Über einen muslimischen Feiertag & den geheuchelten Aufstand dagegen

Innenminister de Maizière sagt am Donnerstag im Rahmen einer CDU-Wahlkampfveranstaltung in Wolfenbüttel für die am Sonntag stattfindende Landtagswahl in Niedersachsen wörtlich:

„Ich bin bereit darüber zu reden, ob wir auch mal einen muslimischen Feiertag einführen. Kann man gerne vielleicht mal machen […] Wo es viele Moslems gibt; warum kann man nicht auch Mal über einen muslimischen Feiertag reden?”

Er trifft damit einen Nerv.

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Weshalb die Verbrechen um Charlie Hebdo sehr wohl mit dem Islam zu tun haben

Die Verbrechen um Charlie Hebdo haben mit dem Islam nichts zu tun. Imame sagen das, Thomas de Maizière sagt das, sogar Francois Hollande sagt das. Trotzdem ist das leider Unsinn.

Doch, ich kenne den Unterschied zwischen Islam und Islamismus; zwischen Religion, Fundamentalismus und Fanatismus. Ich habe im Koran gelesen wie in der Bibel und ich könnte nicht sagen, welches der beiden Bücher brutaler oder radikaler ist; von Liebe handelt meinem Leseverständnis zufolge jedenfalls keines von beiden. Ich weiß auch, dass es “den Islam” nicht gibt, weil sich Muslime viel dezentraler organisieren als beispielsweise Katholiken. Und mir ist ebenso klar, dass die überwältigende Mehrheit der Muslime in Frieden leben will.

Fakt ist aber, dass sich die Attentäter von Paris ebenso wie andere vor ihnen, ebenso wie die Monster des IS auf der anderen Seite der Welt, auf genau diesen Islam und die ihm zu Grunde liegende Schrift berufen. “Allah ist groß” wurde gerufen, nach dem die Journalisten James Foley und Steven Sotloff vor laufender Kamera enthauptet wurden. “Allah ist groß” schallte es auch am Mittwoch durch die Straßen von Paris, nach dem Mörder die Redakteure von Charlie Hebdo und anschließend einen am Boden liegenden Polizisten durch Schüsse in den Kopf getötet hatten. Weshalb die Verbrechen um Charlie Hebdo sehr wohl mit dem Islam zu tun haben weiterlesen

Warum die Entscheidung für einen Organspende-Ausweis immer religiös ist

Letzten Freitag – vor mir kniete ein kräftiger Mann auf dem Boden und versuchte mit klappernden Stößen eine Puppe wieder zu beleben, neben mir bettelte ein Kollege um meine Unterstützung bei einem Handy-Quizduell – tätigte ich schwungvoll eine Unterschrift, vor der ich mich jahrelang gedrückt hatte. Die unter meinem Organspende-Ausweis.

Ich bin erleichtert, dass das zermürbende Hin & Her in mir ein Ende hat. Warum die Entscheidung für einen Organspende-Ausweis immer religiös ist weiterlesen

Die Top-8-Argumente für die Beschneidung von Jungen – und ihre Dekonstruktion

In einem überfälligen Richterspruch hat das Landgericht Köln in der letzten Woche entschieden, dass die religiöse Beschneidung von Jungen den Tatbestand der Körperverletzung erfüllt und damit strafbar ist.

Das einzig vorstellbare Urteil am Ende eines solchen Prozesses, finde ich. Vor allem jüdische und muslimische Religionsverbände sind da anderer Meinung. Das überrascht mich nicht, aber es regt mich auf. Noch mehr habe ich mich über ein Interview geärgert, das der CSU-Bundestagsabgeordnete Norbert Geis heute morgen im Deutschlandfunk gab. Die Argumente der Beschneidungs-Befürwörter sind ideologisch verbrämt oder nicht zu Ende gedacht. Meistens beides.
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Kässmann endlich glaubwürdig

Margot Käßman, Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, wird mit 1,5 Promille Alkohol im Blut nach dem unbeeindruckten Überfahren einer roten Ampel von der Polizei gestoppt. Diese Verfehlung könnte ihr das Amt kosten. Dabei bietet sie die seltene Gelegenheit, die Glaubwürdigkeit moralischer Instanzen neu zu definieren.

