Klimakiller Fleisch

Im letzten Blog-Beitrag hatte ich behauptet, jedes Schulkind kenne die Maßnahmen, die getroffen werden müssten, um den Klimawandel zu begrenzen. Heute habe ich selbst eine neue kennengelernt.

In der öffentlichen Diskussion der Klimawechsel-Argumente wird sie vergessen, sogar Al Gore scheint diese Wahrheit zu unbequem zu sein:

Gut 18% aller klimaschädlichen Gase werden durch den Verzehr von Fleisch verursacht.

Herr Gore verschweigt das vielleicht, weil er selbst jahrelang Vieh gehalten hat. Das aber ändert nichts an der bitteren Wahrheit: Schnitzel, Thüringer Rostbratwurst und Co. tragen mehr zur globalen Erwärmung bei als alle Autos, Flugzeuge und Schiffe dieser Erde zusammen. Die nämlich, schlagen nur mit 13% zu Buche. Das klingt wie eine Ausgeburt der blühenden Fantasie ideologisch verbrämter Klimaaktivisten, ist aber das Ergebnis einer durchaus seriösen Studie, der zur UN gehörenden Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO.

Der weltweite Fleischkonsum steigt stetig an. Während 1950 die 2,3 Mrd. auf der Erde lebenden Menschen rund 45 Mrd. Kilogramm Fleisch verspeisten, konsumierte die 6 Mrd. starke Menschheit im Jahr 2000 bereits 245 Mrd. Kilo  – also mehr als das fünffache. Glaubt man den Prognosen, werden im Jahr 2050 rund 9 Mrd. Menschen 450 Kilo Fleisch verzehren – denn mit der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit eines Landes, wächst der Lebensstandard der Bevölkerung. Und mit diesem offenbar die Lust auf Steak.

Ein Problem daran ist, dass man zur Produktion von einem Kilo Fleisch ungefähr zehnmal soviel Platz braucht, wie zur Produktion eines Kilos Getreide. Dementsprechend beanspruchen beispielsweise die Niederlande schon heute das Vierfache ihrer Fläche zur Deckung des nationalen Fleischbedarfes. Wo? Zum Beispiel dort, wo früher Regenwald war und heute Sojabohnen wachsen, die zu Viehfutter verarbeitet werden. In Brasilien beispielsweise, hat sich die Fläche zum Anbau von Sojabohnen im Vergleich zu 1960 versiebenundfünfzigfacht – hauptsächlich durch die Rodung von Regenwaldflächen im fruchtbaren Amazonasdelta, das noch immer einen unserer wichtigsten Kohlendioxidspeicher und Sauerstoffproduzenten darstellt. Dieser enorme Platzbedarf begründet sich dadurch, dass man einem Tier durchschnittlich 7 Kilo Soja füttern muss, um ein Kilo Fleisch daraus gewinnen zu können.

Wenn man sich dann noch vor Augen führt, dass knapp die Hälfte der weltweit geernten Getreides nicht etwa von Menschen sondern von Tieren verspeist wird, hat man vielleicht eine zündende Idee, wie zumindest einigen der einer Milliarde hungernden Menschen auf diesem Planeten geholfen werden könnte.

Hauptursache der erschütternden Umweltbilanz des Lebensmittels Fleisch ist aber das im Verdauungstrakt von Rindern und Schafen entstehende Treibhausgas Methan, von dem eine gewöhnliche Milchkuh 500 bis 700 Liter pro Tag (!) ausstößt. Um mit einem Kleinwagen einen vergleichbaren Schaden anzurichten, müsste man anderthalb Mal um die Erde tuckern.

Hinzu kommen die beim Transport des Viehfutters anfallenden Emissionen, jene für Beleuchtung, Betrieb und Heizung der Fleischfabriken und solche für die Verpackung und den Transport des Fleischs.

Würden sich also alle Amerikaner eine Woche lang vegetarisch ernähren, wäre der anschließende Betrieb aller in den USA zugelassenen Autos im darauffolgenden Jahr klimaneutral.

Diese und andere Zahlenspiele präsentiert das folgende Video sehr unterhaltsam:

Es heißt “Meat the Truth” und wurde von der niederländischen Nicolaas G. Pierson Foundation finanziert. Auf deren Seite finden sich umfangreiche Quellenangaben, die unter anderem belegen, dass ein durchschnittlicher Europäer im Laufe seines Lebens:

  • 7 Schafe
  • 24 Kaninchen
  • 43 Puten
  • 789 Fische
  • 1/3 Pferd
  • 5 Rinder
  • 42 Schweine und
  • 900 Hühner isst.
  • Das dass zu viele sind, wird immer mehr Menschen klar. Aber obwohl sich der Anteil an Vegetariern innerhalb der deutschen Bevölkerung in den letzten zehn Jahren verdoppelt hat, liegt er immer noch unter einem Prozent.

    Das könnte sich jetzt ändern. Weltweit sprießen Initiativen wie Pilze aus dem Boden, die den Verzicht auf Fleisch propagieren. Im belgischen Gent beispielsweise gibt es in allen öffentlichen Kantinen aber zahlreichen privaten Restaurants donnerstags ausschließlich vegetarische Küche. Die ParoleDonderdag Veggiedag” zog Journalisten aus aller Welt an, die die Idee populär machten. Seit Oktober gibt es in der brasilianischen 10-Millionen-Metropole São Paulo den “segunda sem carn”, den Dienstag ohne Fleisch also, Paul McCartney propagiert den “meat-free monday” und auch das sachsen-anhaltinische Magdeburg arbeitet an einem Vegi-Tag.

    Es könnte ein Anfang sein.

    Warum der gescheiterte Klimagipfel auch ein erfolg ist

    Der Klimagipfel in Kopenhagen hat es sehr deutlich veranschaulicht: Nicht die Politiker können den Klimawandel begrenzen sondern – wenn überhaupt – nur die Menschen. Von ihnen aber jeder Einzelne.

    Das Kompromiss-Papier, auf dessen Unterzeichnung sich einige wenige Teilnehmerländer einigten, ist nicht mehr als ein Feigenblatt zur Kaschierung offensichtlich unvereinbarer Interessenskonflikte. Es schreibt lediglich fest, dass versucht werden soll, die globale Erwärmung in diesem Jahrhundert  im Rahmen von maximal 2°C zu halten. Wer dieses Ziel durch welche Maßnahmen erreichen soll, steht da nicht.

    Was ich an der medialen Rezeption dieses Scheiterns sehr verblüffend finde, sind die wüsten Beschimpfungen der sogenannten politischen Klasse, die vornehmlich von deren eigenen Mitgliedern erledigt wird. Grünen-Chefin Claudia Roth beispielsweise posaunte gestern die Parole vom “Gipfel der Verantwortungslosigkeit und der Zukunfts-Blindheit” in jedes Mikrofon, dass ihr zu nahe kam: “Es ist eine Tragödie politischen Versagens, so etwas habe ich noch nicht erlebt.”

    Unbestritten ist es eine Katastrophe, das der Gipfel gescheitert ist. Gerade die Regierungen von Schwellenländern wie Indien oder China müssen die Zügel in die Hand nehmen um die Emissionen ihrer Länder so gering wie möglich zu halten. Für uns aber, die wir in einem der reichsten westlichen Industrieländer über die nötige Zeit und die nötigen Ressourcen verfügen diesen Blog-Eintrag zu lesen, hätte auch ein durchschlagender Erfolg nichts an der Faktenlage geändert.

