigstens auszurauben. Vielleicht ist es überheblich, aber es fühlt sich auch mit etwas Abstand so an: Ich habe diesen Jungen gesehen. Hinter seiner Skater-Coolness. Und er hat mich getroffen. Ohne Messer.

Diese Traurigkeit in seinen Augen, diese Wut, diese Aggression, dieser Hunger.
“Warum?” wollte ich wissen. “Wohin soll das führen?”, wollte ich fragen. Aber ich traute mich nicht. Soviel Naivität hätte wahrscheinlich alle drei in schallendes Gelächter ausbrechen lassen. Soviel Unbedarftheit hätte mich als das ahnungslose, reiche, satte und vor allem geliebte Weichei geoutet dass ich bin. Es war mir peinlich da zu sein.

Ich lief schneller als sonst zu meinem Fahrrad. Ich rannte fast. Und ich war die Ausfahrt schneller hochgefahren, als sich das Rolltor öffnen konnte. Ich wusste ja wohin. Zuhause dampfte das Essen auf dem Tisch.

Lethargie

Die Häufigkeit meiner Posts macht keinen Hehl daraus: Ich bin im Moment sowas von lethargisch, dass ich es keinen einzigen Tag mit mir aushalten würde, wenn ich nicht müsste.

Jeden Morgen gegen 10 muss ich mir aufs Neue eingestehen, dass ich einfach nicht reinkomme in den Tag. Jeden Morgen aufs Neue habe ich das Gefühl, der Tag und ich fahren auf unterschiedlichen Gleisen. In unterschiedliche Richtungen. Von unterschiedlichen Bahnhöfen ausgehend.

Alles was ich anfasse kommt mir nach einer halben Stunde leer und grau vor und nach spätestens einer Stunde bin ich so gelangweilt vom jeweiligen, dass ich es beiseite lege.

Ich verbringe meine Tage damit mir Liveübertragungen von Pressekonferenzen auf Phoenix anzusehen oder stundenlang die Technikticker im Netz zu lesen.

Und dabei ist es natürlich nicht so, dass ich nichts zu tun hätte. Die Pinnwand über meinem Schreibtisch hält 25 noch nicht begonnende Projekte für mich bereit. Jedes liebevoll auf einem eigenen Klebezettel in Stichworten umrissen. Ich vermeide den Blickkontakt.

Und dabei ist es leider auch nicht so, dass ich mir einfach reinen Herzens frei nehmen könnte um mir die Tage fröhlich mit langen Spaziergängen, Cafèbesuchen, Computerspielen oder der äußerst faszinierenden Musikflatrate vertreiben.

Es ist als hätte ich Tapetenkleister in meinen Adern.

Abends lade ich mir manchmal Freunde zum Essen ein. Denen koche ich dann was um den Tag nicht mit 100% sinnlos verloren zu geben. Ich lasse sie gern erzählen aus ihrem Leben. Von der Arbeit. Von der Freundin. Von der Politik. Beim Zähneputzen dann freue ich mich, dass ich mich so lebendig fühle. Heimlich nehme ich mir dann vor morgen alles besser zu machen. Eines Tages wird das klappen.

Heute kommen Caren und Sascha.
Jetzt.

Leben und Arbeiten

Es ist bizarr: ich werde jeden morgen von Handwerken geweckt, die in der Wohnung unter mir dem Geräusch nach alle Wände einreißen um mit den freigewordenen Steinen Percussion-Performances auf dem übriggebliebenen Boden der Wohnung einzustudieren. Bei mir tanzt dann der Tee in der Tasse und die Gläser im Regal. Das heute schon ab sieben.

Nein, nein ich find das schon in Ordnung zeitig aufzustehen. Ich mag es den ganzen langen Tag vor mir zu haben. Ich mag den Gedanken ihn womit ich will füllen zu können. Normalerweise.

Im Moment aber lasse ich die Tage verstreichen. Ich höre den Männern unter mir beim fleißig sein zu. Ich koche ausgiebig. Ich teste Napster und verliere mich in neuer Musik. Meine Arbeit lasse ich liegen. Meine Ideen lasse ich verstauben. Meine Wohnungstür abgeschlossen. Von innen.

Ich habe überhaupt keinen Grund zu jammern. Jeder der Handwerker unter mir würde sicherlich gern einen Tag mit mir tauschen. Und ich mit einem von ihnen. Sie haben im Gegensatz zu mir: eine klare Aufgabe, ein konkretes Ziel und produzieren ein nachprüfbares Ergebnis.

Ich bin Künstler und muss mich mit Ermunterungen wie: “Du kannst nun mal nicht jeden Tag kreativ sein.” oder: “Dein Kopf arbeitet immer und du wirst sehen, plötzlich küsst dich die Muse und es fließt wieder” zufrieden geben. Was schwer fällt. Denn nur weil Phasen der Passivität normal sind muss ich nicht damit leben können.

