Warum die Entscheidung für einen Organspende-Ausweis immer religiös ist

Letzten Freitag – vor mir kniete ein kräftiger Mann auf dem Boden und versuchte mit klappernden Stößen eine Puppe wieder zu beleben, neben mir bettelte ein Kollege um meine Unterstützung bei einem Handy-Quizduell – tätigte ich schwungvoll eine Unterschrift, vor der ich mich jahrelang gedrückt hatte. Die unter meinem Organspende-Ausweis.

Ich bin erleichtert, dass das zermürbende Hin & Her in mir ein Ende hat.

Das Hin: Ich bin Radfahrer in einer Großstadt. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich in einen schweren Verkehrsunfall verwickelt werde, ist überdurchschnittlich hoch. Ich bin gesund, jung und sportlich. Meine Organe könnten Leben retten, wenn mein Gehirn tot ist. Warum sollte ich sie nicht lassen?

Wenn ich mir vorstelle, an jedem zweiten Tag zur Blutwäsche zu müssen, weil meine Nieren geschädigt sind oder jegliche Anstrengung meiden zu müssen, weil mein Herz krank ist, hätte ich wenig Verständnis, für den toten Radfahrer, der seinen Körper lieber einäschern lässt, als damit mein Leben zu retten.

Das Her: Einen Organspende-Ausweis zu unterschreiben bedeutet, schwarz auf weiß anzuerkennen, dass der eigene Tod eine Option ist. Jederzeit. In echt. Für immer. Dieser Fakt passt leicht in einen Satz, ist aber nur schwer in einen Kopf zu kriegen. Die Auseinandersetzung damit zu vermeiden ist nicht rational, wohl aber menschlich. Leider muss ich eingestehen, dass das für alle meine Her-Argumente gilt.

  1. Die Angst für tot erklärt zu werden, obwohl ich es noch nicht bin.

Der Gedanke, dass nicht alles getan wird, um mich zurück ins Leben zu bringen, weil die Verwendung meiner Organe attraktiver ist, als der Erhalt meines Lebens: Horror. Der Hirntod aber ist eine sehr konkrete Sache. Man kann ihn nicht vortäuschen, aber unzweifelhaft und endgültig feststellen. Niemand hat jemals wieder die Augen aufgeschlagen, nachdem er hirntot war. Dass die Organe des Patienten noch arbeiten ist einzig und allein der Herz-Lungen-Maschine zu verdanken. Das hat mehr mit Frischhalten als mit Leben zu tun. Es gibt hier nichts zu versuchen. Oder zu hoffen. Hier gibt es lediglich etwas zu entscheiden.

  1. Die Angst, dass meine Organe nicht verteilt sondern verkauft werden.

Dass Organe von korrupten Ärzten für Koffer voller Geld verschachert werden, bevor der Patient kalt ist: ebenfalls Horror. Allerdings solcher, der wie kürzlich aufgedeckte Skandale zeigen, tatsächlich passiert. In Einzelfällen. Oder häufiger. Die Vergabeverfahren wurden verschärft; durch das Vier-Augen-Prinzip ist Missbrauch deutlich schwieriger geworden. Aber selbst illegal verschobene Organe werden schließlich Patienten eingesetzt, die sie dringend brauchen. Die Entscheidung gegen die Spende von Organen mit der Angst vor möglicher Korruption zu begründen und die Verfügbarkeit von Spenderorganen so noch weiter zu verknappen, kommt mir wie eine willkommene Ausrede vor. Nicht rational, aber menschlich.

  1. Gespendete Organe werden vom Körper des Empfängers abgestoßen.

Vielleicht aber auch nicht. Die Medikamente, die die Akzeptanz erhöhen sind besser geworden, und selbst wenn der Patienten mit dem Spenderorgan nur sechs Monate gewinnen, ist das immer hin ein halbes Jahr. Ein weiterer Sommer. Ein Weihnachten mehr.

Das eigentliche, schwerwiegendste Argument aber, dass mich bisher davon abgehalten hat, einen Organspende-Ausweis zu unterschreiben ist so irrational, dass es sich vehement sträubt, schwarz auf weiß formuliert zu werden:

  1. Ich bin so geboren, also will ich auch so sterben.

Mit der Entscheidung, Organspender zu werden entscheide ich mich dafür, meine körperliche Integrität nach meinem Tod durch Fremde verletzbar zu machen. Ich erlaube es Ärzten, mich mit dem Ausbleiben meiner Hirnfunktion als Ersatzteillager zu betrachten. Ich erlaube – man kann das einschränken, aber ich persönlich erlaube es – dass man mir meine Netzhäute entfernt, meine Lungen, mein Herz, meine Nieren, meine Leber und was sonst noch von Nutzen sein kann. Dann näht man mich wieder zu und gibt mich zur Bestattung frei. Klingt auch wie Horror. Bis ich begreife, dass ich dann ja nicht mehr ich bin. Mir wird das nicht weh tun, mich wird das nicht kränken und auch nicht entwürdigen. Ich werde tot sein.