    Hierzulande kann jedes Schulkind im Schlaf daher beten, was getan werden muss, um zu retten was zu retten ist. Man traut sich gar nicht mehr über Autos, alternative Energien oder das Sparen derselben zu schreiben, aus Angst, die Menschen zu langweilen. Ein erfolgreicher Gipfel hätte uns nichts gelehrt, war wir nicht schon heute wissen – oder wissen könnten. Der gescheiterte Gipfel aber hat das Potential, uns endlich begreifbar zu machen, dass es in der Hand jedes Einzelnen liegt, durch die Veränderung seines Verhaltens zum Klimaschutz beizutragen.

    Das kostet was, das strengt an und wahrscheinlich bedeutet es Verzicht auf Liebgewonnenes. Wem das aber zu viel ist, dem sei die Kritik an Politikern versagt. Ganz offensichtlich braucht er sie, damit sie ihm mit Ge- oder Verboten helfen, seine eigene Verantwortung zu tragen.

    Mein Blog für 20 Euro? Geschenkt!

    Wenn ich den wahnwitzigen Plan hätte, in sechs Monaten von den sprudelnden Erlösen meines Blogs leben zu wollen, müsste ich mich einigen unangenehmen Wahrheiten stellen. Unter anderem folgenden:

    1. Meinem Blog fehlt es an Farbe. Während andere Blogger – pardon: Mitbewerber – ihre Seite mit Anzeigen, Links, Fotos und schickem Grafikdesign aufpeppen ist die meinige zu allererst grau und ein schonungsloses Zeugnis meiner mangelhaften Programmierkenntnisse und -begeisterung.
    2. Meinem Blog fehlt es an Reichweite. “Zero Comments” wäre ein guter – weil für weit über 90% der Beiträge zutreffender – Untertitel. Aus betriebswirtschaftlicher Sicht eine Katastrophe, phonetisch aber sehr hübsch: Kopfkompass – zero comments.
    3. Meinem Blog fehlt es an Regelmäßigkeit. Zwischen diesem Beitrag und dem letzen liegen 18 Tage Sendepause. Davor habe ich mindestens 3 Beiträge pro Woche geschrieben. Ein schallende Ohrfeige für die drei mir bekannten Stammleser. Vor allem weil es außer fehlender Muse und frappierender Faulheit keine überzeugend argumentierbaren Gründe dafür gibt.
    4. Meinem Blog fehlt es an Profil.  Je nach Mondphase schreibe ich mal über Rassismus, mal über Datensicherheit und wenn nötig auch über Homophobie. In sentimentalen Stunden schreibe ich sogar über meine Mutter. Nicht einmal ich weiß, worum es mir eigentlich geht. Wer käme da auf den Gedanken in meinem Blog eine Anzeige zu platzieren?

    Bernd Jürgens. Der nämlich schrieb mir letzte Woche:

    Hallo Herr Gerber,

    ich habe eine Feuerwerk- und Pyrotechnik-Homepage.

    Bei meiner Recherche habe ich dabei auch Ihre Homepage im Internet gefunden. Hätten Sie Interesse an einer Zusammenarbeit?

    Wenn Sie das Wort -Silvesterparty- in Ihrem Blog-Beitrag https://kopfkompass.de/2009/11/23-november-1986/ mit meiner Homepage verlinken könnten, zahlen ich Ihnen unkompliziert 20,- EUR.

    Hätten Sie daran Interesse?

    Wenn ja, schicke ich Ihnen noch die genauen Daten meiner Website mit weiteren Informationen zu.

    Ich freue mich auf Ihr Feedback.

    Schönen Gruß, Bernd Jürgens

    Der betreffende Beitrag kreiste um das Vergehen der Zeit, Sterben und Friedhöfe. Er hatte mit opulentem Feuerwerk ungefähr soviel zu tun wie ein Meter Feldweg mit der modernen Raumfahrt. Ich muss jedoch zugeben, dass ich das Wort “Silvesterparty” verwendet habe. Und das Wort “Silvester” auch.

    Wer also ist Bernd Jürgens? Ein Kleingewerbetreibender der dringend einer umfassenden Mediaberatung bedarf? Ein großzügiger Förderer des öffentlichen Herumgestocheres verwirrter Blogger? Ein Abmahnanwalt inkognito, der mich vor den Kadi zerrt, wenn er beweisen kann, dass ich meinen Blog gewerblich nutze? Ich werde es nie herausfinden. Natürlich habe ich gefragt. Aber anstelle von Antworten kam lediglich der freundliche Hinweis, es mir doch bitte noch einmal zu überlegen.

    Also gut, ich hab’s mir nochmal überlegt. Die Antwort ist: Nein. Ich kann das medienpolitisch, emotional gekränkt, oder erlösorientiert (Ich meine: ‘Nen Zwanni?!) begründen. Oder persönlich: Am 31. Dezember 1986 habe ich die faszinieren Funken eines Sternchenfeuers gestreichelt. Während die daumennagelgroße Brandwunde in meinem linken Handteller in den darauffolgenden Wochen eiternd abheilte, reifte in mir der Entschluss, Feuerwerk fortan nicht mehr zu mögen. Abgesehen davon muss mein Blog nicht meinen Lebensunterhalt finanzieren, weshalb ich mir die Arroganz leisten kann vor obigen Wahrheiten die Augen zu verschließen.

    Für alle, denen es anders geht hätte ich da aber einen interessanten Link. Auf Nachfrage.

    Andenken aus Stein

    Ich habe heute mit meiner Schwester telefoniert. Es ging um den Totensonntag gestern. Nicht, dass wir nur ein einziges Wort davon gesprochen hätten. Aber mir war klar, dass sie am Grab unserer Mutter gewesen sein musste. Und ihr war klar, dass ich das Grab ein weiteres Mal nicht besucht hatte.

    Wir hatten schon oft über diesen Ort gesprochen. So oft vielleicht, dass kein Wort übrig geblieben war, dass ich heute dazu hätte sagen können. Und wären da noch welche, hätte ich mir verboten, sie zu sagen. Ich will mich nicht mehr rechtfertigen. Meine Schwester mag mich sehr und will keinen Streit vom Zaun brechen. Aber sie hasst es, dass es überhaupt einen Zaun gibt zwischen uns. Wir kommen nicht zueinander.

    Meine Schwester findet es wichtig, dass Andenken an unsere Mutter zu bewahren. Ich auch. Unsere Mutter war eine stolze, starke Frau. Meine Schwester glaubt, ein gepflegtes, geschmücktes Grab sei Ausdruck dieses Andenkens. Ich nicht. Ich glaube, ein gepflegtes, geschmücktes Grab ist Ausdruck von Verzweiflung. Besonders das meiner Mutter. Meine Mutter ist nicht an dort. Sie war noch nie da. Sie kannte diesen Ort nicht.

    Wir haben den Ort ausgesucht, nahe am Wasser unter dem riesigen Rhododendron. Wir haben auch den Stein ausgesucht, sogar die Gravur, sogar die Worte der Gravur. Jetzt steht dieser Stein da – bald 10 Jahre – und bezeugt: Was eigentlich?