Seitdem Käßmann im Oktober letzten Jahres Wolfgang Huber an der Spitze der evangelischen Kirche in Deutschland  ablöste, kommt die Organisation nicht mehr zur Ruhe. Die Tatsache, dass Käßmann a.) eine Frau und b.) obendrein geschieden ist, genügte der russisch-orthodoxen Kirche die Zusammenarbeit mit der evangelischen Kirche Deutschlands unter reichlich moralisch-pikiertem Tschingtarassa abzubrechen. Käßmanns rigorose Ablehnung des Einsatzes deutscher Soldaten in Afghanistan sorgte für politischen Zwist und verschaffte ihr das Image der gnadenlosen Hardlinerin in Sachen Ethik und Moral, die sich einen Dreck um das diplomatisch Notwendige oder politisch Machbare schert. Was mir stets imponierte.

Natürlich kann man ihr leicht vorwerfen, dass ihre stets an ganz grundsätzlichen Idealen entlang argumentierte Auffassung von Recht und Unrecht nur wenig dazu beitragen kann, konkrete Probleme wie beispielsweise die verfahrene und aussichtlose Situation der Bundeswehr in Afghanistan in den Griff zu bekommen. Andererseits ist das auch nicht ihre Aufgabe. Als Vorsitzende der evangelischen Kirche in Deutschland ist sie vielmehr dazu berufen, lautstark für christliche Gebote und Vorstellungen einzutreten und deren Einhaltung auch in politischen Konflikten, auch in gesellschaftlichen Debatten anzumahnen. Und diesen Job macht sie gut. Denn der christlichen Lehre folgend steht das Gebot des absoluten Pazifismus – trotz “Auge um Auge und Zahn um Zahn” – nun mal nicht im Geringsten zur Debatte. Dementsprechend lies auch sie keinen Platz für ein diplomatisch-realpolitisch aufgeweichtes “Ja-aber.”

Die angetrunkene Spritztour am letzten Samstag stellt die von der Welt als “Wächterin strengster moralischer Maßstäbe” titulierte Bischöfin in ein ganz neues Licht – und zwar kein gutes. Man kann es nicht schönreden: 1,5 Promille sind ziemlich viel. Traut man sich Käßmanns Größe und Gewicht großzügig zu schätzen und einen Alkoholrechner mit diesen Werten zu füttern, erfährt man, dass sie mindestens drei große Bier oder etwas mehr als eine Flasche Wein getrunken haben muss. Dass sie danach nicht mehr fahrtüchtig war, kann ihr nicht entgangen sein. Sie ist trotzdem gefahren und hat damit sich und andere in ernsthafte Gefahr gebracht. Ohne Zweifel ist das eine ernsthafte moralische Verfehlung, die geahndet werden soll. Nur wie?

Käßmann ist erwischt worden. Wahrscheinlich ist sie ihren Führerschein los, hat für den Blutalkohol und die rote Ampel empfindliche Bußgelder zu berappen und muss sich in einem Ermittlungsverfahren wegen Trunkenheit am Steuer verantworten, so wie ich es an ihrer Stelle auch müsste. Im Gegensatz zu ihrer wäre meine Trunkenheit jedoch für den Maulwurf innerhalb der Polizei oder den Bildzeitungsjournalisten, der illegal den Polizeifunk abgehört hat, bei Weitem kein so einträgliches Geschäft gewesen.

Und im Gegensatz zu meiner (wohlgemerkt rein hypothetischen) Trunkenheit ist ihre ein öffentliches moralisches Problem. Sie beweist uns, dass auch Margot Käßmann ein Mensch ist. Keine roboterhaft Psalmen zitierende weiße Weste, keine makellose Heilige, kein unfehlbares Orakel. Margot Käßmann macht Fehler, obwohl sie weiß, was richtig ist. Sie tut das Falsche, obwohl sie gebetsmühlenartig dafür eintritt, das Richtige zu tun. Sie erliegt der Verführung, obwohl sie Tugendhaftigkeit predigt. Darf sie trotzdem weiterhin Vorsitzende einer großen Deutschen Kirche sein?

Ich finde jetzt erst recht. Käßmann jetzt ihres Amtes zu entheben würde der Kirche schaden, weil sie damit überführt wäre, noch immer der sehr naiven Illusion verfallen zu sein, irgendjemand sei ohne Sünde und würde ihr Amt daher besser ausfüllen.

Dabei ist es eine Chance: Das Oberhaupt der evangelischen Kirche bereut. Käßmann sei erschrocken darüber, dass sie so einen schlimmen Fehler gemacht habe. In den nächsten Tagen werden sicherlich noch weitere Reuebekundungen folgen. Soll man diesen Glauben schenken? Unbedingt. Glauben muss immer geschenkt werden.