MEIN Leben?

Ich weiß nicht, ob dieses hier mein Leben ist.
Vielleicht bin ich wer anders.
Bestimmt zu etwas anderem als diesem hier.
Fehlgeleitet. Abgedriftet. Widrig.
Ich bin in all das hier nur so reingeschlittert.
Habe mich verlaufen, quasi.
Bin verirrt.
Falsch abgebogen.
Falsch.

Habe getrieft.
Den entscheidenden Moment verschlafen.
Zu lange gewartet.
Zu lange gehofft.
Zu lange untätig.

Kein heller Stern mehr,
keine Gunst der Stunde,
nicht zur rechten Zeit am rechten Ort
sondern zur falschen Zeit nirgendwo.
Kein glücklicher Zufall,
keine guten Beziehungen,
nicht von irgend wem in jungen Jahren entdeckt zu irgend etwas.

Hab mir die Zeit mit Büchern vertrieben.
Mit hoffen und träumen und denken und reden.

Und in der Tat:
Mit den Jahren sickert
Tropfen für Tropfen
wie Regenwasser durch Samttapeten
die Erkenntnis in mein Jetzt,
dass ich ebenso

normal

bin, wie die, denen ich es zeigen wollte.

Nicht ohne Talent zwar, aber kein Genie.
Nicht ohne Liebe, aber kein Heiliger.
Nicht ohne Mut und doch kein Krieger.

Fein gemacht.
Was erkannt.
Was gelernt.
Was begriffen.

Und nun?
Bürojob, 8 Stunden, 1.200 Euro?
Sozialarbeiter, 12 Stunden, 800 Euro?
Künstler, 24 Stunden, 0 Euro?
Religiös werden?
Depressiv werden?
Oder Verrückt?

Nein, nein.
Wie gesagt: Ich habe mir die Zeit mit Büchern vertrieben.
Und jedes, jedes einzelne antwortet:

Akzeptieren.
Annehmen.
Sich fügen.
Erkennen, dass genau dieses hier:
jetzt:
dieser Augenblick unter dem Licht meines hellen Sternes stattfindet.

Begreifen, das genau in diesem Moment:
jetzt:
in diesem Atemzug
die Gunst der Stunde liegt,
und dass es jetzt exakt die richtige Zeit
und hier genau der richtige Ort für mich ist.

Gott macht keine Fehler.
Ach,
doch religiös geworden unterwegs?
Na bitte.

be water 2

Naja, so richtig erklären kann ich das immer noch nicht. Das heißt, ich trau mich nicht. Und natürlich habe ich meinen Rechner nur angeschaltet, um es doch zu tun. Um mich doch zu trauen. Also gut.

Buddhismus sagt, wir sind alle Teil einer großen Weltseele, und Nirvana bedeutet zu dieser Weltseele zurückzukehren. Wieder mit ihr zu verschmelzen. Wie ein Wassertropfen, der von der Flut an den Strand geschwemmt wurde, und bei der nächsten Woge vom Ozean heim geholt wird. Und während unseres Strandaufenthaltes, den 70 oder 80 Jahren Orientierungslosigkeit also, bleiben wir doch immer verbunden mit unserem Ozean. Wir bestehen letztlich aus Ozean. Wir beinhalten alle seine Bestandteile. Wir haben Erinnerung an ihn. Wir sind ein Ozean im kleinen. Wenn es uns nun gelänge, diese Erinnerung zu beleben, uns darauf zu besinnen, dass wir als Wassertropfen eben nicht dazu verdammt sind im Sande zu versickern oder in der Sonne zu verdunsten, wenn es uns nun gelänge, ebenso zu fließen, wie der Ozean fließt, und nicht im Sande versickert und nicht in der Sonne verdunstet, wenn wir diese Erinnerung erwecken könnten, wären wir geheilt.

Wir müssen fließen lernen. Wir müssen begreifen, dass wir Hindernisse und Probleme, dass wir Sandkörner umfließen oder in uns aufnehmen können. Wir müssen begreifen, dass wir an der Feuchtigkeit anderer Tropfen wachsen können, und das wir von unserer Feuchtigkeit abgeben müssen, wenn wir fließen wollen. Es macht keinen Sinn, sich auf seine Hülle zu konzentrieren, und darauf zu achten alle seine Moleküle beieinander zu halten. Das macht uns klein und schwach und träge. Es gibt keine Stabilität. Es kann keine Planung gebebn, weil der Sand nicht stabil ist, auf dem wir liegen. Weil der Wind sein Spiel mit ihm treibt. Und es gibt keine Vergangenheit, weil wir keine Spuren hinterlassen im Sand, weil der Wind sein Spiel mit ihm treibt. Wir aber müssen fließen. Wie alles fließt. Und unsere Richtung ist immer klar: zurück zum Meer.