    Dass es meine Mutter gegeben hat? Dass es mich gibt, der heute noch an sie denkt? Dass sie ein Denkmal wert war? Ich verstehe diesen Stein nicht. Ich bin für seine Existenz verantwortlich aber ich habe mich geirrt. Ich kann ihn nicht leiden. Weil er so tut, als könne er die Zeit anhalten. Weil er sich so ewigkeitsschwanger aufbläst und weil er behauptet, er – kalt und zentnerschwer – bewahre das Andenken meiner Mutter.

    Meine Schwester sagt, dass sei ein wichtiger Ort für sie und ich respektiere das. Mehr noch: Ich freue mich darüber, dass sie ihn pflegt. Ich bin ihr dankbar.

    Aber ich fühle mich schuldig, weil es diesen Ort gibt. Wenn ich nicht da bin, weil ich weiß, dass es Menschen gibt, die finden, dass ich da sein sollte. Weil man das macht, weil man da hingeht, wenigstens ab und an. Und wenn ich dort bin dafür, dass ich dann so nichts, so gar nichts empfinden kann.

    Ich kann nicht einsehen, was Koniferen und Efeu jemals mit meiner Mutter zu tun haben sollen.

    23. November 1986

    Ich war sechs und es war Totensonntag. Das bedeutete: Trotz nasskalten Wetters wurde ich zeitig geweckt um an der Hand meiner Mutter in wechselnden Straßenbahnen kreuz und quer durch die Stadt zu fahren und mich zwei Stunden später am Ende der Welt auf einem riesigen Friedhof wiederzufinden, auf dem sehr viele schwarzgekleidete Menschen über Gräber gebeugt Gartenarbeit verrichteten. Mir hat das Angst gemacht. Alle sahen so emsig aus. Mir kam das vor, als müsse man die Toten an diesem Tag beschwichtigen, damit sie nicht aus ihren Gräbern steigen um ihre Hinterbliebenen heimzusuchen. Das hatte ich heimlich in einem Film gesehen.

    Wie mir meine Mutter erklärte, war auch ich bereits Hinterbliebener. Und zwar der meines Opas, dessen Existenz dieses kleine Foto bewies, das auf einer Silvesterparty aufgenommen worden sei. Meine Mutter erklärte mir, dieses Foto sei vier Silvester her. Es zeigte mich lachend auf seinem Schoß sitzend mit einem viel zu großen spitzen Hut auf dem Kopf und einer Flasche Bier in der Hand. Er sei der einzige gewesen, der sich neben mir dafür eingesetzt hätte, dass ich auch so eine Bierflasche halten dürfe. Wenn auch eine leere. Mutter versicherte, dass ich meinen Opa sehr gemocht habe.

    Das machte mir Angst: Ich konnte mich nicht erinnern. Weder an die Abfolge der Straßenbahnen, noch an die Haltestellen an denen wir umsteigen mussten, noch an den Weg von der Friedhofspforte zum Grab meines Opas, noch an meinen Opa selbst. Für letzteres schämte ich mich sehr. Mein Opa habe mich nämlich auch sehr gemocht. Er sei regelrecht stolz auf mich gewesen. Deshalb versuchte ich, meine Erinnerungslücke so gut wie möglich vor meiner Mutter zu verbergen. Was freilich misslang.

    Ich fragte meine Mutter, wie es sein könne, dass ich auf diesem Foto sei, aber dieses Foto nicht in meiner Erinnerung, woraufhin mit meine Mutter erklärte, dass sehr junge und sehr alte Menschen Dinge vergessen würden. Ich fragte sie, ob sie sich ganz sicher sein könne, dass mit meinem Kopf alles in Ordnung sei. Sie erwiderte, dass jeder Mensch Dinge vergesse, und dass das völlig normal sei.

    Ich war froh, dass meine Mutter mir nicht übel nahm, dass ich fror und mich ein bisschen langweilte während sie mit gefalteten Händen in Gedenken an ihren Vater weinend vor dem Grab meines Opas stand für einige Minuten schweigend. Wir gingen.

    Auch auf dem Rückweg zur Straßenbahn weinte sie noch. Jetzt aber weil sie es so traurig fände, dass sie sich nur noch an so wenige Erlebnisse aus ihrer Kindheit erinnern könne. Aber so sei das eben.

    Mir machte das Angst. Was wird denn aus den Vergessenen Dingen? Tagen? Menschen? Wohin verschwinden die? Sind die nicht wichtig? Müssen die nicht irgendwo bleiben? In Grabsteinen? In Fotos?

    Also: Wenn ich heute vergesse, hat es heute dann gegeben?

    Den 23. November 1986 hat es gegeben. Ich kann mich erinnern.

    Abgefahren: Big Brother als blinder Passagier

    Der tägliche Verkehrskollaps um Amsterdam und Den Haag katapultiert die kleinen Niederlande auf die vorderen Plätze einer zweifelhaften europäischen Top Ten. Kilometerlange Staus auf chronisch überlasteten Hauptstrecken schaffen das unmögliche und lassen die Zeit in der Rush Hour regelmäßig still stehen. Also hat man geforscht und gebrütet und ist – Hoppla! – auf ein Patentrezept gestoßen. Eine moderne computergestützte KFZ-Steuer für die Grimms Tapferes Schneiderlein Pate gestanden haben könnte.

    Ab 2012 nämlich erledigt man sieben auf einen Streich. Mindestens: Der Sonntagsfahrer zahlt weniger als der Berufspendler, der Limousinen-Besitzer mehr als der Kleinwagenlenker und der Umweltschützer weniger als der Abgassünder. Gleichzeitig belohne man die, die ihren Wagen zur Hauptverkehrszeit stehen lassen und bestrafe jene, die unverbesserlich auf staugefährdeten Hauptstrecken fahren. Nebenbei mache man den öffentlichen Personennahverkehr attraktiver, senke den Kohlendioxidausstoß und wahrscheinlich auch die Zahl der Verkehrstoten.

    Möglich wird das alles durch eine topmoderne ausgeklügelte Software, die Hollands Verkehrsdaten in Echtzeit auswertet, und den Fahrzeugbesitzern die KFZ-Steuer anhand der tatsächlichen Autonutzung in Rechnung stellt. Ach ja, und natürlich durch ein kleines Kästchen, eine sogenannte On-Board-Unit, die man liebevoll OBU nennen kann, die klein und unscheinbar ist, und deren flinken Einbau sogar der Staat bezahlt.

    Ein Segen also? Nein, ein Fluch.

    Die On-Board-Unit darf man sich vorstellen, wie ein Navigationsgerät mit eingebautem Handy. Das Gerät zeichnet minutiös auf, wann man mit seinem Auto wo unterwegs ist und funkt diese Daten an eine Verkehrsleitstelle. Die ermittelt aus den empfangenen Koordinaten die zurückgelegte Strecke und multipliziert diese mit den gemäß Tageszeit fälligen Gebühren. Die so berechnete KFZ-Steuer wird dem Fahrzeughalter bequem monatlich vom Konto abgebucht.

    Im Klartext bedeutet das, es ab 2012 in den Niederlanden nicht mehr möglich sein wird, sich in seinem Auto ohne staatliche Überwachung fortzubewegen. Die ominöse Verkehrsleitstelle kann stets genauestens Auskunft darüber geben, welches Auto sich wann wo befand und befindet. Also: könnte.

