Krieg in der Ukraine: Die Peinlichkeit meiner Stadtpark-Idylle

Das Wetter ist kalt, aber sonnig. Auf meiner Morgenrunde zeigt sich der Park in vertrauter, aber deswegen nicht weniger beeindruckender Magie. Das Laub auf dem Boden ist mit dornigem Reif überzogen, das Sonnenlicht bricht in grellem Orange in die Dunkelheit. Ich zögere, die sich mir bietende Schönheit zu fotografieren. Das Wissen, dass weniger als 1.000 Kilometer entfernt Krieg herrscht, verbietet sie. Nur in meinem Kopf. Die Kaninchen, die sich in den ersten Sonnenstrahlen zu wärmen versuchen, der Buntspecht, der sich in der Rinde der Linde sein Frühstück erhämmert und die beiden in völligem Frieden am Ufer sitzenden Fischreiher ahnen davon nichts. Und würden sie, würde es sie kümmern?

Mich kümmert es. Die Videos die zeigen, wie Flammen in mittig abgerissenen Wohnzimmern lodern; wie in einem Wohnblock eine riesige Lücke klafft, als sei eine stählerne Boule-Kugel in ein Stück Sahnetorte gekracht; wie Männer am Bahnsteig in Tränen aufgelöst ihre Töchter zu ihren Frauen in den Zug landauswärts heben, gehen mir nicht aus dem Kopf. Es ist Krieg in Europa, aber das Wort Krieg bezeichnet nicht das Grauen, das sich zuträgt, einbrennt und nie wieder ungeschehen sein wird.

Ein Mann, denke ich, ein einzelner Mann verantwortet das. Wäre er vernünftiger, zivilisierter, heiler – würde nichts davon passieren. Ob das stimmen kann, frage ich mich, ob nicht jeder einzelne General mit seinen Befehlen, jeder einzelne Truppenführer mit seinem Dawai, Dawai, jeder einzelne Soldat mit seinem Finger am Abzug ebenso Verantwortung trägt. Jeder, der jemanden erschießt, verantwortet einen Mord. Und diese Verantwortung ist nicht delegierbar, diese Schuld ist nicht projizierbar; keine Ausrede wird sie jemals halten, schon gar nicht vor dem eigenen Gewissen. Wie sich darauf einlassen, habe ich an Soldatenschaft nie verstanden. Es kann nur funktionieren, wenn man den Gegner entmenschlicht und als Bestie betrachtet. Aber wie, im Moment des Todes, mit der Angst und dem Flehen im Auge des anderen? Wie, mit dem Gegner im Fadenkreuz, der nicht ahnt, dass er fallen wird, wenn mein Finger am Abzug zuckt?

Ob nicht auch die Nato Verantwortung trägt, weil sie sich ausgedehnt hat, frage ich mich, ob nicht auch Merkel Verantwortung trägt, weil sie verhindert hat, dass die Ukraine in die Nato aufgenommen wird, ob man Putin nicht auch irgendwie verstehen muss. Einen Scheiß muss man. Vor allem stoppen, muss man ihn. Egal, was stimmt, egal wer recht hat – er nicht. Und ja, es ist Wut, vielleicht Hass auf einer ganz persönlichen Ebene, den ich empfinde. Ich kenne mich nicht so aus mit Hass. Ich weiß, was für ein Privileg das ist.

Ich fantasiere über einen Stauffenberg unserer Zeit, einen Hitman, einen Agenten, der diesem Irrsinn ein Ende macht. Ob das nicht ebenso ein Verbrechen wäre, fragt mich mein kultivierter Anteil, und ob Auge um Auge und Zahn um Zahn jemals funktioniert hätte. Um Vergeltung zu erzeugen noch immer, um Frieden zu schaffen noch nie, gestehe ich mir ein. Selbstverständlich komme ich in in der Einsamkeit meiner Morgenrunde einmal in diesen Gedankenstrudel gestolpert nicht umhin, mich zynisch zu belächeln für meine Naivität in Sachen Krieg.

Hitmen gibt es nur in Computerspielen; allwissende Geheimdienste nur auf Netflix und Hacker, die mit drei Zeilen Code Kraftwerke herunterfahren nur in ZDF Vorabendserien; in Sachen IT ähnlich ahnungslos, wie ich in Sachen Krieg.