Wie glaubwürdig aber ist eine moralische Instanz aus Fleisch und Blut die allen Ernstes behauptet, stets das Richtige zu tun? Wie kann jemand als lebendiges Vorbild taugen, der sich im Lichte für mich unerreichbarer Unverdorbenheit sonnt? Wem soll ich glauben, er sei frei von Sünde?

Rechtschaffend zu sein ist ein Kampf. Und diesen Kampf gewinnt man nicht jeden Tag. Auch als Kirchenvorsitzende nicht. Umso beeindruckender wäre es, wenn Käßmann sich nach dieser Niederlage erheben würde, um weiterhin mit gewohnter Vehemenz aber hinzugewonnener Menschlichkeit für das Gute und Richtige einzutreten.

Pro Elektronikzölibat

Noch bis übermorgen präsentieren die strahlenden Heiligen unserer modernen Elektronik-Religion die neuesten Götzen auf dem Hightech-Kirchentag CES, der Consumer Electronics-Show in Las Vegas. Und während die einschlägigen Blogs  im 10-Minuten-Takt neue Gadget-Evangelien liefern, bei deren Lektüre mir der Sabber aus dem Mund läuft, kam mir heute eine Greenpeace-Pressemitteilung unter die Augen die mir den ganzen Spaß verdorben hat. Als hätte einer das Fenster meiner WLAN-Weihrauch-geschwängerten Kemenate aufgerissen, damit die frostig-frische Luft meine Sinne wieder klärt. Hat funktioniert.

Es geht um den Greenpeace Guide to Greener Electronics, den die Umweltschützer vierteljährlich aktualisieren, um dem verführten Konsumenten einen kleinen ökologischen Reiseführer für seine nächste Tour durch den Mediamarkt an die Hand zu geben, dessen Empfehlungen sich danach richten, wie stark sich die einzelnen Firmen für den Umweltschutz engagieren, ob sie die Verwendung giftiger Substanzen vermeiden und wie energieeffizient sie produzieren. Diesmal sieht er so aus:

Wer jetzt “Oberflächlicher Bunte-Bildchen-Populismus!” rufen will halte ein. Freilich liefert Greenpeace detailliertere Angaben darüber, wie es zu den einzelnen Bewertungen gekommen ist, und gibt auch bekannt wer die größten Gewinner und Verlier der Öko-Hitparade sind.

Auf der CES selbst wird das Thema weitestgehend vermieden. Obwohl auch hier das eine oder andere grün-angemalte Elektronikspielzeug präsentiert wird, bleibt die Suche nach dem solarbetriebenen Killerrechner erfolglos. Kein Wunder.

Denn selbst wenn Sony-Ericsson, Samsung oder LG mit vermeintlichen Ökohandys um die Gunst der Öko-Aktivisten buhlen, haben diese freilich längst kapiert, dass es am besten für die Umwelt ist sich gar kein neues Handy zu kaufen. (Zumal das alte trotz grober Misshandlung einfach nicht kaputt gehen will, sowie bei mir.)

Denn auch das grünste Handy ist eines Tages Elektroschrott, und nur selten liegt dieser Tag länger als zwei Jahre in der Zukunft. Elektroschrott könnte man freilich umweltschonend recyceln. Billiger aber ist es, ihn in Länder der immer noch so genannten Dritten Welt zu verschiffen, zum Beispiel nach Ghana. Die Geräte die noch funktionieren werden verkauft, der Rest auf Deponien unter freiem Himmel geschmissen, wo – gar nichts mit ihm passiert, so dass die in vielen Geräten enthaltenen Schwermetalle und Gifte nach und nach ausgewaschen werden und den Boden dauerhaft verseuchen.

Wenn Elektronikmärkte die Kirchen von heute sind, dann bin ich für Katholizismus. Der predigt ja Enthaltsamkeit für alle seine Priester. Nicht, dass ich jemals ernsthaft ans Zölibat geglaubt hätte. Es ist das Wesen von Idealen, unerreichbar zu sein. Hauptsache, die Richtung stimmt.

Aktion Kinder in Gefahr

Anfangs war ich der festen Überzeugung, es mit einer kongenialen Satire zu tun zu haben. Und ein Teil von mir glaubt das offen gestanden immer noch.