Ich habe die Herrndorf-Tagebücher gelesen vor einigen Wochen und obwohl er zur Organspende nur drei Sätze schreibt, ist mir durch Herrndorfs Blick auf Körper und Sterben eines klar geworden: Die Entscheidung für oder gegen Organspende ist immer eine religiöse. Und sie ist eine der wenigen Momente im Leben, in denen auch Agnostiker und Atheisten darauf geprüft werden, wie sicher sie sich ihres Weltbilds sind. Im Leben mag man gut ohne Gott zurecht kommen, aber im Sterben? Gibt es eine Seele? Ist die an meinen Körper gebunden? Stirbt mein Ich mit meinen Organen? Ist mein Ich wirklich nicht mehr als ein kleines Areal in meinem Kopf? Sicher? Ganz sicher? Selbst, wenn der aufgeklärte Geist hier müde lächelt und „Hirn tot, alles tot“ brabbelt, gibt es diesen Anteil in mir, der das Gegenteil hofft, wenn auch heimlich.

Und wenn der aufgeklärte Geist sein bräsiges Grinsen mal unterließe, würde sich diese Heimlichkeit vielleicht ins Licht wagen, damit man sie anschauen kann. Sie ist Hoffnung, glaube ich, und Trost. Sie ist ein gnädiger Schleier unter dem alles – und das ist nicht unpräzise formuliert, ich meine hier tatsächlich: Alles – nicht gar so kalt und sinnlos aussieht. Sie ist ein bisschen kindlich und ein bisschen mütterlich. Sie wärmt und sie streichelt. Eines ist sie jedoch in keinem Fall: Zu belächeln.

Deswegen bin ich gegen eine Regelung, die jeden zum Organspender macht, nur den nicht, der ihr ausdrücklich widerspricht. Die Konsequenz davon, dass sich zu wenige Menschen mit diesem Thema auseinandersetzen, darf nicht sein, dass die Gesellschaft dem Einzelnen diese Entscheidung abnimmt. Es ist eine sehr persönliche Entscheidung, die zumindest in meinem Fall einer Auseinandersetzung bedurfte, die weit über meinen Körper hinausging und meine Religion berührte.

Wie wenige konkrete Dinge in meinem Leben bisher, hat mir das Nachdenken über Organspende klar gemacht, dass ich so etwas habe: eine Religion. Ich glaube inzwischen sogar, jeder hat eine. Jeder braucht eine. Einen Plan, von dem er glaubt, dass er abbildet, wie das Leben funktioniert. Und wie das danach.

C., mit der ich neulich über dieses Thema sprach, sagte mir, dass sie seit Jahren einen Organspende-Ausweis in ihrem Portmonee trage. Darauf sei angekreuzt, dass sie der Verwendung ihrer Organe nach ihrem Tod ausdrücklich nicht zustimmt. Mich hat das sehr beeindruckt, aber ich wusste nicht sofort, warum.

Erst als ich letzten Freitag diesen Ersthelfer-Lehrgang besuchte und einmal mehr vor Augen geführt bekam, wie schnell das, was in un(be)greifbarer Ferne zu liegen scheint, Wirklichkeit werden kann, habe ich es verstanden. Eine Entscheidung für oder gegen Organspende muss für jeden Menschen getroffen werden. Wenn C. diese Entscheidung nicht zu ihren Lebzeiten trifft, muss ich es vielleicht nach ihrem Tod tun, als ihr Angehöriger, als jemand, der sie liebt, verliert und vermisst. Wie aber könnte ich?

3 Gedanken zu „Warum die Entscheidung für einen Organspende-Ausweis immer religiös ist“

  1. Lieber Ron, wie so oft ein bemerkenswerter Blog.

    Schon alleine, weil Du mich dazu gebracht hast, meine Entscheidung nochmal zu hinterfragen. Und – ähnlich der Patientenverfügung – sollte man solche Entscheidungen regelmäßig auf den Prüfstand stellen. Bewusst und ausgiebig.
    Danke, dass Du mich daran erinnert hast!

  2. ich sage vorher, dass vor ende des jahrhunderts eine optionspflicht gesetzlich eingeführt sein wird, in der sich die menschen entscheiden müssen, ob sie oganspender sein wollen oder nicht. die frage wird jedoch an die bedingung geknüpft sein, dass, wer sich dagegen entscheidet, auch kein organ bekommt. definitiv entscheidungsoption. und ich vermute(zumindest machts nur dann einen sinn)dass die entscheidung mit der volljährigkeit(ähnlich dem strafrecht)verknüft wird. denn nur in jungen jahren lohnt sich die entscheidung. im alter sind die meisten dafür, sind sie doch eher (organ)nehmer als (organ)geber. die rechnung ist somit für den nehmer lohnend.
    und ich weiß nicht, ob mir der/mein gedanke logisch und durchaus gerecht erscheinen soll(denn die jüngeren werden ja auch kostendfrei medizinisch versorgt), oder ob mir meine vorhersage nicht eher den schweiß auf die stirn bringen sollte.
    dein beitrag hat mir sehr gut gefallen. er beleuchtet alle aspekte gut und unspekatakulär. und wirklich, die frage bringt, wie das sterben selbst, immer eine(pseudo)religiöse komponente ins spiel. ich finde das aber keinesfalls schlecht. wie man den umstand klärt, ist (eigentlich) egal: hauptsache man stellt sich der frage.
    leider habe ich da noch etwas vor mir.

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