Aber Helden gibt es, gib es zu!, höre ich mich denken. Wolodimir Selenskij, höre ich mich denken. Und bevor ich mich für ja oder nein entscheiden kann, schießt mir durch den Kopf, wie verrückt das alles ist. Ich vermeide “das alles” in Texten, weil alles zu meinen sehr nahe an nichts zu meinen ist, aber hier stimmt es: Es ist “das alles”, das verrück ist.

Ich erinnere mich an einen Beitrag im Weltspiegel, der davon berichtete, dass ein Böhmermann-ähnlicher Schauspieler und Komiker allen Ernstes zur Präsidentschaftswahl in der Ukraine antreten würde, und dass man sich gar nicht so sicher sein könnte, ob das tatsächlich “allen Ernstes” sei. Und dass die erfolgreichste Rolle dieses Schauspielers die eines Lehrers ist, der durch die Verkettung unwahrscheinlicher Zufälle Präsidentschaftskandidat wird und später – gegen alle Wetten – tatsächlich Präsident. Und dass dieser Schauspieler später in der wirklichen Wirklichkeit Präsident wird. Und jetzt Held, in seinen ebenso authentischen wie inszenierten Auftritten im olivfarbenen Uniform-T-Shirt.

Ich erinnere mich an die ersten Berichte über Putins Truppenverlegung ins russisch-ukrainische Grenzgebiet und an die Überheblichkeit meines Denkens – vor nicht einmal zwei Wochen. Das wird er doch nicht machen, dachte ich. So dumm kann er nicht sein, dachte ich. Einen Krieg kann doch niemand wollen, das wäre doch Wahnsinn, das würden sich doch weder die Amerikaner bieten lassen, noch die Franzosen, noch wir, die Deutschen. Ich erinnere mich an die Bilder von Putin und Personen an seinem kafkaesk langen Marmortisch und wie ich bei mir dachte, dass damit ein Grad von symbolisierter Lächerlichkeit erreicht ist, der unparodierbar ist für Kunst oder Kabarett, in seiner wirklichen Wirklichkeit schon so dermaßen drüber.

Mir ist rückblickend peinlich, dass ich mir einen Einmarsch auch dann noch nicht vorstellen konnte, als Putin in drittklassiger Agenten-Film-Manier auf den fingierten Hilferuf der durch ihn finanzierten Separatisten mit übertrieben staatstragend inszenierter Anerkennung irgendwelcher fantasierten Republiken reagierte, nur damit diese erfundenen Republiken ihn und seine Truppen dann theatralisch um Hilfe in der Auseinandersetzung mit imaginierten ukrainischen Besatzern bitten konnten.

Mir ist unendlich peinlich, wie ahnungslos und träge ich geworden bin in meiner luxuriösen, westlichen Sicherheit; in einer überfressenen Sattheit, in der niemals irgendetwas Unvorhergesehenes passiert, erst recht nichts Gefährliches. Wie ich Frieden und politische Vernunft als gegeben genommen habe. Diese Denkfaulheit ist geradeheraus dumm! Wie könnte ich hier gnädiger mit mir sein, nachdem Trump passiert ist, während Höcke passiert und Bolsonaro. Ich schäme mich dafür, wie ich jetzt, nachdem der Krieg losgebrochen ist immer noch ungläubig und ratlos durch die surreale Idylle meines westberliner Stadparks stolpere.

Ich zwinge mich, konkret zu werden: Wie kann ich helfen? Was kann ich tun? Geld spenden, klar. Demonstrieren gehen, sicher. Kleidung und Hygieneartikel zur Berliner Stadtmission bringen, wie immer. Aber dringender, als unumkehrbar geschehenes Leid zu mildern, will ich ungeschehenes Leid verhindern helfen. Nur wie?

Ich musste noch zur Armee damals; die silberne Schützenschnur, die ich mir für Präzision am Maschinengewehr verdient habe, ist eine meiner beliebtesten Partyanekdoten. Aber doch bitte keine Option! Ich finde es ungeheuerlich, dass ukrainische Männer an der Ausreise gehindert werden, und man ihnen so nicht die Wahl lässt, ob sie vielleicht lieber feige Deserteure in den Augen todesmutiger Kämpfer sein wollen – als tot. Ich kann mir nicht vorstellen, für ein Land mein Leben zu riskieren, auch nicht für meins, auch nicht, obwohl ich mich vor dem Wort “Heimat” nicht fürche und vieles, für das sie steht aus vollem Herzen liebe. Mein Leben und den dumpfen Schlag meines Herzens liebe ich mehr. Und ich bin mir dessen so sicher, dass es mich nicht weniger interessieren könnte, was irgendwer dazu denkt oder sagt.