Denn es stimmt einfach alles: Ein Mann mittleren Alters mit messerscharfem Scheitel, altmodischer Brille, schlecht sitzendem Schlips, dem Gesichtsausdruck desjenigen, der in Sportstunden nicht mal als letzter in die Fußballmannschaft gewählt wurde  und einer Rhetorik, die einem Logopäden über mehrere Jahre hinweg ein sicheres Auskommen garantieren würde, werden vor einem Potpourri überquellender Postkisten in einem Büroraum, in dem 1987 die Zeit stehen geblieben ist Sätze verlesen, wie der folgende.

“Wir dürfen nicht zu lassen, dass die Linken eine Stasi im Kopf gegen Christen errichten.”

Schön, oder? Eine Stasi im Kopf. Klingt doch, als hätte sich das jemand an einem sehr geselligen Abend mit der einen Hand auf einen Bierdeckel gekritzelt, während er sich mit der anderen den Bauch hielt. Offenbar war es aber nicht so. Und wie sich nach kurzer Recherche herausstellt, ist dieser schrullige Typ keine grimmepreisverdächtige Parodie sondern bittere, sehr bittere Realität. Die mit bürgerlichem Namen Mathias von Gersdorff heißt.  Kostprobe? Bitte sehr:

 

Schon 8873 Unterschriften für Petition gegen Homo-Adoption

 

Mathias von Gersdorff ist Mitglied der Deutschen Vereinigung für eine Christliche Kultur (DVCK) e.V., einem Verein der sich “der sich u.a. für die Förderung der abendländischen christlichen Kultur basierend auf den grundlegenden Prinzipien des christlichen Glaubens, und insbesondere für den Schutz von christlichen Werten einsetzt.” Sagt jedenfalls die Webseite.

Meiner persönlichen Meinung nach hat Mathias von Gersdorff panische Angst vor “Omosexellen” – wie er gleichgeschlechtlich Liebende nennt – und ist der festen Überzeugung, dass sie Ursache allen Übels wenigstens auf diesem Planeten, wenn nicht gar im Universum insgesamt sind.

Nicht umsonst hat sein Verein die Aktion Kinder in Gefahr ins Leben gerufen der er vorsitzt, und auf deren YouTube-Kanal selbst Hartgesottene das Fürchten lernen können.

Ich gebe unumwunden zu, dass die Vermeidung hochgradig beleidigender Schimpfwörter und Flüche ein überaus hartes Selbstbeherrschungstraining für mich darstellt, wenn Herr Hofschulte die “Eindämmung der Einflüsse der Homo-Lobby” mit der Gefährdung von Kindern zusammenbringt. Das liegt daran, dass ich mich dadurch an eine Zeit erinnert fühle, in der zwischen Pädophilie und Homosexualität noch nicht unterschieden wurde, und in der homosexuelle Gedanken oder Sehnsüchte noch als Königsdisziplin des Teufelswerks galten. Selbst nach eingehender Auseinandersetzung kann ich mich aber nicht des Eindruckes erwehren, dass Herr Hofschulte noch genau in dieser Zeit lebt. Möglicherweise befand er sich just in dem Moment in dieser ominösen Poststelle, als dort die Uhren aufhörten zu ticken.

Als Beweis für das bravouröse Absolvieren meiner Selbsbeherrschungs-Herausforderung erlaube ich mir das E-Mail zu veröffentlichen, dass ich Herrn Hofschulte heute schrieb:

Sehr geehrter Herr von Gersdorff,

in Ihren Videos sprechen Sie von „den Homosexuellen und deren Lobby”, nie aber vom einzelnen gleichgeschlechtlich Liebenden. Mir scheint, als hätten Sie sich mit diesem nie persönlich auseinandergesetzt.

Gern möchte ich Sie daher auf eine Tasse Kaffee einladen um Ihnen bereitwillig Auskunft über den oft harten Weg zum Coming Out zu geben und auch über die sehr alltägliche gesellschaftliche Repressionen danach.

Falls Sie sich vor einer solchen Begegnung aber fürchten wovon ich offen gestanden ausgehe empfehle ich Ihnen, sich mit einem beliebigen wissenschaftlichen Text zum Thema zu konfrontieren. Sie werden hier lernen, dass Homosexualität im von Perversion und Verderbtheit freien Tierreich ebenso häufig vorkommt, wie beim Menschen. Vielleicht kann Ihnen das die Augen für den Fakt öffnen, dass Homosexualität keine persönliche Entscheidung sondern eine Spielart der Natur ist.