    In der offiziellen Imagebroschüre nimmt man sich den Sorgen von Datenschützern freilich verantwortungsvoll an:

    Schutz persönlicher Daten gewährleistet

    Die Informationen, die vom Gerät gesendet werden, sind gesetzlich und technisch geschützt. Nur dem Autofahrer sind diese Daten bekannt. Der Staat erhält keine Fahrtdaten und kann Autos nicht überwachen. Auf diese Weise ist der Schutz der persönlichen Daten von Verkehrsteilnehmern gewährleistet.

    Der erfahrene Leser merkt es sofort: diese Zeilen haben mehr mit Autosuggestion als mit der Realität zu tun. Heise illustriert sehr eindrucksvoll, dass bisher nicht einmal die Entwickler solcher sogenannter Car-to-X-Systeme sicher sind, wie Datenmissbrauch künftig ausgeschlossen werden kann.

    Die für die Entwicklung der Software zuständige Firma ARS räumt die Möglichkeit der Erstellung von Bewegungsprofilen in einer anderen Regierungsbroschüre, die den enormen technologischen Standard der Niederlande preist, sogar selbst ein. Über ein ganz ähnliches Projekt in Stockholm heißt es da:

    “Mit einem solchen System wäre es eine Kleinigkeit, auch Personenbewegungen zu verfolgen. "Das ist möglich", gibt Linssen zu, "aber der Datenschutz in Schweden ist streng. Diese Option ist daher in unserem System ausgeblendet. Wir kennen nur die Fahrzeiten der Autos, nicht die bestimmter Personen."

    In meinen Augen ist außer der OBU selbst nichts an dieser Angelegenheit eine Kleinigkeit. Denn, wenn es möglich ist, totalen Zugriff auf die Mobilitätsdaten der Bürger zu bekommen, warum sollte man ihn dann nicht nutzen? Die Daten werden ohnehin erhoben. Warum sollte man sie nicht auswerten?

    Mit einem Schlag könnte man so beispielsweise alle KFZ-Diebstähle in den Niederlanden aufklären. Und alle Entführungen. Und alle verlorenen Verfolgungsjagden nach Banküberfällen. Vorausgesetzt die Verbrecher sind bescheuert genug, die OBU weiterhin spazieren zu fahren, was ich bezweifle.

    Was aber mit brenzligen Situation, in der Mobilitätsdaten beweisen könnten, dass man eben nicht zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort war? Dass man einen bestimmten Unfall nicht verursacht oder ein bestimmtes Verbrechen nicht begangen haben kann? Ist es dann vertretbar die Daten nicht auszuwerten?

    “Mautdaten sind Fahndungsdaten” ließ sich Bundesanwalt Kay Nehm am Rande des 44. deutschen Verkehrsgerichtstages zitieren, womit der Bogen zur Situation in Deutschland geschlagen wäre. Denn auch in Deutschland ist es theoretisch heute schon, möglich weite Teile der bürgerlichen Mobilität auszuwerten: Jedes Auto – ausdrücklich nicht nur LKW – wird an den Mautbrücken über deutschen Autobahnen fotografiert. Die Fotos all jener Fahrzeuge die nicht mautpflichtig sind, werden natürlich innerhalb von Sekundenbruchteilen wieder gelöscht, wie das Betreiberkonsortium Toll Collect auf seiner Website verspricht. Nehm ist nicht der erste, der das gern offiziell ändern würde. Auch Herr Schäuble hatte dies in seiner Zeit als Bundesinnenminister angeregt.

    Verkehrsminister Ramsauer brachte die Einführung einer technologiegestützten PKW-Maut in Deutschland erst kürzlich ins Gespräch, wurde dann aber zurückgepfiffen. Auch Grünen-Chef Özdemir bekundete öffentlich seine Sympathie mit dem holländischen System, was all jene verblüffen dürfte, die die Wahrung von Bürgerrechten bisher als grüne Grundfeste missverstanden hatten.

    Der ADAC indes beruhigt: „Das Rechnungsmodell verlangt wie bei einem Handy eine Einzelabrechnung. Wer will 40 Millionen Autos in Deutschland erfassen und abrechnen, ohne dass es ein Zuschussgeschäft wird?“, ließ er über seine Sprecherin Maxi Hartung ausrichten.

    Auch die Niederländer mögen das neue System nicht. Laut einer Umfrage von “De Telegraaf” lehnen 62 Prozent der Bevölkerung den wahr werdenden Verfolgungswahn ab. Das jedoch wird wenig nützen: Wer einen Ausfall der OBU während der Fahrt nicht binnen 8 Stunden meldet, riskiert 6 Monate Gefängnis oder alternativ eine Geldstrafe von bis zu 18.500 €.

    Auszuräuchern: News-Parasiten im Web-Kommunismus

    Auf dem gerade zu Ende gegangenem Monaco Media Forum wurde allerlei spekuliert über die Zukunft des Journalismus, die – glaubt man dem Gezeter der meisten Verantwortlichen – wohl vor allem davon abhängen wird, wer künftig für Nachrichten bezahlt.

    Augenblicklich stehen sich zwei Modelle gegenüber: Nach dem traditionellen Modell bezahlen die Nutzer für den Zugang zu Nachrichten, in dem Sie beispielsweise eine Zeitung am Kiosk bezahlen, oder brav ihre GEZ-Gebühren überweisen, bevor sie die Tagesschau einschalten. Dem gegenüber steht ein neues Modell, nachdem Inhalte durch Werbung finanziert sind. Zugegeben, so neu ist das nun auch wieder nicht, wie ein Blick in eine Zeitung Ihrer Wahl beweisen kann. Neu ist nicht einmal, Inhalte ausschließlich über Werbung zu finanzieren. Das belegt Ihnen die deutsche Privatfernsehlandschaft lautstark, und vielleicht sogar noch etwas eindrucksvoller Google.

    Neu ist auch nicht das Internet, in dem wir uns daran gewöhnt haben, das jede Art von Information kostenlos bereit steht. Das einzige Neue an der ganzen Diskussion ist, dass einige einflussreiche Leute der Medienbranche der Meinung sind, hier müsse dringend etwas geändert werden.

    Allen voran Rupert Murdoch, bei dem man angesichts seiner gigantischen global agierenden Medienfabrik News Corp, die neben “The New York Times” und “Fox News” auch das soziale Netzwerk “MySpace” herstellt, beim besten Willen nicht um den Gebrauch des Unwortes Medienmogul herumkommt. Weil seine Fabrik im letzten Jahr fast 3,4 Milliarden Dollar Verlust gemacht hat  steht er nun freilich unter Zugzwang. Seiner Meinung nach ist es die Kostenlos-Mentalität im Internet, die seiner Firma so zu schaffen macht. Allen voran kritisiert er Google aber auch all die anderen “Kleptomanen und Parasiten”, die – im Volksmund auch Blogger genannt – alles Aufsammeln und Remixen und zu ihrem machen. Damit sei jetzt Schluss, konstatiert Murdoch. Das Herstellen von Nachrichten sei schließlich teuer: Auslandskorrespondenten, Fotografen, Experten, Redakteure, Layouter, Drucker Fahrer und Verkäufer wollen schließlich ebenso bezahlt werden wie Programmierer und Administratoren. Das zu leisten sei der weltweite Werbemarkt einfach nicht groß genug. Bei Murdochs Wall Street Journal gibt es deshalb nur noch den ersten Absatz eines jeden Artikels gratis, der Rest bleibt angemeldeten – zahlenden – Nutzern vorbehalten.