Will ich aber, dass andere in den Krieg ziehen, um die Ukraine zu verteidigen und ihre so mutige, clevere, listige, vor allem aber mutige Bevölkerung? Will ich, dass die Nato eintritt in diesen Krieg, und die stapazierte Erzählung eines dritten Weltkrieges von “eben noch unvorstellbar” auf “jetzt plötzlich Wirklichkeit” wechselt? Natürlich nicht, denke ich, was für eine Frage soll das sein? Eine durchaus legitime, wie ich feststelle, als ich mir die Alternativen ansehe. Die Ukraine hergeben? Sie opfern, samt ihrer so mutigen Bevölkerung? Hinnehmen, dass das Hirngespinst eines verletzten Mannes, der sein Ego nicht unter Kontrolle hat geopolitische, für 4 Millionen Ukrainer*innen aber vor allem ganz persönliche Wirklichkeit wird? Und dann aufrüsten, damit sich dergleichen wenigstens nicht wiederholt? Ich bin kein Politiker, ich muss das nicht entscheiden, denke ich. Das stimmt. Aber es macht mich nicht frei.

Ich mache ein Foto. Eines, dass für mich Belastung aber Hoffnung ausdrückt. Ob das alles ist, was ich tun kann? Was ich tun sollte? Ich weiß es nicht. Ich erfahre es gerade.

Volkspark Jungfernheide

Surreal normal

Ich wache auf; die Birke und die Sonne sind schon mitten im Schattenspiel, der Position des Schattenspiels auf dem Kleiderschrank nach zu urteilen, ist es ungefähr 8. Mir fällt ein, das Sonntag ist: yay, denke ich, bleibe liegen und tue nichts. Ich lasse mich in meine Gedanken fallen; vorsichtig anfangs, dann mutiger und stelle nach 10, 12 Gedanken zufrieden fest: alles normal. Mir sind diese Momente kostbar geworden. Wann immer ich einen Moment normal erwische, bleibe ich so lange es geht.

Als der Moment vorbei ist, greife ich mein Tablet, öffne die Berliner Zeitung und lese diesen Artikel:

Gegen Corona: Polizei löst Querfront-Demo in Berlin auf

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Bäume pflanzen beim Bahnfahren

Nachdem ich mit mehr als 30 Hin- und Rückflügen im letzten Jahr eine fast so katastrophale Ökobilanz wie ein tüddeliges Kreuzfahrtschiff hatte, versuche ich dieses Jahr, alles wieder gut zu machen. Ich fahre Bahn. Viel. Eigentlich nur. Ich habe mir eine BahnCard 100 gekauft und nachdem alle kurz “Boah, die ist aber teuer!” gerufen haben, will ich kurz erklären, warum das nicht stimmt. Bäume pflanzen beim Bahnfahren weiterlesen

10 Sätze zum Brexit

Nach dem überraschenden Ausgang des Volksentscheids in Großbritannien werden die EU-Institutionen jetzt auf zügige Austrittsverhandlungen drängen, um allen, die ebenfalls über ein EU-Referendum nachdenken möglichst theatralisch vorzuführen, wie fürchterlich schmerzhaft so ein Austritt ist – vor allem für denjenigen, der austritt. Trotz allen Zähnefletschens, wird es wahrscheinlich aber gar nicht so schlimm, denn einerseits wird der Ausstieg Jahre dauern (ungefähr vier schätze ich), und andererseits hat die EU – insbesondere Deutschland – selbst enormes wirtschaftliches Interesse daran, dass Großbritannien Teil des Binnenmarktes bleibt, bspw. um Zölle und unterschiedliche Verbraucherstandards zu umgehen. Ich wette, dass man in Sachen Freizügigkeit, Passpflicht und Außenhandel lieber weiterhin europäische Extrawürste fürs Vereinigte Königreich brät – unterm Strich zum Wohle aller. 10 Sätze zum Brexit weiterlesen

Kurz sortiert: Die Griechenland-Krise

Ich habe es bisher vermieden zur Griechenland-Krise zu bloggen, weil ich dachte, ich verstünde nicht genug von Volkswirtschaft um mich qualifiziert zu äußern. Nachdem was ich andernorts in zeigefingergroßen Lettern lesen muss, scheint mir das jedoch falsche Bescheidenheit gewesen zu sein. Die mit den Lettern können mit 10 Fingern tippen, ich bin wenigstens Bankkaufmann. Einen Masterplan zur Lösung habe ich auch nicht (Ich weiß. Jetzt sind alle enttäuscht.), aber vielleicht hilft es einzusehen, dass wir es nicht mit einem, sondern mindestens mit vier Problemen zu tun haben, die separater Lösungen bedürfen.