Sobald mir eine Antwort zugehen sollte, landet sie selbstverständlich hier.

Mich ärgert sehr, dass es in dieser Angelegenheit so schwierig ist sachlich zu bleiben, wie die zahlreichen Kommentare unter den Videos bei YouTube.  Herr von Gersdorff gibt sich dabei große Mühe und weicht sicherheitshalber keinen Millimeter von seine vorgefertigten Reden ab.  In seinem neuesten Video führt er aus, dass wir es mittlerweile keineswegs mehr mit einer Diskriminierung von Homosexuellen zu tun haben, sondern im Gegenteil mit einer Religionsverfolgung. Homosexuelle seien mittlerweise quasi nicht mehr kritisierbar, ohne sich dem Vorwurf der Intoleranz oder gar Diskriminierung auszusetzen. Dies widerspreche den Grundsätzen der freien Meinungsäußerung, die ja auch ihm als konservativem Christen erlaubt sein muss.

Ich würde mich gern argumentativ mit diesem Einwand auseinandersetzen. Aber ich kann nicht, weil sich meine Hände beim Tippen zu Fäusten ballen. Vielleicht morgen. Nachdem ich zwei Stunden über Rosa Luxemburg meditiert habe: Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden.

Zum Schießen: Peace, Brüder!

Im Grunde kann ich das ja nachvollziehen. Fast jeder Homosexuelle hat das in seinen jungen Jahren erlebt und wer es nicht erlebt hat oder vergessen oder verdrängt hat kann sich bei Timm daran erinnern lassen, wann immer den ansonsten ja sehr ambitionierten Damen und Herren dort das Material für ihr schwullesbisches Vollprogramm ausgeht:

CSD-Paraden sind oft erschreckend. Erschreckend besoffen, erschreckend prollig, nackt, unpolitisch und kommerzialisiert. Und wenn ich morgens zum Wachwerden den Fernseher einschalte, und mir als erstes bildschirmfüllend der entblößte Popo eines Lederdaddies präsentiert wird, der aussieht, als würde er „im echten Leben“ als Sachbearbeiter im Controlling eines Lebensversicherungskonzernes sitzen und nur heute, für den CSD und die Kamera mal richtig die Sau rauslassen, weiß ich, das wird ein stressiger Tag, dessen erste Herausforderung das sofortige Auffinden der Fernbedienung darstellt.

Ich bin doch selbst jahrelang mitgelaufen – also getaumelt. Richtige Tourneen hab ich gemacht: Berlin, Köln, Leipzig, Düsseldorf und Dresden in einem Sommer. Bis mir irgendwann in einer nüchternen Minute aufgefallen ist, dass das alles keine Demonstrationen mehr sind, sondern Straßenfeste, Kontaktbörsen und Freiluftdiskotheken. Bis mir schlagartig klar wurde, dass man die Diskriminierung von Homosexuellen, die ja nach wie vor stattfindet, dort nicht bekämpfen kann.

Nur, damit ich nicht falsch verstanden werde: Ich bin sehr für Spaß. Ich finde, Spaß muss unbedingt sein! Und bin damit – Achtung: geschickte Überleitung! – ganz und gar auf einer Linie mit den skurrilen Ulknudeln der Piusbrudergemeinschaft, die ja immer mal wieder für einen wirklich geistreichen Kracherlacher sorgen und so freundlich sind, zwei unbedingt sehenswerte Kostproben ihres Humorverständnisses auf Ihrer Internetseite zum Besten zu geben, auf die mich mein lieber Freund Zaubererbruder hinwies:

1. Ein Sketch voll schreiender Situationskomik hier. Und
2. Ein satirisch-kabarettistischer Textbeitrag, der so genial geschrieben ist, dass ich ihn für eine Sekunde tatsächlich ernst genommen habe hier.

Junge, Junge, dass auch Herr Adenauer so eine schenkelklopferballernde Stimmungskanone war, wusste ich nicht. Ich hatte den bisher für bierernst und sterbenslangweilig seriös gehalten. Respekt!