    Murdochs deutscher Kollege Mathias Döpfner, seit 2002 Vorstandsvorsitzender der Axel Springer AG ist offenbar beeindruckt von dessen klaren Worten, selbst aber nicht ganz so mutig. Er traut sich zwar vorerst noch nicht, ganze Zeitungsportale mit einem Eingabefeld für die Kreditkartennummer abzuzäunen, wohl aber deren mobile Ableger. Die BZ, Die Welt und die Bild wird gibt es auf dem iPhone in einigen Wochen nur noch über eine eigens dafür programmierte App, bei der nicht nur Anschaffungskosten sondern auch monatliche Gebühren anfallen sollen. “Die kostenpflichtige App wird bald die einzige Möglichkeit sein, die Medienmarken aus dem Hause Springer auf dem iPhone zu nutzen.” Auch für die Angebote im normalen Internet sollen die Nutzer bald löhnen.

    Allerdings sieht Döpfner selber ein, dass es ihm nicht gelingen wird, die Medienkonsumenten – also Sie! – umzuerziehen. “Konsumenten sollen nicht umerzogen werden sondern verführt.”, sagte Döpfner am Donnerstag im Rahmen einer Podiumsdiskussion die sich, wer ausreichend Erdnussflips zur Hand hat hier in voller Länge ansehen kann:

     

    Die Verführung sei gar nicht so schwer. Menschenkenner Döpfner analysierte nämlich messerscharf, dass es genau sechs Dinge gäbe, für die sich der gemeine Konsument interessiert. Dies seien:

    • Sex
    • Verbrechen
    • Sport
    • Spiele
    • das persönliche lokale Umfeld
    • Geld und macht
    • und das Wetter

    Wesentlich wären aber nur die ersten beiden: Sex and Crime. Und für Intellektuelle eben Eros und Thanatos. Für Informationen zu diesen beiden zahlen die Menschen seit Griechenland. Er sehe keinen Grund, warum sich das im digitalen Zeitalter ändern sollte. Liebe und Hass müssten lediglich hübsch verpackt und exklusiv aufbereitet werden und dann würde der Rubel schon ins Rollen kommen. Glaubt Döpfner.

    Grundsätzlich sei er aber auch ein großer Fan von nutzergenerierten Inhalten. So sei es beispielsweise ja die Bildzeitung gewesen, die durch das Abdrucken von Presseausweisen zum Selbstausschneiden den  Nebenberuf des Leser-Reporters etabliert habe und deren “großartiges Material”  nun regelmäßig gegen Bezahlung veröffentlichte. Die pseudo-investigativen Amateur-Paparazzi mit engagierten Bloggern in einen Topf zu schmeißen, die sich wie Pitbulls in Geschichten verbeißen, die nicht immer Sensationen sein müssen ist zwar gewagt, passt aber zum Rest von Döpfners Ausführungen:

    "Es ist einfach falsch zu denken, im Web müsse alles kostenlos sein. Die Theorie, dass es einen freien Zugang zu Informationen geben soll, gehört zum Absurdesten, was ich jemals gehört habe. […] Dies ist ein spätes ideologisches Ergebnis von Webkommunisten: Nur wenn alles kostenlos ist, ist es demokratisch." (Golem)

    Döpfners Ausführungen gipfelten in einem Vergleich mit bestechender Logik: Bier im Supermarkt sei schließlich auch nicht gratis. Wie er auf diese Metapher kam, erklärte er nicht, wohl aber, was er damit meine: Wenn im Internet die Zukunft der Informationsverbreitung läge, wovon er ausginge, dann muss es auch dort Qualität geben. Diese aber sei nur möglich, wenn jemand bereit sei in die Herstellung dieser Qualität auch Geld zu investieren. Diese Bereitschaft wiederum setze die Aussicht auf Rendite voraus. Informationsportale im Netz brauchen demnach ein klares Geschäftsmodell das sicherstellt, dass sich diese Informationen auch auszahlen. Ohne diesen Geschäftsmodell würde nicht nur die journalistische Qualität sinken, sondern sich der Medienmarkt insgesamt erheblich verkleinern, was wiederum zulasten der Vielfalt ginge. Diese Theorie lässt sich durchaus bereits mit Fakten belegen: In Amerika ist bereits vom großen Zeitgungssterben die Rede und auch in Europa stellen die ersten Blätter ihr Erscheinen ein. Die Publikationen die bleiben müssen sparen wo es nur geht, und dies leider viel zu oft zuerst bei den Auslandskorrespondenten, auch hierzulande.

    Die Herstellung von Nachrichten ist teuer. Und Döpfner hat wohl recht, wenn er warnt, dass Blogger und Suchmaschinen nichts zu verwerten, zu verbreiten oder zu remixen hätten, wenn niemand mehr qualitativ hochwertigen Content einstellt. Allerdings vergisst er, dass eben dieser Content, und zwar durchaus auch hochwertiger auch von Bloggern bereitgestellt werden kann. Dies hat sich nicht zum ersten Mal beim Aufstand im Iran vor einigen Monaten gezeigt. Das herrschende Regime konnte westliche Reporter zwar des Landes verweisen, und deren Berichterstattung so erheblich erschweren, es hatte aber vergessen, dass das Internet auch vor seinen Landesgrenzen nicht halt gemacht hat. Die Aufständigen organisierten sich über Facebook, Twitter & Co. und im Zuge der Berichterstattung schafften es YouTube-Videos von Amateuren sogar bis in die Tagesschau.

    Spätestens hier zeigt sich, dass Blogger den traditionellen Journalismus erheblich bereichern können. Sie können ihn nicht ersetzen – nutzergenerierter Content muss redaktionell geprüft, editiert und aufbereitet werden. Aber das was Regierungen und Medienkonzernen der Öffentlichkeit als Wahrheit verkaufen, bedarf gelegentlich dringend einer Revision. Das kann man gerade am Beispiel von Murdochs Sender Fox News sehr schön nachvollziehen.

    Obendrein sorgen Blogger und Suchmaschinen für einen erheblichen Besucherzuwachs auf einschlägigen Nachrichtenseiten, in dem sie Beiträge andere in ihrem Angebot verlinken. Das wiederum wirkt sich positiv auf die Werbeeinnahmen der Inhaltsanbieter aus.

    Auch das kann ein Geschäftsmodell sein. In den USA sorgt derzeit eine Plattform namens Huffington Post für Aufsehen. Hierbei handelt es sich nicht, wie der Name vermuten lassen könnte um eine weitere gedruckte Tageszeitung sondern vielmehr um einen Zusammenschluss von ca.. 2.000 Bloggern, die über alles mögliche, was ihnen bemerkenswert erscheint schreiben. Wohlgemerkt unentgeltlich. Das Portal hat im letzen Jahr seine Reichweite vervierfacht und glänzt mit 8,1 Mio. Seitenaufrufen monatlich. Dieser Erfolg ist unter anderem der Tatsache zu verdanken, dass den Bloggern regelmäßig Exklusivmeldungen gelingen, nach denen sich traditionelle Medien alle zehn Finger lecken.Von den Werbeeinnahmen können 80 Angestellte bezahlt werden. Laut Mitbegründerin Arianna Huffington gingen mittlerweile mehrere Hundert E-Mails täglich ein, in denen Inhaltsanbieter darum bitten, dass auch ihre Beiträge in der “HuffPo” besprochen würden.