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Bahnstreik: Von wegen Solidarität

Als Betroffener lese ich viele Artikel zum Streik der Lokführer und in den allermeisten wird zur Solidarität aufgerufen. Ich muss leider gestehen, dass ich immer noch nicht begriffen habe, was diese Solidarität sein soll.

Den Streik gut finden? Von mir aus, aber was würde mein bisschen Meinung ändern? Selbst nicht zur Arbeit gehen, bis die Forderungen der Lokführer ohne Abstriche erfüllt sind? Meine Chefin runzelt die Stirn. Oder ist mit Solidarität am Ende nur die Lust gemeint “das System” mal stolpern zu sehen und sich daran zu freuen, dass “der kleine Mann” doch noch etwas Macht hat? Ich finde das ehrlich albern. Ich finde das auch ein bisschen dumm. Bahnstreik: Von wegen Solidarität weiterlesen

Lese-Empfehlung: Tschick

@borednoww fragt nach meinem aktuellen Lieblingsbuch und gibt mir damit endlich einen Grund, doch noch eine persönliche Empfehlung für einen Roman auszusprechen, der bei seinem Erscheinen vor zwei Jahren schon überall empfohlen wurde: Wolfgang Herrndorfs “Tschick”.

Das Setting ist auf den ersten Blick wenig ansprechend für Menschen jenseits der Pubertät: Zwei Achtklässler knacken in den Sommerferien ein Auto und kurven damit orientierungslos durch Brandenburg. Dabei erleben sie allerlei Abenteuer, treffen auf schrulligste Figuren, werden dicke Freunde usw. usf.  Lese-Empfehlung: Tschick weiterlesen

Gehabt, nun gut. Mein Verhältnis zu den Dingen.

Ab morgen werde ich versuchen, jeden Tag einen Gegenstand wegzugeben. Ich werde diesen Gegenstand vorher fotografieren und ihm ein paar Zeilen widmen. Wer möchte, kann das auf gehabtnungut.tumblr.com mitverfolgen.

Oder ausführlicher: Das Verhältnis zwischen den Dingen und mir ist schwierig. Ich habe ziemlich jung ziemlich viel geerbt. Kein Geld zwar, aber Besitz. Nein, keine Ländereien, keine Immobilien, sondern einen Hausstand. Geschirr, Geschirrhandtücher, Handtücher, Tücher, Tischwäsche, Bettwäsche, Vasen, Sektgläser, Weingläser, Schnapsgläser, Biergläser, Saftgläser Gehabt, nun gut. Mein Verhältnis zu den Dingen. weiterlesen

Das große Oxfam-Trailwalker-Alphabet: F – J

F wie Frühstücksfrechheit
Um das Frühstück würde ich mich beim nächsten Mal selber kümmern. Das von Oxfam war eine Enttäuschung. Lieblos in Plastiktüten auf die Buffet-Tische geschmissen, gab es Brot, zwei Sorten Wurst, eine Sorte Käse sowie fettfreien Joghurt vom Discounter. Und Butter natürlich. Im praktischen 250g-Stück mit nur einem Schmiermesser am Buffet. So war man gezwungen, sich die Brote direkt an der Tafel zu schmieren, was für lange Schlangen sorgte. Ein veganes Angebot gab es nicht. Kein Obst, keine Marmelade, keine Margarine. Das Brot war wirklich lecker, aber Brot gibt es bei den 4 Bäckern auf dem Weg von der Stadthalle zum Start sicher auch. Und vielleicht sogar ein Lächeln dazu. Das große Oxfam-Trailwalker-Alphabet: F – J weiterlesen

Das große Oxfam-Trailwalker-Alphabet: A – E

Weil ich einerseits geradezu übersprudele vor Eindrücken, andererseits aber niemandem einen 4.200-Wörter-Blogpost zumuten will, habe ich eine Miniserie über meine Erfahrungen gebastelt: Das große Oxfam-Trailwalker-Alphabet. Ab heute, bis Samstag jeden Tag um 12. Wer diesen Blog danach immer noch liest, muss mich wirklich mögen. Und bitte:
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