Homoparty in Jerusalem

Da könnte ich mich doch glatt in meinen knackigen, entblößten Arsch beißen, dass ich es jetzt nicht mehr schaffen werde, beim diesjährigen CSD in Stuttgart mitzugrölen, weil selbiger in diesen Minuten bereits in vollem Gange ist. Andererseits habe ich gerade eruiert, dass die Organisatoren offenbar in ihrer Hysterie verschwitzt haben, die Homebase der Piusbrüder als wichtige Station in ihrer Parade aufzunehmen. Wenn mich einer fragt, ist das augenblicklich die beste Homopartylocation dieses Landes! Politisch, schockierend und richtig, richtig eng.

Der Chauffeur

Es ist wahrhaft ein feiner Zug des Lebens, eine freundliche Geste, ein nützlicher Dienst. Weil unsere Sprache aber hier hapert, neigen wir dazu keinen Gebrauch davon zu machen und uns hier anzustrengen statt auszuruhen.

Wir meinen, im Urlaub oder am Wochenende oder in der Frühstückspause zu uns kommen zu müssen, dabei ist es viel einfacher: wir werden gebracht.

Ich sitze keine 10 Minuten in diesem Stuhl und muss nicht in mich gehen: es zieht mich dahin.

Es stimmt: Eingangs ist es nicht viel mehr als watteweiche Weltschmerz-Sentimentalität, in die ich mich fallen lasse, aber weich ist gut, dann fürchtet man sich nicht vor der Tiefe.

Man muss sich bekannt machen mit ihr, sie kennen und schätzen lernen, denn ihr zu vertrauen bedeutet, das Richtige zu tun.

Ich höre keine innere Stimme, lese keine Wahrheiten in Karten- oder Sternbildern und brauche keinen Reiseführer zum inneren Schamanen in 14 Tagen.

Es ist viel einfacher. Ich sitze hier und lass mich fallen. Ich lese kein Buch, keine Zeitschrift, keine e-Mail. Ich lass den Fernseher aus und das Radio und meinen MP3-Player. Ich verabrede mich nicht und stell das Telefon lautlos. Und ich glaube dem irritierenden Eindruck, dass das was ich erlebe alles andere als Stille ist.

Es ist so einfach: Ich sitze hier und tue nichts. Genau das Richtige.

be water 2

Naja, so richtig erklären kann ich das immer noch nicht. Das heißt, ich trau mich nicht. Und natürlich habe ich meinen Rechner nur angeschaltet, um es doch zu tun. Um mich doch zu trauen. Also gut.

Buddhismus sagt, wir sind alle Teil einer großen Weltseele, und Nirvana bedeutet zu dieser Weltseele zurückzukehren. Wieder mit ihr zu verschmelzen. Wie ein Wassertropfen, der von der Flut an den Strand geschwemmt wurde, und bei der nächsten Woge vom Ozean heim geholt wird. Und während unseres Strandaufenthaltes, den 70 oder 80 Jahren Orientierungslosigkeit also, bleiben wir doch immer verbunden mit unserem Ozean. Wir bestehen letztlich aus Ozean. Wir beinhalten alle seine Bestandteile. Wir haben Erinnerung an ihn. Wir sind ein Ozean im kleinen. Wenn es uns nun gelänge, diese Erinnerung zu beleben, uns darauf zu besinnen, dass wir als Wassertropfen eben nicht dazu verdammt sind im Sande zu versickern oder in der Sonne zu verdunsten, wenn es uns nun gelänge, ebenso zu fließen, wie der Ozean fließt, und nicht im Sande versickert und nicht in der Sonne verdunstet, wenn wir diese Erinnerung erwecken könnten, wären wir geheilt.

Wir müssen fließen lernen. Wir müssen begreifen, dass wir Hindernisse und Probleme, dass wir Sandkörner umfließen oder in uns aufnehmen können. Wir müssen begreifen, dass wir an der Feuchtigkeit anderer Tropfen wachsen können, und das wir von unserer Feuchtigkeit abgeben müssen, wenn wir fließen wollen. Es macht keinen Sinn, sich auf seine Hülle zu konzentrieren, und darauf zu achten alle seine Moleküle beieinander zu halten. Das macht uns klein und schwach und träge. Es gibt keine Stabilität. Es kann keine Planung gebebn, weil der Sand nicht stabil ist, auf dem wir liegen. Weil der Wind sein Spiel mit ihm treibt. Und es gibt keine Vergangenheit, weil wir keine Spuren hinterlassen im Sand, weil der Wind sein Spiel mit ihm treibt. Wir aber müssen fließen. Wie alles fließt. Und unsere Richtung ist immer klar: zurück zum Meer.