    Klar ist trotzdem: Die Einnahmen reichen nicht dafür aus auch die Blogger für ihre durchaus respektable Arbeit zu entlohnen. Im Gegenteil, auch Online-Community Projekte renommierter Zeitungen seien teuer und würden letztlich hauptsächlich aus den Verkaufseinnahmen der Papierexemplare finanziert. Brechen deren Absatzzahlen jedoch ein müssen neue Einnahmequellen erschlossen werden. Darüber wird auch im von mir wärmstens empfohlenen Crossover-Projekt der Freitag eifrig diskutiert.  Freitag Verleger Jakob Augstein äußerte sich unlängst auch in der 3sat Kulturzeit zum Thema paid content, und wurde dafür von seiner eigenen Community heftig kritisiert. Diese nämlich fühlte sich für ihren Beitrag zum Reiz des gesamten Projektes zurecht nicht wertgeschätzt.

    Lauscht man Arianna Huffington klingt die Lösung des Problems einfach.

    Ambiguity is the new exclusivity.

    Wer für die durch ihn zur Verfügung gestellten Inhalte bezahlt werden wolle, solle sich vor allem darum kümmern diese an so vielen Orten im Netz wie möglich verfügbar zu machen und vor allem auf die Finanzierung durch Werbung zu setzen.

    Döpfners Prognose, dass es in 10 Jahren von der Grundversorgung mit Nachrichten abgesehen nur noch kostenpflichtige Inhalte geben werde, wies sie humorvoll aber energisch zurück.

    Solange Sie keine bizarre Pornografie anbieten oder sehr spezifische Information für Anleger, werden sie keinen Erfolg damit haben Ihre Inhalte einzumauern. […]

    und weiter:

    I am sorry to say, that even though you are incredibly convincing, you will be proven incredibly wrong.

    Hoffentlich behält sie recht.

    Abgemeldet: Asoziale Netzwerke

    Nach dem Aufwischen meiner persönlichen Datenlache im Netz war ich ziemlich erschöpft. Das war viel Arbeit. Und ein bisschen angewidert war ich auch. Von meinem ungebremsten Drang zum Socialising nämlich: In fast jedem in Deutschland aktivem Sozialen Netzwerk hatte ich versucht, neue Freunde zu finden. Dabei sind meine alten eigentlich ganz okay.

    Diese Irritation kannte ich: Als ich mir 1995 von meinem Taschengeld ein 33,3-K-Modem zulegte, fiel mir mein bester Freund um den Hals und rief: “Wie cool! Dann können wir uns jetzt immer e-Mails schreiben!” Was wir in der Folge auch tatsächlich taten. Warum genau, kann ich bis heute nicht erklären. Wir haben uns jeden Tag in der Schule gesehen und die meisten Nachmittage miteinander verbracht. Bei unseren Mails galt eindeutig: The medium is the message. Das hat gefetzt. 1995.

    Erst als ich neulich nachts meine Mitgliedschaft in zahlreichen Sozialen Netzwerken beendete, stellte ich fest, dass diese immer noch nach dem alten Grundsatz funktionieren. Der aber hat an Charme  deutlich eingebüßt. Und müsste außerdem um zwei Worte ergänzt heute richtig lauten: The medium is the message is you.  Denn wer nichts sagt, den gibt’s auch nicht. Deswegen quasseln alle ständig über alles was ihnen einfällt. Und sehen dabei wahnsinnig gut aus. Aber eben auch ein bisschen hohl.

    Grund genug für mich, den  meisten sozialen Netzwerken den Rücken zu kehren. Kleben geblieben bin ich beim schlimmsten von allen: Facebook. Dabei mach ich mir nichts vor: Eine Freundschaftsanfrage bei Facebook bedeutet im Wesentlichen: Darf ich dir künftig  ungefähr 5 Mal am Tag: “Guck Mal! Ich bin hier!” in dein Leben brüllen? Wer jetzt schwach wird und ja sagt, der erfährt in Zukunft ungefragt,  wer wann ein Bäuerchen gemacht hat, wem wann ein virtuelles aber zuckersüüüßes und todtrauriges schwarzes Kätzchen über den Weg gelaufen ist, und wer wann wo mit wem verabredet ist. Vielleicht will man ja selber auch hin. Was mich wirklich  daran nervt ist: Es interessiert mich! Ich will es wissen! Ich checke Facebook jeden Tag. Ich würde es häufiger tun, wenn ich die Zeit dafür hätte. Warum nur?

    Ich erfahre hier nichts Nützliches. Außer vielleicht einem Gefühl: “Oh ja! Alle Leute, die ich irgendwie oder über drei Ecken kenne sind noch da und haben auch ein Leben. Prima.” Das ist aber keine Kontaktpflege. In Wirklichkeit ist das sogar Spam. Weil man miteinander überhaupt nicht in Kontakt tritt. Und falls doch ist das glatt und oberflächlich. Statusmeldungen, wie auch die Kommentare dazu können im Netzwerk mitgelesen werden. Natürlich: für den vertraulicheren Austausch kann man den privaten Chat nutzen. Oder die private Nachricht. Warum aber sollte man? Wieso sollte man eine zusätzliche Plattform zwischen sich und den anderen stellen, wenn man ebenso gut telefonieren kann?  Oder – Obacht! – sich gar einfach einmal trifft?

    “Facebook ist perfekt dafür, Kontakt zu deinen Freunden auf der ganzen Welt zu pflegen.” Okay, vielleicht bin ich ein langweiliger vereinsamter Eremit. Ich bekenne, die Zahl der Personen, die ich als Freunde bezeichne und die außerhalb Deutschlands leben lautet: 3. Wir mailen oder telefonieren gelegentlich.

    “Facebook ermöglicht es dir, mit den Menschen in deinem Leben Inhalte […] zu teilen.” Das ist tatsächlich ein Argument. Wer ein interessantes You-Tube-Video entdeckt hat, kann es hier posten, ebenso wie Fotos oder einen spannenden Artikel. In der Praxis bedeutet das, dass ich ernsthaft darüber nachdenke, mir in Zukunft eine Eieruhr mit 30-Minuten-Countdown neben den Rechner zu stellen, bevor ich mich bei Facebook einlogge. Ja, es ist Social Spam. Aber es ist wie der süße Brei, führt vom Hundertsten zum Tausendsten und macht süchtig, wie Betroffene und Interessierte hier, hier oder hier nachlesen können.

    Facebook hat mein Leben nicht sozialer gemacht. Ich verdächtige Facebook sogar, in Wirklichkeit asozial zu sein. Statt Menschen zusammenzubringen verführt es sie dazu, ihre Zeit mit dem Konsum belangloser Statusmeldungen, sinnfreier Minispielchen oder aufgepixelter Musikvideos zu verschwenden. Und zwar allein in orthopädisch ungünstiger Haltung vor ihren Rechnern sitzend.

    Sobald meine Therapie abgeschlossen ist, lösche ich meinen Facebook-Account. Versprochen.

     

    Aufgewischt: Meine persönliche Datenlache

    Ich habe in der letzten Zeit viel über Überwachung und Datenschutz geschrieben. Und freilich noch viel mehr darüber gelesen. Dabei habe ich zweifellos mehr über die Tricks und Kniffe der Online-Datenkraken gelernt, als mir lieb sein kann. Wie sich daran zeigte, dass diesem Wissen in der letzten Nach ein Großteil meines Schlafes zum Opfer fiel.

    Wie durch ein undichtes Dach plätscherte Tropfen für Tropfen die Gewissheit in mein Gemüt, dass ich bisher mit meinen persönlichen Daten überaus salopp umgegangen war. Eigentlich könnte man es auch dämlich nennen: Im Internet hatte ich seit Jahren jedes Formular bereitwillig ausgefüllt, jedes Social Network ausprobiert, in jedem Forum über das ich stolperte arglos unter echtem Namen gepostet, rezensiert, kommentiert, schwadroniert. Herrje! 

    Mir fiel ein Dienst nach dem anderen ein, bei dem ich mich irgendwann mal registriert hatte. Und dann erinnerte ich mich an die vielen Artikel darüber, dass das Internet nicht vergisst, dass man das Internet nicht löschen kann, weil es überall Kopien davon gibt, dass sich das Internet zum wahren Karriere-Killer entpuppen kann, wenn man nicht aufpasst, und dass es mitterweile ausgefeilte Personensuchmaschinen gibt, die die bunt verteilten Informationsschnipselchen aus jeder noch so abgelegenen Dreckecke des Internets herausklamüsern, um sie flinkflink zu einem hübschen wohlsortierten Personenprofil aufzubereiten. Mit Telefonnummer und Passfoto. Wenn man dumm genug war. (War ich zum Glück nicht, wie ich erst am nächsten Morgen erfuhr.)

    Tropfen für Tropfen hatte sich eine unangenehm große, unangenehm kalte Datenlache gebildet, die mich aus dem Bett trieb. Ich fing an eine Liste zu schreiben mit allen Seiten auf denen ich wissentlich Daten hinterlassen hatte. Also mit allen, die mir nach 15 Jahren Internetnutzung noch einfielen. Unter die achtundvierzigste zog ich einen Strich, der Bleistiftspitze brechen ließ. 48 – das waren alle, die mir einfielen. Google konnte sich auch an keine weitern erinnern. Bing auch nicht, auch nicht Yahoo. 123people oder Yasni habe ich mich nicht getraut zu fragen. Dafür war es zu früh. So gegen halb zwei.

    Während der Rechner hochfuhr, machte ich mir einen Tee. Dann arbeitete ich die Liste ab. Auf jeder Seite warf ich meine Angel aus und siehe da: in meiner Datenlache gab es Fische! Dicke sogar! Amazon gab beispielsweise jedem bereitwillig Auskunft darüber, welche Bücher ich mir in der letzten Zeit zugelegt hatte, wie sie mir gefallen hatten, und welche ich mir noch wünschte. Bei Facebook war öffentlich nachvollziehbar, mit wem ich befreundet und mit wem ich verlobt bin. Last.fm versorgte jeden, der wollte (und der ein last.fm Konto hatte) mit meinen persönlichen Hitlisten. Flickr gab Einblicke in mein Wohnzimmer (Gott sei Dank nur mein altes!) und studiVZ in die Ereignisse der letzten Betriebsfeier. Tricks und Kniffe, oder gar Spionage war für keine dieser Angaben nötig. Mein egomanes Sendungsbedürfnis und das meiner Freunde reichte dafür völlig.

    Das alles war ja auch keine Katastrophe. Auf keinem der Fotos im Internet war ich so betrunken, dass man es mir angesehen hätte. Und von mir aus kann die ganze Welt wissen, dass ich ab und an zu den alten Hits der Münchner Freiheit abgehe. Muss aber nicht.

    Ich habe also gelöscht, abgemeldet, entfernt, unsubscribed was die Nacht hergab und zum Abstreichen der Liste noch zweimal meinen Bleistift angespitzt. Das hat regelrecht Spaß gemacht. Auch, weil mir der Frust des vergessenen Passwortes erspart blieb: In den letzten fünf Jahren habe ich ganz offensichtlich immer und überall das gleiche Passwort verwendet. Das ist war einfach und praktisch und in dieser Nacht war ich überaus dankbar dafür. Auch, weil mich der wohlige Grusel darüber, was dieses Passwort in den falschen Händen hätte anrichten können, wie ein doppelter Espresso wach hielt.

    Gegen fünf Uhr war meine Liste auf 21 Dienste zusammengeschmolzen. Das waren wirklich nur die allernötigsten, aber nachprüfbar immer noch zu viele: Wie um Himmels Willen soll ich mir 21 unterschiedliche sichere Passwörter merken?

    Mit einem Trick! Mit welchem? Ich bin doch nicht wahnsinnig!

    PS: Meine Nachtschicht hat sich vielleicht schon bezahlt gemacht:  Yasni und 123people halten sich brav zurück.

    INDECT: War Orwell ein naiver Optimist?

    Die Geschäftsidee von Internet Eyes, über die ich vor einigen Tagen geschrieben habe ist kurios, schräg und unfreiwillig neo-poetisch: Weil die Polizei der Bilderflut, der 4.5 Millionen britischer Überwachungskameras nicht mehr Herr wird, sollen künftig normale Bürger dabei helfen, das normale Verhalten anderer normaler Bürger sicherzustellen.

    Die EU hingegen – stets um maximale Effizienz bemüht – will Überwachungsarbeiten künftig lieber gleich Computern überlassen. Die nämlich sind objektiver und diskreter. Und mit der vollautomatischen Sichtung von  Milliarden von Stunden langweiligen Videomaterials längst noch nicht ausgelastet. Sie haben im Gegenteil noch ausreichend Kapazitäten um nebenbei das Netz zu durchsuchen, Handyinformationen auszuwerten oder Bewegungsprofile zu erstellen.

    Im Rahmen des “Seventh Framework Programme for Research (FP7)″ hat die EU deshalb ein fünf Jahre dauerndes Forschungsprojekt aus der Taufe gehoben und es mit dem knackigen Akronym INDECT versehen, weil sich den vollen Namen “Intelligent information system supporting observation, searching and detection for security of citizens in urban environment” keines der alten Schreckgespenster der Bürgerrechtsbewegung auch nur eine Minute lang merken kann. Diese Gespenster aber standen alle Pate.

    Ziel von INDECT ist es, unterschiedlichste Datenquellen zu einer integrierten Datenbank zu verschmelzen, um so eine auch mobil nutzbare Suchmaschine zu erstellen, mit der sich Personen und Dokumente per Mausklick ermitteln lassen, mit deren Hilfe aber auch Bewegungen von Menschen, Fahrzeugen und Schiffen verfolgt werden können.

    Das Rezept für diesen Dateneintopf klingt unbekömmlich: Informationen von Überwachungskameras, die Bestände der Vorratsdatenspeicherung, Verbindungs- und Ortungsinformationen von Mobiltelefonen, Daten aus Onlineprofilen und dem persönlichen Netzwerkverkehr, darunter ausdrücklich auch private E-Mails werden in einen Topf geschmissen, mit Informationen aus dem Pass- und Meldewesen sowie Straftäterdatenbanken abgeschmeckt und durch neue Technologien der Gesichtserkennung abgeseiht. Was herauskommt riecht nach einer abstrusen Verschwörungstheorie, könnte aber unsere nahe Zukunft sein, wie die offizielle Projektwebsite beweist.

    Wenn man sich den authorisierten Image-Film des Projektes ansieht, stellt sich zunächst Erleichterung ein. Man meint, hier wären ganz offensichtlich chronisch unterfinanzierte, geltungssüchtige High-Tech-Nerds am Werk, die mindestens eine James-Bond-Wiederholung zuviel gesehen haben.

    Dieser Eindruck verflüchtigt sich bei näherer Betrachtung aber rasch: INDECT ist ein auf 17 Institutionen in 11 Ländern verteiltes Projekt, das mit einem Etat von 14,86 Milliarden Euro ausgestattet ist. Es folgt dem sogenannten Meta-Konzept, was auf den Punkt gebracht bedeutet, das jedes Institut nur einen kleinen Teil zum großen Indect-Puzzle beiträgt, indem es nur in seinem Fachbereich forscht.  Auf deutscher Seite ist die Bergische Universität Wuppertal, die  Innotec Gmbh,  und eine kleine Firma namens PSI Transcom beteiligt.

    In Österreich arbeitet die FH Technikum Wien mit, deren Professor Christian Kollmitzer dem Futurezone- Editor Erich Moechel des ORF letzte Woche bereitwillig Auskunft gab:

    “Unser Beitrag zum ‘Indect’-Projekt in Kurzfassung ist: Wir müssen eine technische Lösung finden, dass Objekte unter allen denkbaren Lichtumständen erkannt werden können. […] Unsere Aufgabe ist es dann weiters, robuste Algorithmen zu entwickeln, die es ermöglichen zu erkennen, ob etwa eine Person ein Gepäcksstück abstellt und weggeht.”

    Das wäre dann “auffälliges Verhalten”. Kollmitzers Team veruscht Maschinen beizubringen, solches Verhalten zuverlässig zu erkennen und entsprechend Alarm auszulösen. Auch die Zusammenrottung von Menschen oder nervöse Bewegungsmuster könnten dazu zählen. Es ginge darum, eine Art künstliche Intelligenz zu schaffen, die mitlernt und selbstständig Schlüsse ziehen kann.

    "Die Herausforderung dabei ist, dass dieser Lernprozess schneller ablaufen muss, als die Veränderung passiert."

    Problembewusstsein ist beim Leiter des österreichischen Forscherteams,  selbst nach Einsatz modernster Technologien nur in Spuren nachzuweisen:

    "Es ist ja nicht so, dass wir für die Mafia arbeiten.”

    Natürlich würden die strengen Vorgaben der europäischen Datenschutzgesetze penibel eingehalten. Gesichtserkennung bliebe bei seinem Projekt beispielsweise völlig außen vor. Spätestens hier zeigen sich die zweifelhaften Vorzüge des Meta-Systems. Das Institut, das im Rahmen von INDECT zur Weiterentwicklung der Gesichtserkennung zuständig ist, könnte lächelnd und mit verschränkten Armen fragen: “Was nützt die Gesichtserkennung, wenn man nicht analysieren kann, was die erkannte Person tut?”

    Die Zeit malt sich ein durchaus realistisches Anwendungszenario aus:

    “Wer beispielsweise bei YouTube ein Drohvideo gepostet hat, der soll mithilfe von Überwachungskameras gesucht, via Suchmaschine identifiziert und mittels tragbarer Geräte von Polizisten verfolgt werden können.”

    Die hierfür notwendigen Geräte werden im Rahmen des Forschungsprojektes freilich gleich mit entwickelt und werden sich auch dazu eignen, Freunde und Bekannte – sprich: Komplizen – parallel zur Verdachtsperson zu verfolgen. Denn Informatiker der Universität im englischen York entwickeln auf der Basis von Computerlinguistik Techniken zur Erkennung des Sinnes von Worten, zur Analyse von sozialen Netzen und von Gefühlen sowie zur Auswertung von Beziehungen. Aufgrund der Informationen im Netz soll so rekonstruiert werden, wer wen kennt und auch wie gut. Dieses automatische Scannen der gesamten Bevölkerung sei notwendig geworden, weil die Kriminalität immer mobiler und schneller, ihre Täter unauffälliger und ihre Konsequenzen verheerender geworden sei. INDECT erhöhe die Lebenssicherheit in Europa.

    Kritikern hält man entgegen, der europäische Ethikrat überwache das Vorgehen streng und stelle sicher, dass alle Grundrechte gewahrt blieben. Betrachtet man die Informationsdichte hierzu im Netz, gewinnt man allerdings eher den Eindruck, der gesamte Ethikrat würde parallel zum INDECT-Projekt an einer Arzneimittelstudie für ein überaus vielversprechendes Narkotikum teilnehmen. Im Artikel 12 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte – Gelten die eigentlich in der EU? – heißt es beispielsweise relativ unmissverständlich:

    “Niemand darf willkürlichen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, seine Wohnung und seinen Schriftverkehr oder Beeinträchtigungen seiner Ehre und seines Rufes ausgesetzt werden. Jeder hat Anspruch auf rechtlichen Schutz gegen solche Eingriffe oder Beeinträchtigungen.”

    Mir ist schleierhaft wie diese Worte jemals mit INDECT vereinbar sein sollen. Gleiches gilt für die unserem Rechtssystem zugrunde liegende Unschuldsvermutung. Vielmehr scheint sich hier ein weiterer Beweis für die These zu finden, die  seit der Erfindung, spätestens aber seit dem Einsatz der Atombombe unumkehrbar in der Welt ist: Alles was technisch umsetzbar ist wird früher oder später auch umgesetzt.

    Sicher: der Druck dazu wird von den Feinden der Demokratie und des Gesetzes erzeugt. Wenn diese ihre Aktivitäten, zumindest aber deren Organisation immer weiter ins Netz verlagern, muss der Rechtsstaat nachziehen, sofern er handlungsfähig bleiben will.

    In der Natur der Sache liegt aber auch, dass der Ede dem Schutzmann immer einen Schritt voraus sein wird. Und solange die vollautomatische Gesichtserkennung angeklebte Rauschebärte und künstliche Bobs nicht von echten unterscheiden kann, wird sich daran rein gar nichts ändern. Was sich allerdings erheblich ändert ist der Umfang der Privatsphäre desjenigen unbescholtenen Bürgers, der diesen Überwachungsalbtraum mit seinen Steuergeldern finanziert. Kennen Sie jemanden, der sich in seiner Lebenssicherheit gefährdet fühlt? Fällt Ihnen jemand ein der künftig tagelang verfolgt werden möchte, nachdem er sich – sagen wir mal, wegen einer dringenden Durchfallerkrankung – in der Öffentlichkeit auffällig verhielt? Und können Sie sich einen Verbrecher vorstellen, der bescheuert genug ist auch nur einen Ansatz von auffälligem Verhalten zu zeigen, wenn er wirklich etwas Böses im Schilde führt?

    Falls nicht, sind wir schon zwei. Vielleicht sind zwei schon genug um laut zu fragen, was genau uns da seitens der EU als Demokratie getarnt untergejubelt wird. Und ob innere Sicherheit nicht auch nach Lissabon weiterhin Angelegenheit der einzelnen Mitgliedsstaaten ist. Und wer eigentlich der Staat ist. Und was eigentlich Sicherheit.